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Fachbereich Informatik und Mathematik ISMI - Institut fu¨r Stochastik & Mathematische Informatik

Integrationstheorie WS 2012 H. Dinges

16. Juli 2012

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Zum Anliegen der Veranstaltung ‘Integrationstheorie’ Die moderne Integrationstheorie entwickelte sich zusammen mit der abstrakten Mengenlehre (nach G. Cantor, F. Hausdorff u. a.) zu Beginn des 20.ten Jahrhunderts. Ein Abriss dieser Entwicklung findet sich im Lehrbuch von M. Brokate und G. Kersting (Birkh¨auserVerlag 2011). Das Wichtigste der Maß-und Integrationstheorie des 20. Jahrhunderts ist der Gegenstand dieses sch¨onen B¨ uchleins. Das Interesse der Mathematiker an Fl¨achen- und Volumeninhalten ist nat¨ urlich viel uhmt ist beispielsweise die Art und Weise, wie Archimedes das Volumen und ¨alter; ber¨ die Oberfl¨ache der Kugel bestimmt hat. Wir wollen in unserer Veranstaltung f¨ ur Studierende im 2. Studienjahr nicht alle Fragen zur Integration ausklammern, u ¨ber welche die Mathematiker nachgedacht haben, bevor (durch die Konstruktionen von H. Lebesgue, C. Carath´eodory u. a.) die Begriffe Messbarkeit und σ-Additivit¨at die allesbeherrschenden Themen der Maß-und Integrationstheorie wurden. Noch ein kleiner Unterschied zum didaktischen Ansatz von Brokate und Kersting: Bei unserer Herangehensweise bleiben wir zuerst einmal noch nahe an den unseren Anf¨angern vertrauten gleichm¨aßig stetigen Funktionen auf einem Intervall, bevor wir in die (von vielen als sehr abstrakt empfundene) Welt der messbaren R¨aume eintauchen. ¨ Vorgeschichte: Ubersetzungen der B¨ ucher von Heron (um 100) und Archimedes hatten im 15. Jahrhundert den Mathematikern die antiken Integrationsmethoden zug¨anglich gemacht und die Untersuchung von Kurven (z. B. die Bahnen von Projektilen) angeregt. Schwerpunktsberechnungen waren ein Lieblingsthema der Archimedes-Nachfolger. Dabei h¨aufte sich ein gewisses praktisches Wissen u undes dessen an, was wir ¨ber die Anfangsgr¨ heute Infinitesimalrechnung nennen. Unmittelbar nach den ersten Wegbereitern (unter welchen Simon Stevin und Paul Guldin hervorragen) entstanden die großen Arbeiten von J. Kepler(1571- 1630), B. Cavalieri (1598- 1647) und E. Torricelli (1608- 1647), in denen Methoden entwickelt wurden, die schliesslich zur Erfindung der Differential- und Integralrechnung f¨ uhrte. Typisch f¨ ur die Autoren dieser Zeit war, dass sie die ‘archimedische Strenge’ zur¨ uckstellten gegen¨ uber dem Wunsch schnell zu Ergebnissen zu kommen. F¨ ur Kepler beispielsweise war die Kugel aus unendlich vielen sptzen Pyramiden mit einer gemeinsamen Spitze im Mittelpunkt zusammengesetzt. Galilei entwickelte in seinen ‘Discorsi’ (1636) das mathematische Studium der Bewegung sowie die die Beziehung zwischen Weg, Geschwindigkeit und Beschleunigung. Da die die einzige bekannte Naturwissenschaft mit einem einigermaßen zusammenh¨angenden systematischen Aufbau die Mechanik war und die Mathematik den Schl¨ ussel zum Verst¨andnis der Mechanik bildete, wurde die Mathematik zum wichtigsten Hilfsmittel f¨ ur das Verst¨andnis des Universums. Das Erscheinen des Buches von Cavalieri regte zahlreiche Mathematiker in verschiedenen L¨andern zum Studium von Fragen an, die sich aus infinitesimalen Betrachtungen ergeben. Man begann, die Grundprobleme in mehr abstrakter Form anzugehen, und erzielte auf diese Weise einen Gewinn an Allgemeinheit. Das Tangentenproblem, das darin besteht, Methoden zur Bestimmung der Tangente an eine Kurve in einem gegebenen Punkt zu erforschen, spielte allm¨ahlich eine immer st¨arker hervortretende Rolle neben den @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

Integrationstheorie

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alten Problemen der Volumen- und Schwerpunktsbestimmungen. Bei diesen Forschungen zeichneten sich deutlich zwei Richtungen ab, eine geometrische und eine algebraische. Die Nachfolger von Cavalieri, besonders Torricelli und Isaac Barrow, der Lehrer von Newton, wendeten geometrische Schlussweisen an, ohne sich allzuviel um Strenge zu k¨ ummern. Andere aber, insbesondere Fermat (1601- 1665), Descartes (1596- 1650) und John Wallis(1616- 1703), vertraten die entgegengesetzte Richtung undwendeten die neue Algebra auf dieselben Fragestellungen an. Praktisch alle Autoren in dieser Zeit von 1630 bis 1660 beschr¨ankten sich auf die Fragen, die bei algebraischen Kurven auftreten, besonders solchen, die auf Potenzen (auch mit negativen und gebrochenen Exponenten) gegr¨ undet sind. Nur gelegentlich tauchte eine nichtalgebraische Kurve auf, wie etwa die von Descartes und Blaise Pascal untersuchte Zykloide. Pascals Artikel ‘Trait´e g´en´eral de la roulette’ (1658) u ¨ bte einen großen Einfluss auf den jungen Leibniz aus. In dieser Zeit begannen mehrere charakteristische Z¨ uge der Infinitesimalrechnung aufzutauchen, die dann bekanntlich bei Newton und Leibniz zu begeisternden Erfolgen gef¨ uhrt haben. Wir wollen unseren Abriss der Vorgeschichte der Integralrechnung hier nicht weiterf¨ uhren. Viele g¨angige Lehrb¨ uchern informieren u ¨ ber die Entwicklungen im 18. Jahrhundert und insbesondere die Hochsch¨atzung des sog. Hauptsatzes der Differential-und Integralrechnung (wo die Integration als die Umkehrung der Differentiation verstanden wird). Was wir hier u utzt sich (teilweise ¨ber die Zeit vor Leibniz und Newton gesagt haben, st¨ w¨ortlich) auf das ber¨ uhmte B¨ uchlein Dirk. J. Struik Abriss der Geschichte der Mathematik VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1963. Wir hoffen, dass unsere Verk¨ urzungen keine groben Fehler beinhalten und dass sie nicht zu ernsten Fehlvorstellungen f¨ uhren. Die ersten allgemeinen Integrationstheorien: Nachdem man sich bis ins 19. Jahrhundert hinein nur mit Integralen von solchen Funktionen besch¨aftigt hatte, die durch Formeln beschrieben werden, bem¨ uhte sich A. Cauchy als erster (um 1820) um eine allgemeine Theorie der Integration von beliebigen stetigen Funktionen auf einem endlichen Intervall. Die Bem¨ uhungen standen im Zusammenhang mit der Frage, wie man die intuitiven Vorstellungen von einer stetigen Funktion (auf einem Intervall) in eine mathematisch handbare Form bringen kann. Cauchy versuchte seine Theorie der Integration auf die Begriffsbestimmung zu gr¨ unden, die B. Bolzano im Jahr 1817 vorgeschlagen hatte: Nach einer richtigen Erkl¨arung n¨amlich versteht man unter der Redensart, daß eine Funktion f (x) f¨ur alle Werte von x, die inner- oder ausserhalb gewisser Grenzen liegen, nach dem Gesetze der Stetigkeit sich ¨andere, nur soviel, daß, wenn x irgend ein solcher Wert ist, der Unterschied f (x + ω) − f (x) kleiner als jede gegebene Gr¨oße gemacht werden k¨onne, wenn man ω so klein, als man nur will, annehmen kann. Cauchy ging (irrt¨ umlich) davon aus, dass man jede in diesem Sinne in jedem Punkt @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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stetige Funktion bis auf einen Fehler < ε durch eine elementare Treppenfunktion approximieren kann. Er u ¨bersah, dass man aus der Stetigkeit in jedem Punkt nur dann auf die gleichm¨aßige Stetigkeit auf jedem endlichen Intervall schliessen kann, wenn man die lokale Kompaktheit ins Spiel bringt. Cauchy’s Integrationstheorie musste mathematisch wackelig bleiben, weil Begriffe wie Vollst¨andigkeit und lokale Kompaktheit noch nicht zur Verf¨ ugung standen. Der Anlass f¨ ur die Integrationstheorie, die B. Riemann 1854 vorlegte, waren kontrovers diskutierte Fragen um die trigonometrische Reihen, mit welchen sich schon die großen Mathematiker des 18. Jahrhunderts ( insbesondere d’Alembert, Lagrange und D. Bernoulli) im Zusammenhang mit dem Problem der schwingenden Seite besch¨aftigt hatten. J. Fourier hatte in seiner in seiner ‘Th´eorie analytique de chaleur’ (1822) die Tatsache klargestellt, dass eine 2π-periodische Funktion f (t), die sich durch ein Aneinanderf¨ ugen von stetigen Kurvenst¨ ucken darstellen l¨asst, durch eine trigonometrische Reihe dargestellt werden kann f (t) = 12 a0 +

∞ X 1

 ak · cos kt + bk · sin kt

oder f (t) =

∞ X −∞

cn · eint

Die trigonometrischen Reihen fanden auch jenseits der Theorie der Schwingungen selbst¨andiges Interesse. Ihre Handhabung bei Fourier dr¨angte die Frage auf, was allgemein unter einer Funktion zu verstehen ist. Im Anschluss an Arbeiten von P.J. Dirichlet, dem Nachfolger von Gauss auf dem G¨ottinger Lehrstuhl, zur Entwickelbarkeit einer 2π-periodischen Funktion in eine Fourier-Reihe pr¨agte und untersuchte Riemann den Begriff einer ‘integrablen’ Funktion. F¨ ur welche (auch unstetige) Funktionen f (t) kann man die ‘FourierKoeffizienten’ bilden Z 2π Z 2π Z 2π 1 1 1 ak = π cos kt f (t) dt, bk = π sin kt f (t) dt., bzw. cn = 2π e−int f (t) dt? 0

0

0

P∞

Und was kann man u ¨ ber die ‘formale’ Reihe −∞ cn · eint sagen? Mit diesen Fragen l¨oste sich der Begriff der ‘integrablen’ Funktion vom Begriff der ‘st¨ uckweise stetigen’ Funktion. Es war jetzt eine Theorie der zu den Fourier-Reihen passenden Funktionen gefordert. Riemann hat das Problem nicht zufriedenstellend gel¨ost; die endg¨ ultige L¨osung brachte erst 1906 die Theorie der L2 -R¨aume von F. Riesz und E. Fischer auf der Grundlage der Integrationstheorie von H. Lebesgue von 1902. Das naheliegende und mathematisch korrekte Vorgehen von Riemann wird manchmal in den Anf¨angervorlesungen vorgef¨ uhrt: seine Schw¨achen und die Behebung dieser Schw¨achen werden wir sp¨ater verstehen lernen. Eine Absage: Die Modulbeschreibung zur neueingef¨ uhrten zweist¨ undigen Vorlesung ‘Integrationstheorie’ f¨ ur Studierende im dritten Semester nennt auch das Thema ‘Intergration auf Mannigfaltigkeiten’. Diesem Anspruch werden wir nicht gerecht werden k¨onnen. Wir werden nur Vorstufen zu dieser Thematik skizzieren, in dem wir uns auch mit sog. Kurvenintegralen befassen. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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INHALTSVERZEICHNIS

Integrationstheorie

Inhaltsverzeichnis 1 Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals

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2 Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale 7 2.1 Funktionen beschr¨ankter Schwankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2 Rektifizierbare Kurven in einem metrischen Raum . . . . . . . . . . . . . . 9 2.3 Kurvenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3 Mengenalgebren, Maße und Integration 3.1 Erzeugte σ-Algebren . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Eindeutigkeitssatz f¨ ur σ-endliche Maße. 3.3 Das Integral zu einem Maß . . . . . . . . . . 3.4 Der Satz von Fubini . . . . . . . . . . . . . 3.5 Gleichheit µ-fast¨ uberall . . . . . . . . . . . . 4 Die 4.1 4.2 4.3 4.4

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R¨ aume Lp (Ω, A, µ), Fourier-Integrale H¨olders Ungleichung und die p-Normen . . . . . . Vollst¨andigkeit, Konvergenzs¨atze . . . . . . . . . Diverse Funktionenr¨aume u ¨ ber der Gruppe R/2π. Fourier-Integrale und Fourier-Transformation . . .

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14 14 17 19 23 27

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29 30 32 38 42

5 Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale 46  5.1 Die Ladungsverteilungen auf einem Mengenring Ω, R . . . . . . . . . . . 46 5.2 Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym . . . . . . . . . . . . . . . . 50 5.3 Genaueres u ¨ber Totalstetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 6 Messbarkeit 62 6.1 Messbare Abbildungen und Nullmengenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . 62 6.2 Messbarkeit im Sinne von Carath´eodory . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 7 Diverse Konstruktionen von Pr¨ amaßen 74 ¨ 7.1 Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea . . . . . . . . . . . . . . 74 7.2 Regul¨are Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 7.3 Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen R¨aumen . . . . . . . . . . . . . . 85 8 Die 8.1 8.2 8.3 8.4

Integration von Differentialformen Orientierte affine R¨aume . . . . . . . . . . . . . . Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel Die Integration von k-Formen u ¨ber glatte Zellen . Der Randoperator . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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90 90 97 103 110

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Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals

Eine stetige Funktion auf dem abgeschlossenen Einheitsintervall [0, 1] ist gleichm¨aßig stetig und beschr¨ankt. Jeder solchen Funktion f ordnet man (seit Cauchy) ihr (‘bestimmtes’) Integral zu: Z Z 1

˜ )= I(f

f (x) dx =

f (x) dx.

0

Wir wollen an dieser Stelle nicht u reden. Das wohl¨ber Untersummen und Obersummen  ˜ ˜ definierte Funktional I(·) auf dem Vektorverband E = C [0, 1] ist unser Ausgangspunkt. ˜ das Cauchy-Integral. – Das klassische Lebesgue-Integral Wir nennen dieses Funktional I(·) u ¨ber dem Einheitsintervall wird sich durch eine Fortsetzung ergeben; auf eine andere beliebte Fortsetzung, das sog. Riemann-Integral werden wir nicht speziell eingehen. Diese und andere Fortsetzungen des Cauchy-Integrals unterscheiden sich nur durch ihren Definitionsbereich; wenn eine Funktion im Durchschnitt der Definitionsbereiche liegt, dann stimmen die Integralwerte f¨ ur alle die gebr¨auchlichen Fortsetzungen u ¨berein. ˜ (auf irgendeiner GrundDefinition 1.1. Ein Vektorverband reellwertiger Funktionen E ˜ geh¨ort. menge Ω) wird ein Stone’scher Verband genannt, wenn mit f auch f ∧ 1 zu E Ein Beispiel ist die Menge der stetigen Funktionen auf dem Rd , die einen beschr¨ankten Tr¨ager besitzen, die also ausserhalb einer gen¨ ugend großen Kugel identisch verschwinden. Ein weiteres Beispiel liefern die linksstetigen elementaren Treppenfunktopnen u ¨ber R. Dies sind die Linearkombinationen von Indikatorfunktionen endlicher halboffener InterP ˜ valle f(·) = j cj · 1(aj ,bj ] (·). Definition 1.2 (Elementar-Integral). ˜ heisst ein Elementa˜ auf einem Stone’schen Verband E Ein reellwertiges Funktional I(·) ˜ wenn gilt rintegral auf E, 1. f ≤ g



˜ ) ≤ I(g); ˜ I(f

˜ + g) = I(f ˜ ) + I(g), ˜ 2. I(f 3. fn ց 0



˜ n ) ց 0. I(f

(Monotonie) ˜ · f ) = α · I(f ˜ ) f¨ I(α ur alle α ∈ R;

(Linearit¨at)

(Monotone Stetigkeit)

(Der Pfeil ց bedeutet die punktweise absteigende Konvergenz. Wir notieren manchmal auch ↓. Entsprechend sind die Symbole ր und ↑ zu verstehen.) Die fundamentale Bedeutung der dritten Eigenschaft, der monotonen Stetigkeit, war Cauchy nicht bewusst; sie erwies sich erst in der Integrationstheorie nach Lebesgue (1902). F¨ ur das Cauchy-Integrale ergibt sie sich aus dem Satz von Dini. Nach diesem Satz impliziert n¨amlich die monotone Konvergenz stetiger Funktionen gegen die Nullfunktion auf einem kompakten Grundraum die gleichm¨aßige Konvergenz; und die Stetigkeit bei gleichm¨aßiger Konvergenz liegt auf der Hand.

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Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals

Integrationstheorie

Die monotone Stetigkeit liefert die Grundlage f¨ ur die Fortsetzung des Elementarintegrals auf gr¨oßere Funktionenklassen. Entscheidend ist der ˜ ein Elementarintegral auf E. ˜ Es gilt dann Satz 1.0.1. Sei I(·) fn ↑ f ′ ,

fn ↑ f ′ ,

gn ↑ g ′ ,

gn ↓ g ′′,

f ′ ≥ g′

f ′ ≥ g ′′

=⇒ =⇒

˜ n ) ≥ lim ↑ I(g ˜ n ); lim ↑ I(f ˜ n ) ≥ lim ↓ I(g ˜ n ). lim ↑ I(f

˜ Man beachte, dass die punktweisen Limiten f ′ , g ′ und g ′′ im Allgemeinen nicht zu E geh¨oren. Im Falle des Cauchy-Integrals handelt es sich um unterhalbstetige bzw. oberhalbstetige Funktionen. Beweis Wir ben¨utzen wie ¨ublich die Bezeichnung h\k = (h − k)+ = h − h ∧ k. In der ersten Situation steigt die Folge (fn )n u ¨ber jedes gk . Die Folge (gk \fn )n steigt ab ˜ nach 0. Also gilt I(gk \fn ) < ε f¨ur gen¨ugend großes n. ˜ n ) − I(g ˜ k ) = I(f ˜ n \gk ) − I(g ˜ k \fn ) > 0 − ε; I(f ˜ n ) > I(g ˜ k ) − ε f¨ur alle ε > 0; lim ↑ I(f ˜ n ) ≥ I(g ˜ k ) f¨ur alle k. lim ↑ I(f

In der zweiten Situation ist die Funktionenfolge gn \fn absteigend gegen die Nullfunktion. ˜ n \fn ) < ε und F¨ur große n gilt also I(g ˜ n ) − I(f ˜ n ) = I(g ˜ n \fn ) − I(f ˜ n \gn ) < ε; I(g ˜ n ) − lim ↑ I(f ˜ n ) < ε f¨ur alle ε > 0. lim ↓ I(g

Satz 1.0.2 (Konstruktion des Verbandskegels E↑ ). ˜ ein Stone’scher Vektorverband (¨uber irgendeiner Grundmenge Ω); (Die Elemente Es sei E ˜ nennen wir die elementaren Funktionen.) f ∈E Und es sei E↑ die Menge derjenigen Funktionen, die man als Limes einer aufsteigenden Folge elementarer Funktionen gewinnen kann. Es gilt dann 1. f, g ∈ E↑

=⇒

2. f ∈ E↑ , α ∈ R+ 3. f1 ≤ f2 ≤ · · ·

f + g, =⇒

f ∧ g,

f ∨g

∈ E↑ ,

α · f ∈ E↑

mit fn ∈ E↑

=⇒

f = lim ↑ fn ∈ E↑

Man sagt: E↑ ist ein Verbandskegel, der aufsteigend-σ-vollst¨andig ist. Man beachte, dass die Funktionen in E↑ den Wert +∞ aber nicht den Wert −∞ annehmen k¨onnen. Beispiel. Die elementaren Funktionen seien die stetigen Funktionen auf einem metrisierbaren Raum. Die Funktionen f in E↑ sind dann die unterhalbstetigen Funktionen, die eine stetige Minorante besitzen. Die punktweisen Suprema stetiger Funktionen sind n¨amlich unterhalbstetig; und in einem metrisierbaren Raum kann man jede unterhalbstetige Funktion, die eine stetige Minorante besitzt, als aufsteigenden Limes einer Folge stetiger Funktionen darstellen. Das sieht man folgendermaßen: @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

INHALTSVERZEICHNIS

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1. Die Indikatorfunktion einer offenen Menge U kann man als aufsteigenden Limes stetiger Funktionen darstellen. Oder, ¨aquivalent dazu: die Indikatorfunktion einer abgeschlossenen Menge F kann als absteigender Limes stetiger Funktionen gewonnen werden: + 1F (·) = lim ↓ 1 − n · d(·, F ) , wo d(·, F ) den Abstand von der Menge F bezeichnet.

2. Wenn g1 , g2 , . . . nichtnegative Funktionen sind, die als aufsteigender Limes nichtneP gativer stetiger Funktionen dargestellt sind, dann kann man auch die Summe ∞ 1 gk W∞ (n) und das Supremum 1 gk so darstellen. Zu gk = limn ↑ fk betrachte n¨amlich (n)

h(n) = f0

(n−1)

+ f1

+ · · · + fn(0) ,

bzw.

(n)

k (n) = f0

(n−1)

∨ f1

∨ · · · ∨ fn(0) .

Die h(n) streben aufsteigend gegen die Summe, die k (n) gegen das Supremum. 3. Wir wollen hier zun¨achst einmal nur die nichtnegativen unterhalbstetigen f aufstei(n) gend approximieren. F¨ ur n = 1, 2, . . . und k = 0, 1, 2, . . . sei fk die IndikatorP (n) k 1 (n) funktion der offenen Menge {f > 2n }, und g = 2n k fk . Offenbar ergibt sich g (n) (ω) aus f (ω) durch Abrunden auf das n¨achste ganzzahlige Vielfache von 21n . Die g (n) liefern eine aufsteigende Approximation von f . ˜ dann approximieren wir 4. Wenn h unterhalbstetig ist mit der stetigen Minorante h, ˜ und addieren zu den approximierenden Funktionen die stetige Funktion h. ˜ h−h Satz 1.0.3 (Aufsteigende Fortsetzung). ˜ besitzt genau eine aufsteigend-σ-stetige Fortsetzung. ˜ auf E Jedes Elementarintegral I(·) Diese Fortsetzung I ↑ (·) ist ausserdem isoton, additiv und positivhomogen, d. h. 1. f ≤ g



I ↑ (f ) ≤ I ↑ (g);

2. I ↑ (f + g) = I ↑ (f ) + I ↑ (g), 3. f1 ≤ f2 ≤ · · ·

mit fn ∈ E↑

I ↑ (α · f ) = α · I ↑ (f ) f¨ur alle α ∈ R+ ; =⇒

I ↑ (lim ↑ fn ) = lim ↑ I ↑ (fn )

Beweis Wir haben bereits gesehen, dass f¨ ur zwei aufsteigende Folgen elementarer Funktionen die Integralwerte gegen denselben Grenzwert streben, und dass das so gewonnene Funktional I ↑ (·) isoton ist. Man beachte, dass es auch den Wert +∞ annehmen kann. Die Additivit¨at und die positive Homogenit¨at liegen auf der Hand. Sei (fn ) eine aufsteigende Folge mit lim ↑ fn = f . Die fn ∈ E↑ seien als aufsteigende Limiten gegeben: fn = limm ↑ f˜nm . Die Folge der elementaren Funktionen k˜n = f˜1n ∨· · ·∨ f˜nn ist aufsteigend ˜ k˜n ) = lim ↑ I ↑ (fn ). mit k˜n ≤ fn und lim ↑ k˜n = f . Wir haben also f ∈ E↑ , I ↑ (f ) = lim ↑ I(  Wir betrachten jetzt auch den zu E↑ diametralen Kegel E↓ = −E↑ = g = −f : f ∈ E↑ . Es handelt sich um einen Verbandskegel, der gegen¨ uber absteigenden Limiten abgeschlossen ist. Interessant sind nun diejenigen Funktionen, die sich ‘knapp’ einschliessen lassen zwischen eine Majorante aus E↑ und eine Minorante aus E↓ . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals

Integrationstheorie

Definition 1.3 (Daniell-Integrabilit¨at). ˜ ein Elementarintegral. Eine Funktion h heisst Daniell-integrabel, wenn gilt Es sei I(·)   ∀ε < 0 ∃ f ∈ E↑ , g ∈ E↓ : g ≤ h ≤ f ∧ I ↑ (f ) − I ↓ (g) < ε .

Die Menge aller Daniell-Integrablen Funktionen bezeichnen wir mit E∗ ; und f¨ ur h ∈ E∗ setzen wir I ∗ (h) = inf{I ↑ (f ) : f ≥ h} = sup{I ↓ (g) : g ≤ h}. Satz 1.0.4. Die Daniell-Fortsetzung ¨ubernimmt Eigenschaften des Elementarintegrals. Es gilt ˜ f˜). 1. F¨ur jede elementare Funktion f˜ gilt I ∗ (f˜) = I( 2. h ∈ E∗ , α ∈ R =⇒ αh ∈ E∗ , I ∗ (αh) = αI ∗ (h) 3. h(1) , h(2) ∈ E∗ =⇒ h(1) ∨ h(2) , h(1) ∧ h(2) ∈ E∗ ; 4. h = h(1) + h(2) mit h(1) , h(2) ∈ E∗ =⇒ h ∈ E∗ , I ∗ (h) = I ∗ (h(1) + h(2) ). 5. h(1) ≤ h(2) ≤ · · · mit h(n) ∈ E∗ , lim ↑ I ∗ (h(n) ) < ∞ ∗ (n) =⇒ h = lim ↑ h(n) ∈ E∗ , und I ∗ (h)  = lim ↑ I (h ). Satz von der monotonen Konvergenz f¨ur das Daniell-Integral

Beweis. Die beiden ersten Aussagen des Satzes sind offensichtlich. Wir bemerken: Die Integrabilit¨atsbedingung kann man auch formulieren, ohne von den Konstrukten I ↑ (·), I ↓ (·) expliziten Gebrauch zu machen: h ∈ E∗ ⇐⇒ ∀ε < 0 ∃(f˜n ), (˜ gn ) : lim ↑ f˜n ≥ h ≥ lim ↓ g˜n ,

˜ f˜n \˜ lim ↑ I( gn ) < ε.

Wir beweisen die Aussagen 3) und 4): Zu h(1) , h(2) ∈ E∗ und ε < 0 w¨ahlen wir monotone Folgen elementarer Funktionen mit lim ↑ f˜n(i) ≥ h(i) ≥ lim ↓ g˜n(i) ,

˜ f˜(i) \˜ lim ↑ I( gn(i) ) < ε/2. n

Eine Einschließung bis auf 2ε f¨ur h(1) ∨ h(2) wird geleistet von den monotonen Folgen (1) (2) (1) (2) f˜n = f˜n ∨ f˜n , g˜n = g˜n ∨ g˜n . Analog verfahren wir f¨ur die Summe. Das Minimum erledigt sich wie das Maximum, wenn wir am Nullpunkt spiegeln. F¨ur den Beweis der f¨unften Aussage, dem sog. Satz von der monotonen Konvergenz, w¨ahlen wir zu jedem h(n) Funktionen f (n) ∈ E↑ und g (n) ∈ E↓ mit f (n) ≥ h(n) ≥ g (n) ,

I ↑ (f (n) ) − I ↓ (g (n) ) <

1 2n

· ε.

Die Funktion f ′ = lim ↑ (f (1) ∨ · · · ∨ f (n) ) dominiert den aufsteigenden Limes lim ↑ h(n) . Andererseits: F¨ur gen¨ugend großes N erf¨ullt g ′′ = g (1) ∨ · · · ∨ g (N ) ∈ E↓ die Bedingungen f ′ ≥ h ≥ g ′′ ,

I ↑ (f ′ ) − I ↓ (g ′′ ) < 2ε.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Anmerkungen: Die Daniell-Fortsetzung erinnert an die Konstruktion von Riemann, wenn man beim ˜ an die Menge der elementaren Treppenfunktionen denkt. Bei Daniell Vektorverband E ˜ sondern stammen allerdings die Ober- und Unterfunktionen nicht dem Vektorverband E, vielmehr aus den Funktionenkegeln E↑ bzw. E↓ . Die Daniell-integrierbaren Funktionen sind numerische Funktionen in dem Sinne, dass sie auch die Werte ±∞ annehmen k¨onnen. Funktionen dieser Art k¨onnen nicht punktweise addiert werten. Im Unterschied zur Menge der Riemann-integrablen Funktionen ist die Menge E∗ kein Vektorraum. Man gewinnt einen Vektorverband, wenn man (in vertr¨agli¨ ¨ cher Weise!) zu Aquivalenzklassen u Repr¨asentanten ¨bergeht, wo jede Aquivalenzklasse ¨ besitzt, die nur endliche Werte annehmen. Die zur Integrationstheorie passende Aquiva¨ lenzrelation ist die ‘Gleichheit fast-¨ uberall’. Mit solchen Aquivalenzrelationen werden wir uns ausf¨ uhrlich zu besch¨aftigen haben. F¨ ur die die aktuelle Situation k¨onnen wir aber schon einiges sagen: 1) Ein bemerkenswerter Typ von Daniell-integrablen Funktionen sind die Funktionen f mit I ∗ (|f |) = 0, die sog. Nullfunktionen. Wenn f eine Nullfunktion ist, dann ist jede Funktion g mit |g| ≤ |f | eine Nullfunktion. Jedes Vielfache einer Nullfunktion ist eine Nullfunktion; abz¨ahlbare Summen von nichtnegativen Nullfunktionen sind Nullfunktionen. Eine nichtnegative Funktion f ist genau dann eine Nullfunktion, wenn zu jedem ε > 0 eine aufsteigende Folge von Elementarfunktionen (f˜n )n existiert mit  lim ↑ f˜n ≥ f ; lim ↑ I˜ f˜n < ε. 2) Unter einer Nullmenge versteht man eine Menge, deren Indikatorfunktion eine Nullfunktion ist. Wir bemerken: Jede Teilmenge einer Nullmenge ist eine Nullmenge; abz¨ahlbare Vereinigungen von Nullmengen sind Nullmengen. Zwei Funktionen heissen fast¨ uberall gleich, wenn sie sich nur auf einer Nullmenge unterscheiden. 3) Zur Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals gewinnen wir eine Mengenfunktion µ(·), wenn wir definieren µ(B) = I ∗ (1B ) f¨ ur die Mengen B mit einer integrablen Indi˜ Ω ) = 1) ist diese katorfunktion. Im Falle eines normierten Elementarintegrals (d h. I(1 Mengenfunktion ein sog. Wahrscheinlichkeitsmaß. Mit solchen und etwas allgemeineren Mengenfunktionen, (die auch den Wert +∞ annehmen k¨onnen,) werden wir uns noch ausf¨ uhrlich befassen.

Sprechweise. Das Wort ‘Integral’ wird nicht einheitlich ben¨ utzt. Aus der Sicht der elementaren Funktionalanalysis, die wir in dieser Veranstaltung meistens einnehmen, kann man (cum grano salis) sagen. Ein Integral ist ein monotones lineares Funktional auf einem Vektorverband reellwertiger Funktionen, welches monoton stetig ist. (Monotone Stetigkeit bedeutet hier: F¨ ur jede punktweise monoton (aufsteigende oder absteigende) gegen ein Element des Definitionsbereichs konvergierende Folge konvergieren die Werte des Funktionals gegen den Wert des Funktionals in der Grenzfunktion. Es wird @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals

Integrationstheorie

nichts dar¨ uber gesagt, unter welchen Umst¨anden eine monoton konvergierende Folge gegen eine Funktion im Definitionsbereich des Funktionals konvergiert.) Die Integrationstheorie behandelt u. a. Fragen der Fortsetzbarkeit so, wie wir das eben bei der Daniell-Fortsetzung gesehen haben. Die saloppe Beschreibung passt auf das Cauchy-Integral. Der Definionsbereich ist hier der Vektorverband aller stetigen Funktionen mit beschr¨ankten Tr¨ager. Die Beschreibung passt nicht ganz auf die Daniell-Fortsetzung eines Elementarintegrals, weil man da den Definitionsbereich sinnvollerweise als einen Vektorverband von ¨ Aquivalenzklassen reellwertiger Funktionen verstehen muss. Die Beschreibung passt auf das klassische Riemann-Integral. Der Definitionsbereich ist schwerlich anders zu beschreiben als durch die bekannte Einschliessbarkeitsforderung. Dies gilt als eine der großen Schw¨achen des Riemann-Integrals. Wir werden sehen, dass das klassische Lebesgue-Integral diese Schw¨ache nicht hat. Die Elemente des Definitionsbereichs entsprechen hier genau den Elementen eines vervollst¨andigten metrischen Raums. Ein interessanter, leicht zu u ¨berblickender Anwendungsfall der Daniell- Fortsetzung ˜ der Stone-Verband aller ist der, wo der Grundraum Ω eine abz¨ahlbare Menge ist und E Funktionen mit endlichem Tr¨ager. Jedes Elementarintegral istP da durch eine nichtnegative ˜ Gewichtung der Punkte gegeben, p(ω) : ω ∈ Ω : I(f ) = Ω p(ω) · f (ω). Man kann leicht sehen, dass in diesem Falle die Daniell-integrablen Funktionen die bzgl. der gegebenen Gewichtung absolut summablen Funktionen sind. X p(ω) · |f (ω)| < ∞; I ∗ (f ) = I ∗ (f + ) − I ∗ (f − ). Ω

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2.1 : Funktionen beschr¨ankter Schwankung

2

7

Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale

In diesem zweiten einleitenden Kapitel skizzieren wir einige Ideen zum Integralbegriff, die fr¨ uher in der Analysis III Heimatrecht hatten, heute in den Veranstaltungen zu Maß und Integral aber meistens nur am Rande erw¨ahnt werden.

2.1

Funktionen beschr¨ ankter Schwankung

Konstruktion des Cauchy-Stieltjes-Integrals: Es sei F (·) eine monotone Funktion auf [0, 1] mit F (1) = 1, F (0) = 0 die rechtsseitig stetig ist. (In der Stochastik nennt man eine solche Funktion die Verteilungsfunktion eines Wahrscheinlichkeitsmaßes auf [0, 1]).  Es sei Z : 0 = t0 < t1 < · · · < tN = 1 eine Unterteilung des Einheitsintervalls und f (·) eine stetige Funktion. Wir definieren dann Z 1   X (n)   (n)  (n) f (tk−1 ) · F tk − F tk−1 , f dF = lim 0

n→∞

k

wo der Limes u ¨ber eine Folge von Unterteilungen, deren Feinheitsgrad nach 0 strebt, zu erstrecken ist. Der Limes heisst das Stieltjes-Integral der Funktion f bzgl. F . Das Funktional Z 1 ˜ ˜ ˜ I(·) : E ∋ f 7−→ I(f ) = f dF 0

heisst das Cauchy-Stieltjes-Integral bzgl. der Verteilungsfunktion F . Wenn man das Funktional (etwa nach dem Verfahren von Daniell) fortsetzt, dann nennt man das so gewonnene Funktional manchmal das Lebesgue-Stieltjes-Integral. Bemerke: Die Existenz des Limes ergibt sich aus der gleichm¨aßigen Stetigkeit von f . Zu jedem ε > 0 existiert PN ˜ein δ > 0, sodass gilt: Wenn die Zerlegung die Feinheit < δ hat, ur x ∈ (0, 1]. und dann gilt f (x) = 1 f(ti−1 ] (x) + Rε (x) mit |Rε (x)|
8

Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale

Integrationstheorie

Lemma. Eine (rechtsstetige) Funktion G(·) ist genau dann von beschr¨ankter Schwankung, wenn sie sich als Differenz zweier monotoner (rechtsstetiger) Funktionen darstellen l¨aßt. Beweis. Es sei (der Einfachheit halber) G(−∞) = 0. Eine sehr nat¨urliche Darstellung von G als Differenz ansteigender Funktionen ist G = G+ − G− mit − + X X G(tk ) − G(tk−1 , G(tk ) − G(tk−1 , G− (t) = sup G+ (t) = sup k

k

wobei die Suprema ¨uber alle gegen t aufsteigenden Folgen zu erstrecken sind: t0 < t1 < . . . < tN = t. Die Funktionen G+ , G− sind in der Tat rechtsstetig, wenn G rechtsstetig ist. Die spezielle Zerlegung G = G+ − G− ist dadurch ausgezeichnet, dass die Summe der Schwankungen von G+ und G− die Schwankung der Funktion G ist. Auch f¨ ur die R G mit beschr¨ankter Schwankung definiert man das Cauchy-StieltjesIntegral f 7→ f dG (auf dem Stone’schen Verband der stetigen Funktionen mit kompakten Tr¨ager). Man spricht in diesem Fall von einem Integral bez¨ uglich einer Ladungsverteilung. Allgemein sind Integrale bez¨ uglich einer Ladungsverteilung Differenzen von Integralen bez¨ uglich endlicher Maße. Spezialf¨ alle: Man sagt von einer ansteigenden stetigen Funktion G(·), sie sei absolutRb stetig, wenn eine Funktion p(·) existiert, sodass f¨ u r alle a ≤ b gilt G(a)−G(b) = p(t) dt. a R R In diesem Fall haben wir f dG = f (t) · p(t) dt. Eine ansteigende Funktion nennt man eine rechtsstetige Sprungfunktion, wenn eine abz¨ahlbare Familie von Paaren existiert, (xα , pα ) : α ∈ I mit xα ∈ R, pα > 0, sodass P f¨ ur alle a ≤ b gilt G(b) − G(a) = {α: a
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2.2 : Rektifizierbare Kurven in einem metrischen Raum

2.2

9

Rektifizierbare Kurven in einem metrischen Raum

¨ Sprechweise 2.2.1 (Aquivalente parametrisierte Kurven). Eine parametrisierte Kurve in der Menge S ist eine Abbildung γ(·) eines kompakten Intervalls [a, b] in S. γ(a) heisst der Startpunkt oder Ausgangspunkt oder Anfangspunkt der Kurve, γ(b) heisst der Endpunkt. Wir werden uns haupts¨achlich f¨ ur rektifizierbare Kurven in einem metrischen Raum  S, d(·, ·) interesssieren. Zun¨achst  befassen wir uns allgemeiner mit stetigen Kurven in einem topologischen Raum S, U . Zwei parametrisierte Kurven {γ ′ (t) : t ∈ [a′ , b′ ]} und {γ ′′ (s) : s ∈ [a′′ , b′′ ]} heissen ¨aquivalent, wenn es eine stetige, striktwachsende und surjektive Abbildung T (·) gibt, T :

[a′′ , b′′ ] −→ [a′ , b′ ]

sodass ∀ s ∈ [a′′ , b′′ ] :

γ ′′ (s) = γ ′ (T (s)).

¨ Wir haben es tats¨achlich mit einer Aquivalenzrelation zu tun. Die Umkehrabbildung zu T (·) ist eine stetige striktwachsende surjektive Abbildung S(·) mit γ ′ (t) = γ ′′ (S(t)) f¨ ur alle t. Wenn S(·) und T (·) stetig striktwachsend surjektiv sind mit passenden Definitionsbereichen S T [a′ , b′ ] − → [a′′ , b′′ ] − → [a′′′ , b′′′ ],

dann ist auch die zusammengesetzte Abbildung T (S(·)) stetig striktwachsend surjektiv.

Sprechweise 2.2.2. ¨ Eine Kurve in der Menge S ist eine Aquivalenzklasse C von parametrisierten Kurven. Die Repr¨asentanten γ(·) heissen die Parametrisierungen der Kurve C. Das Bild des kompakten Intervalls unter γ(·) als Punktmenge in S heisst die Spur der Kurve; wir notieren σ(C). Wir bemerken, dass die Spur einer stetigen Kurve eine kompakte zusammenh¨angende Menge ist. Konstruktion: Unterteilte Kurven Es seien C1 , C2 stetige Kurven mit β(C1 ) = α(C2 ). Wir k¨onnen die Kurven dann zusammenf¨ ugen zu einer stetigen Kurve von α(C1 ) nach β(C2 ). Wir bezeichnen diese zusammen~ C2 . gef¨ ugte Kurve mit C = C1 ∪ Es sei {γ(t) : t ∈ [a, b]} eine Parametrisierung der Kurve C. Eine Unterteilung der  Intervalls Z : a = t0 < t1 < · · · < tN = b liefert dann ein N-Tupel von parametrisierten Kurven {γ(t) : t ∈ [tk−1 , tk ]}, wo der Endpunkt der k-ten Kurve der Startpunkt der ~ C2 ∪ ~ ··· ∪ ~ CN . (k + 1)-ten Kurve ist (f¨ ur k = 1, 2, . . . , N − 1). Wir haben C = C1 ∪ Die Idee der Unterteilung einer stetigen Kurve C ist offenbar nicht an die Wahl einer Parametrisierung gebunden. Es ist klar, was eine Verfeinerung einer Unterteilung der Kurve C ist. Wir notieren Z2 ⊒ Z1 , wenn Z2 feiner ist als Z1 . Wir sagen, dass der Feinheitsgrad einer Folge von Unterteilungen (Zn )n nach 0 strebt f¨ ur n → ∞, wenn in einer (und damit in jeder) (n) (n) Parametrisierung max{|tk − tk−1 | : k} nach Null strebt f¨ ur n → ∞. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale

Integrationstheorie

Definition 2.1 (Kurvenl¨ange).  F¨ ur eine Kurve C in einem metrischen Raum S, d(·, ·) definiert man die Kurvenl¨ange

L(C) = sup{ LZ(C) : Z },  P ~ C2 ∪ ~ ··· ∪ ~ CN , und ur die Unterteilung C = C1 ∪ wobei LZ(C) = N k=1 d α(Ck ), β(Ck ) f¨ das Supremum u ¨ber alle Unterteilungen zu erstrecken ist. Die Kurvenl¨ange kann +∞ sein. Wenn sie endlich  ist, dann nennt man die Kurve ~ C2 = L(C1 ) + L(C2 ). rektifizierbar. Die Kurvenl¨ange ist additiv: L C1 ∪ ¨ Hinweis: Ein Thema der elementaren Integralrechnung (mit vielen beliebten Ubungsaufgaben) ist die L¨angenmessung f¨ ur doppelpunktfreie glatte Kurven im euklidischen Rn . F¨ ur uns ist das Thema hier nicht weiter interessant; hier nur ein einziges Beispiel. Der Funktionsgraph eine glatten Funktion f (x) auf einem Intervall [a, b] kann als eine parametrisierte Kurve C im euklidischen R2 aufgefasst werden, wo (a, f (a)) der Anfangspunkt und (b, f (b)) der Endpunktp ist. In der elementaren Analysis lernt man eine Rb Formel f¨ ur die L¨ange, n¨amlich L(C) = a 1 + f ′ (x)2 dx. Betrachten wir z. B. f (x) =

Wegen

p



1 − x2

1 + f ′ (x)2 =

f¨ ur −1 ≤ a < b ≤ +1

√ 1 1−x2

L(C) =

f ′ (x) = √

−x . 1 − x2

haben wir (unter Beachtung der Vorzeichen) Z

a

b



a 1 dx = arccos . 2 b 1−x

Die Parametrisierung durch x ist hier (wie auch sonst oft) nicht g¨ unstig.  x(t) Wenn { y(t) : t ∈ [t0 , t1 ]} eine glatte Umparametrisierung ist, dann finden wir die Rt p ˙ 2 + y(t) ˙ 2 dt. Die naheliegende Parametrisierung f¨ ur unL¨ange als das Integral t01 x(t) seren Kreisbogen ist  die durch den Winkel (im Sinne der Polarkoordinaten). cos φ C : {γ(φ) = sin φ : φ ∈ [0, 2π]}. Hier zeigt die Formel sofort, dass die Kurvenl¨ange die Differenz der Winkel ist. Der Begriff der Kurvenl¨ange ist offenbar nicht an die glatte Parametrisierbarkeit gebunden. Es gilt dar¨ uber hinaus: Wenn eine Kurve C doppelpunktfrei ist, dann h¨angt die L¨ange nur von der Spur der Kurve ab; doppelpunktfreie Kurven mit derselben Spur haben dieselbe L¨ange. C. Carath´eodory hat im Jahr 1914 in einer bahnbrechenden Arbeit Lineares Maß eine Theorie der Mengenfunktionen entwickelt, die die L¨angenmessung auf den Wegen der modernen Maßtheorie behandelt. Wir kommen sp¨ater darauf zur¨ uck.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

2.3 : Kurvenintegrale

2.3

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Kurvenintegrale

Definition 2.2 (Das Kurvenintegral einer 1-Form).  Es sei C eine rektifizierbare Kurve in einem metrischen Raum S, d(·, ·) . Auf ihrer Spur sei g(·) eine bzgl. der induzierten Metrik Lipschitz-stetige Funktion F¨ ur jede auf der Spur stetige Funktion f (·) definiert man dann Z   X (n)   (n)  (n) f · dg = lim f (tk−1 ) · g tk − g tk−1 . C

n→∞

k

wobei der Limes u ¨ber eine Folge von Unterteilungen, deren Feinheitsgrad nach 0 strebt, zu erstrecken ist. Der Limes heisst das Integral der 1-Form f · dg entlang der Kurve C. Wir wollen uns hier nicht mit dem Beweis aufhalten, dass der Limes existiert und unabh¨angig ist von der Wahl der Folge von Unterteilungen; denn wir werden in der abstrakten Maßtheorie allgemeinere Fragen dieser Art behandeln. Der Zusammenhang der maßtheoretischen Konstruktionen mit der aktuellen Situation der Kurvenintegrale ergibt sich aus der folgenden Beobachtung: F¨ ur jede Parametrisierung unserer rektifizierbaren Kurve {γ(t) : t ∈ [a, b]} ist die zur¨ uckgenommene Funktion G(t) = g(γ(t)) eine Funktion beschr¨ankter Schwankung. Das folgt aus der Annahme, dass die Kurve rektifizierbar und die Funktion g Lipschitz-stetig ist. Das Kurvenintegral ergibt sich als das Stieltjes-Integral der stetigen zur¨ uckgenommenen Funktion F (t) = f (γ(t)). Z

C

f · dg =

Z

b

F (t) dG(t). a

Wenn f im Betrag < εR ist, und g entlang der Kurve die Totalvariation ≤ g¯ besitzt, dann gilt die Absch¨atzung C f · dg < ε · g¯.

Durch das Zur¨ ucknehmen (‘pullback’) der Funktionen f und g werden die maßtheoretischen Aspekte sehr einfach. Die eigentliche Bedeutung der Integration entlang von Kurven liegt aber nicht in der Maßtheorie; sie liegt im Bereich der Geometrie. Wir kommen darauf zur¨ uck, wenn wir uns mit glatten Mannigfaltigkeiten befassen. Die Integranden der KurP venintegrale sind dort die sog. Pfaff’schen Formen ω = k fk · dgk , wo die fk stetige und die gk stetig differenzierbare Funktionen sind. Den Beweis des folgenden Satz verschieben wir in die Integrationstheorie. Satz 2.3.1. Es sei C eine rektifizierbare Kurve in einem metrischen Raum; und es sei g Lipschitz-stetig auf ihrer Spur. Es gilt dann R 1. Das Funktional I(·) : f 7−→ C f · dg ist linear auf dem Vektorraum der stetigen Funktionen, I(α1 f1 + α2 f2 ) = α1 I(f1 ) + α2 I(f2 ), @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Stieltjes-Integrale, Kurvenintegrale

Integrationstheorie

2. Das Kurvenintegral ist additiv bei Unterteilungen Z Z Z ~ f dg, f dg + C = C1 ∪ C2 =⇒ f dg = C

C1

C2

3. Ist auch f Lipschitzstetig, so gilt die Regel der partiellen Integration Z Z    β(C) f · dg + g · df = f · g (β(C)) − f · g (α(C)) kurz notiert = f · g α(C) , C

C

Zum Beweis der Formel f¨ ur die partielle Integration  bemerken wir F (tk−1 ) · G(tk ) − G(tk−1 ) + G(tk ) · F (tk ) − F (tk−1 ) = G(tk ) · F (tk ) − F (tk−1 ) · G(tk−1).

Umlaufsintegrale im R2 : In manchen Anf¨angervorlesungen bewies man fr¨ uher den ber¨ uhmten Jordan’schen Kurvensatz. Wir k¨onnen den Sachverhalt hier nur andeuten. Eine Jordankurve im R2 ist eine doppelpunktfreie geschlossene Kurve. Eine Parame x(t) trisierung hat die Gestalt γ(t) = { y(t) : t ∈ [t0 , t1 ]} mit γ(t0 ) = γ(t1 ) und γ(t′ ) 6= γ(t′′ ) f¨ ur t′ 6= t′′ im Inneren des Parametrisierungsintervalls. Der Jordan’schen Kurvensatz besagt nun: F¨ ur jede Jordankurve C ist R2 \ C die disjunkte Vereinigung zweier einfach zusammenh¨angender Gebiete, dem beschr¨ankten Innengebiet B und dem unbeschr¨ankten ‘Aussengebiet’. Die Kurve ist der Rand dieser Gebiete; man notiert ∂B = C. Eine einfache sehr spezielle Version des Satzes von Stokes besagt nun: Satz. Es seien f = f (x, y) und g = g(x, y) stetig differenzierbare Funktionen auf dem ∂g euklidischen R2 , und h(x, y) = − ∂f + ∂x . F¨ur eine Jordankurve C mit dem Innengebiet ∂y B zur Linken gilt dann Z Z  f dx + g dy = h(x, y) dx dy. C

B

Spezialfall: F¨ ur die ‘Pfaff’schen Formen −y dx, x dy, und 21 (−y dx + x dy) ergibt das Umlaufsintegral die Fl¨ache des Innengebiets. Dies bringt uns zur¨ uck zum Cauchy-Integral. Es sei k(x) eine positive stetige Funktion u ¨ber einem Intervall [a, b]. Das ‘Gebiet unter der Kurve’ kann man als das Innengebiet einer Jordankurve im euklidischen R2 be~ C2 ∪ ~ C3 ∪ ~ C4 , wo C1 vom Punkt (a, k(a)) schreiben. Es passt z. B. die Kurve C = C1 ∪ senkrecht absteigt zum Punkt (a, 0)), C2 auf der Abszissenachse weitergeht zum Punkt (b, 0)), C3 senkrecht aufsteigt zum Punkt (b, k(g)), und C4 entlang dem Funktionsgraphen zur¨ uckgeht zum Ausganspunkt (a, k(a)). Das Kurvenintegral der Form −y dx u ¨ber die ersten drei Teilst¨ ucke uck liefert ¨ber das vierte Teilst¨ R b verschwindet; das Kurvenintegral u das Cauchyintegral a k(x) dx. Die Idee der Fl¨achenmessung eines Bereichs B durch ein Kurvenintegral u ¨ber den Rand C = ∂B funktioniert (in einem erweiterten Sinn) auch in allgemeineren F¨allen. Es @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

2.3 : Kurvenintegrale

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 sei γ(t) = { x(t) : t ∈ [t0 , t1 ]} eine glatt parametrisierte Kurve, die nicht notwendigerweise y(t) doppelpunktfrei ist. Das Integral Z Z t1   1 1 − y · x˙ + x · y˙ dt − y dx + x dy = 2 2 C

t0

liefert hier eine gewichtete Summe von Fl¨acheninhalten; die von Teilkurven eingeschlossenen Bereiche sind gem¨aß ihren Umlaufszahlen zu z¨ahlen. Insbesondere ist beim ‘Gebiet unter der Kurve’ einer Funktion k(x) auf [a, b], die auch negative Werte annehmen kann, die Fl¨ache unterhalb der Abszissenachse negativ zu z¨ahlen. Diese wird n¨amlich im Uhrzeigersinn umlaufen, w¨ahrend die Bereiche u ¨ ber der Abszissenachse im mathematisch positiven Sinn umlaufen werden. Schluss: Die geometrische Linie der Integralrechnung, so wie wir sie hier angedeutet haben mit ihren Kurven und Kurvenintegrale, wollen wir jetzt nicht fortsetzen. Im n¨achsten Kapitel geht es wieder um Funktionenr¨aume, Funktionale und verwandte mathematische Objekte wie etwa Mengensysteme und Mengenfunktionen.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Mengenalgebren, Maße und Integration

Integrationstheorie

3

Mengenalgebren, Maße und Integration

Bei der Konstruktion von Daniell machen die Funktionswerte ±∞ Schwierigkeiten. Die Sachlage wird u ¨bersichtlicher, wenn man die Integrationstheorie von der Maßtheorie her ¯ + = R+ ∪ {+∞} aufbaut und zun¨achst nur die messbaren Funktionen mit Werten in R integriert. Dabei wird nicht subtrahiert; der Funktionswert −∞ tritt nicht auf.

3.1

Erzeugte σ-Algebren

Definition 3.1 (Mengenalgebren, σ-Algebren). Ein System A von Teilmengen einer Grundmenge Ω heißt eine Mengenalgebra wenn i) ∅ ∈ A ,

ii) A ∈ A

iii) A, B ∈ A

Ω ∈ A,

=⇒

=⇒

Ω\A ∈ A

A∩B ∈A

 und A ∪ B ∈ A .

vi) Eine Mengenalgebra A u ¨ber Ω heißt eine σ-Algebra, wenn zus¨atzlich gilt ∞ ∞  S T A1 , A2 , . . . ∈ A =⇒ An ∈ A und An ∈ A . Die Elemente A einer σ-Algebra A heissen die A-messbaren Mengen.

Die Definition besagt in Worten: Das Komplement einer A-messbaren Menge ist Amessbar. Abz¨ahlbare Vereinigungen und abz¨ahlbare Durchschnitte A-messbarer Mengen sind A-messbar. Beispiel 3.1.1P(diskrete σ-Algebra). Wenn Ω = Cn eine abz¨ahlbare Partition der Grundmenge ist, dann ist das System der Mengen, die sich als Vereinigung von abz¨ahlbare vielen ‘Atomen’ Cn darstellen lassen, eine σ-Algebra. Eine σ-Algebra dieser Art heisst eine diskrete σ-Algebra u ¨ber Ω. Sprechweise. Sind A′ und A′′ σ-Algebren u ¨ber Ω mit A′ ⊆ A′′ , so nennt man A′ eine Vergr¨oberung von A′′ und A′′ eine Verfeinerung von A′ . Bemerke: Die feinste aller σ-Algebren u ¨ber Ω ist die Potenzmenge, die gr¨obste aller σ-Algebren u ber Ω hat zwei Elemente, n¨ a mlich die leere Menge und die Gesamtmenge Ω. ¨ Lemma.  Ist Aα : α ∈ I irgendeine (m¨oglicherweise ¨uberabz¨ahlbare) Familie von σ-Algebren u ¨ber T Ω, so ist auch der Durchschnitt A = α Aα eine σ-Algebra. Wenn S irgendein Mengensystem ¨ uber Ω ist, dann heisst die gr¨obste σ-Algebra, die S umfasst, die von S erzeugte σ-Algebra. (Sie ist der Durchschnitt aller S umfassenden σ-Algebren.)  Ist An : n ∈ N S eine aufsteigende Folge von σ-Algebren u ¨ber Ω, A1 ⊆ A2 ⊆ . . ., so ist die Vereinigung n An eine Mengenalgebra, im Allgemeinen aber keine σ-Algebra. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

3.1 : Erzeugte σ-Algebren

15

Beispiel 3.1.2 (Borel-Algebra). Ein wichtiger Typ von σ-Algebren sind die Borelalgebren. Wenn S ein topologischer Raum ist, dann heisst die vom System der offenen Mengen erzeugte σ-Algebra die Borelalgebra u ¨ ber diesem topologischen Raum. Wenn die Topologie auf S eine abz¨ahlbare Basis besitzt, dann ist Borelalgebra abz¨ahlbar erzeugt. Betrachten wir den topologischen Raum S = R. Die Abschnitte (−∞, r] mit rationalem r erzeugen die Borelalgebra. Diese Borelalgebra ist so groß, dass es aussichtslos ist, sich eine Menge reeller Zahlen vorzustellen, die nicht borelsch ist. Definition 3.2 (Mengenring, Inhalt, Pr¨amaß). Ein Mengenring u ¨ber der Grundmenge Ω ist ein Mengensystem R mit A, B ∈ R =⇒ A \ B, A ∪ B ∈ R. Ein Inhalt ist eine nichtnegative Funktion ρ(·) auf einem Mengenring mit ρ(∅) = 0.

ρ(A ∪ B) + ρ(A ∩ B) = ρ(A) + ρ(B).

Ein Pr¨amaß ist ein Inhalt mit A1 ⊇ A2 ⊇ · · ·

\

An = ∅ =⇒ ρ(An ) ց 0.

Definition 3.3 (Maß, Wahrscheinlichkeitsmaß). ¯ + -wertige Funktion auf einer σ-Algebra A mit den Eigenschaften Ein Maß ist eine R i) µ(∅) = 0 ; ii) A ⊆ B

=⇒

µ(A) ≥ 0 f¨ ur alle A ∈ A, µ(A) ≤ µ(B)

iii) A1 , A2 , . . . paarweise disjunkt

=⇒

P P∞ µ( ∞ 1 Ai ) = 1 µ(Ai ).

Wenn µ(Ω) = 1, dann spricht man von einem Wahrscheinlichkeitsmaß; wir schreiben auch kurz W-Maß. Man spricht auch von einer normierten nichtnegativen σ-additiven Mengenfunktion. Wenn zu dem Maß µ(·) S auf A eine Folge von A-messbaren Mengen An existiert, sodass µ(An ) < ∞ f¨ ur alle n und n An = Ω, dann nennt man µ(·) ein σ-endliches Maß und die Folge (An )n eine aussch¨opfende Folge. P Beispiel 3.1.3. Es sei Ω = Cn eine abz¨ahlbare Partition der Grundmenge und (pn )n eine nichtnegative Gewichtung der Atome. Wir erhalten ein Maß auf der erzeugten σ-Algebra, wenn wir definieren X µ(A) = pn . {n: Cn ⊆A}

Jedes Maß auf einer diskreten σ-Algebra entsteht aus einerP nichtnegativen Gewichtung der Atome. Es handelt sich um ein σ-endliches Maß. Wenn pn = 1, dann spricht man von einer konvexen Gewichtung; das dazugeh¨orige Maß ist ein W-Maß. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Mengenalgebren, Maße und Integration

Integrationstheorie

Bemerke: Ein Inhalt ist (bei uns) endlichwertig, aber nicht notwendig beschr¨ankt. Die Einschr¨ankung eines Maßes auf das System der Mengen mit endlichem Maß ist ein Pr¨amaß. Ein Mengenring ist genau dann eine Mengenalgebra, wenn er die Grundmenge Ω als Element enth¨alt. ˜ ein Stone’scher Vektorverband, welcher die konstante Funktionen Beispiel 3.1.4. Es sei E ˜ ein Elementarintegral mit I(c·1 ˜ c·1Ω enth¨alt, und I(·) Ω ) = c. (Man spricht von einem normierten Elementarintegral.) Wenn A eine Menge ist, f¨ ur welche 1A Daniell-integrabel ist, dann nennt man A eine Daniell-messbare Menge. Das System A∗ der Daniell-messbaren Mengen ist eine σ-Algebra, und die Mengenfunktion µ(A) = I ∗ (1A ) ist ein Wahrscheinlichkeitsmaß. Das Mengensystem A∗ ist vollst¨andig in dem Sinn, dass alle Teilmengen einer Daniell-messbaren Nullmenge N Daniell-messbar sind. Eine Menge N ist DaniellNullmenge genau dann, wenn es zu jedem ε > 0 eine aufsteigende Folge von Elementarfunktionen gibt, sodass lim ↑ f˜n ≥ 1N und lim ↑ I(f˜n ) < ε.

Beispiel 3.1.5. Denken wir nochmals an das klassische Cauchy-Integral. Wir erhalten ein normiertes Elementarintegral, wenn wir jeder stetigen Funktion u ¨ber dem Einheitsintervall Ω = [0, 1] die ’Fl¨ache unter der Kurve’ zuordnen, wobei die Fl¨ache unterhalb der Abszissenachse negativ zu z¨ahlen ist. (Die monotone Stetigkeit war Cauchy nicht bekannt.) Die Daniell-Fortsetzung f¨ uhrt zum Lebesgue-Integral u ¨ber [0, 1] und daraus ergibt sich das Lebegue-Maß, das L¨angenmaß auf der σ-Algebra der Daniell-messbaren Teilmengen des Intervalls [0, 1]. — Die Lehrb¨ ucher sind sich allerdings nicht einig, ob man nicht lieber die Einschr¨ankung dieses vollst¨andigen Maßes auf die Borel-Algebra das Lebesgue-Maß nnennen sollte. Riemann gelangte zu seinen Ober- und Untersummen, indem er die x-Achse fein unterteilte. Lebesgue hat betont, dass es genauso nat¨ urlich ist, die y-Achse zu unterteilen und das Maß der Mengen {x : a < f (x) ≤ b} f¨ ur kleine Intervalle (a, b] zur Fl¨achenmessung heranzuziehen. F¨ ur großes n sollte X X   k k k+1 1 · λ x : < f (x) ≤ · λ x : f (x) > 2kn . = 2n 2n 2n 2n

eine genaue Approximation der ‘Fl¨ache unter der Kurve’ ergeben. Wenn man diese Idee auf allgemeine messbare Funktionen u ¨bertr¨agt, dann zeigt sich ein Weg, wie man vom Lebegue-Maß λ(·) zum Lebesgue-Integral gelangen kann: Es sei f eine nichtnegative Funktion undR F¯f (y) f¨ ur jedes y > 0 das Lebesgue-Maß der Menge {ω : f (ω) > y}, dann gilt ∞ I(f ) = 0 F¯f (y) dy. Das Integral der Funktion f (ω) ist also die Fl¨ache unter der monoton fallenden Funktion F¯f (y) auf der positiven y-Achse.— Wir werden diese Idee sp¨ater in allgemeinerem Zusammenhang weiterverfolgen.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

3.2 : Der Eindeutigkeitssatz f¨ ur σ-endliche Maße.

3.2

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Der Eindeutigkeitssatz fu ¨ r σ-endliche Maße.

Zwei Maße µ(·) und ν(·) sind (definitionsgem¨aß!) gleich, wenn sie auf derselben σ-Algebra A definiert sind und µ(A) = ν(A) f¨ ur alle A ∈ A. Wir werden zeigen, dass σ-endliche Maße schon dann gleich sind, wenn sie auf einem ’gen¨ ugend großen’ Erzeugendensystem der σ¨ Algebra A u ¨bereistimmen. Wir schicken eine Uberlegung u ¨ber Mengensysteme voraus Definition 3.4 (Dynkin-Systeme). Ein Mengensystem D u ¨ber der Grundmenge Ω heisst Dynkin-System, wenn gilt i) Ω ∈ D,

A∈D

=⇒

ii) A1 , A2 , . . . ∈ D und Ai

Ω − A ∈ D,

P∞

Ai ∈ D.  Bemerkung: In einem Dynkin-System gilt A, B ∈ D und A ⊆ B ⇒ B − A ∈ D. Es gilt n¨amlich (B − A)c = B c + A. Dynkinsysteme sind somit stabil gegen¨ uber (abz¨ahlbarer!) disjunkter Vereinigung und gegen¨ uber ‘echter’ Differenzbildung. Ein Dynkinsystem ist genau dann eine σ-Algebra, wenn es durchschnittsstabil ist. Zu jedem Mengensystem S u ¨ ber Ω gibt es kleinstes S umfassendes Dynkin-System, das ‘von S erzeugte Dynkin-System’; denn der Durchschnitt von (beliebig vielen) DynkinSystemen ist ein Dynkin-System. paarweise disjunkt

=⇒

1

Satz 3.2.1. Es sei S ein durchschnittsstabiles Mengensystem und D das davon erzeugte Dynkin-System. Dann ist D durchschnittsstabil, d. h. D ist die erzeugte σ-Algebra Aσ . Beweis. F¨ur jedes feste S ∈ S ist das Mengensystem DS = {A : A ∩ S ∈ D } ein Dynkin-System, welches S umfasst. Es gilt also ∀S∈S DS ⊇ D;

d. h.

S ∈ S, D ∈ D ⇒ S ∩ D ∈ D.

F¨ur ein festes D ∈ D ist DD = {A : A ∩ D ∈ D } ein Dynkin-System, welches D umfasst. Es gilt daher ∀D∈D DD ⊇ D; d. h. D ∈ D, A ∈ D ⇒ A ∩ D ∈ D Das erzeugte Dynkin-System ist also durchschnittsstabil, was zu beweisen war. Beispiel 3.2.1. 1)Es sei S das System aller beschr¨ankten und unbeschr¨ankten halboffenen Intervalle  (linksseitig offen, rechtsseitig abgeschlossen) auf der reellen Achse Ω = R: S = (a, b] : −∞ ≤ a < b ≤ +∞ . S ist durchschnittsabgeschlossen. Die Gesamtheit aller disjunkten Vereinigungen bilden eine Mengenalgebra u ¨ber R. 2) Wenn man nur die beschr¨ankten Intervalle und ihre Vereinigungen zul¨asst, erh¨alt man einen Mengenring.  3)Das System aller Abschnitte D = (−∞, b] : b ≤ +∞ ist ein Dynkin-System, welches die Borel-Algebra erzeugt. Ein endliches Borel-Maß µ auf R ist eindeutig bestimmt durch  die Werte µ (−∞, b] , d. h. durch die sog. Verteilungsfunktion. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Mengenalgebren, Maße und Integration

Integrationstheorie

4)Ein halboffenes Intervall im R2 nennt man auch ein elementares Rechteck  ω : ω = (x1 , x2 ) mit a1 < x1 ≤ b1 , a2 < x2 ≤ b2 = (a1 , b1 ] × (a1 , b1 ].

Das System S aller Rechtecke ist durchschnittsstabil; das System aller disjunkten Vereinigungen von Rechtecken ist ein Mengenring. Es handelt sich um eine Mengenalgebra, wenn man auch die nichtbeschr¨ankten Rechtecke zul¨asst. 5) Wenn man nur die Rechtecke mit rationalen Eckpunkten zul¨asst, erh¨alt man ein abz¨ahlbares Mengensystem, welches die Borelalgebra B erzeugt. Nach diesen Vorbereitungen kommen wir nun zum Eindeutigkeitssatzes f¨ ur σ-endliche Maße: Satz 3.2.2. Auf dem messbaren Raum Ω, A) seien µ und ν Maße. Es m¨ogen messbare S Menge Ωn existieren mit Ωn = Ω und µ(Ωn ) = ν(Ωn ) < ∞. Wenn die Maße µ und ν auf einem durchschnittsabgeschlossenen Erzeugendensystem ¨ubereinstimmen, dann sind sie gleich. Beweis. Es gen¨ugt, den Satz f¨ur Wahrscheinlichkeitsmaße zu beweisen; denn die Maße µ(· ∩ Ωn ) und ν(· ∩ Ωn ) sind bis auf eine Normierung Wahrscheinlichkeitsmaße; und wenn µ(A ∩ An ) = ν(A ∩ An ) f¨ur alle A ∈ A und alle n, dann sind µ und ν gleich.  Der Beweis ergibt sich aus der Beobachtung, dass das Mengensystem D = D : µ(D) = ν(D) ein Dynkinsystem ist, welches von einem durchschnittsstabilen Mengensystem erzeugt wird. Didaktischer Hinweis: Die Methode, mit der wir eben eine Aussage u ¨ber σ-endliche auf eine Aussage u ber W-Maße zur¨ u ckgef¨ u hrt haben, ist bei vielen Gelegenheiten an¨ wendbar. Wir n¨ utzen die Spezialisierung der Aussagen auf W-Maße manchmal, um die entscheidenden Argumente durchsichtiger herauszustellen. Maße, die nicht σ-endlich sind, sind f¨ ur uns in dieser Veranstaltung nicht besonders interessant (Eine Ausnahme ist der Abschnitt u ur manche ¨ber Hausdorff-Maße.) Wenn wir f¨ Aussagen die σ-Endlichkeit des zugrundeliegenden Maßes voraussetzen, dann dient das ¨ der Ubersichtlichkeit, sagt aber nicht unbedingt, dass nicht auch ganz ¨ahnliche Aussagen im ganz allgemeinen Fall bewiesen werden k¨onnen. Beispiel (Eigentlich ein Gegenbeispiel). Es sei Ω eine u ¨berabz¨ahlbare Menge und A die σ-Algebra, die von den einpunktigen Mengen erzeugt wird. Eine Menge A geh¨ort zu A genau dann, wenn sie entweder abz¨ahlbar ist oder ein abz¨ahlbares Komplement hat. Wir erhalten ein Pr¨amaß auf dem Mengenring derPendlichen Mengen, indem wir den Punkten ω Gewichte p(ω) ≥ 0 zuordnen: ρ(A) = ω∈A p(ω). Wir k¨onnen ρ einerseits in naheliegender Weise zu einem Maß fortsetzen, indem wir f¨ ur alle A ∈ A definieren P µ(A) = ω∈A p(ω). Betrachten wir andererseits das Maß µ ˜, welches auf den abz¨ahlbaren Mengen mit µ u ˜(A) = +∞ ¨ bereinstimmt und allen u ¨ berabz¨ahlbaren A ∈ A den Wert µ zuordnet, ist ebenfalls eine Fortsetzung von ρ. Wenn die Summe aller Gewichte endlich ist, dann sind µ und µ ˜ verschieden. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

3.3 : Das Integral zu einem Maß

3.3

19

Das Integral zu einem Maß

Definition 3.5 (Messbarer Raum, Maßraum). Ein Menge Ω wird zu einem messbaren Raum, indem man eine σ-Algebra A auszeichnet. Ein messbarer Raum Ω, A wird zu einem (σ-endlichen) Maßraum, indem man ein (σendliches) Maß µ auf A auszeichnet. Er wird zu einem W-Raum, indem man ein W-Maß auszeichnet. Definition 3.6 (Messbare numerische Funktion). Eine Funktion f (·) auf einem messba¯ + = R+ ∪ +∞ heisst eine A-messbare nichtnegative ren Raum Ω, A mit Werten in R numerische Funktion, wenn {ω : f (ω) > y} A-messbar ist f¨ ur alle y. Man nennt eine solche Funktion oft auch kurz eine nichtnegative messbare Funktion. Man bemerke, dass man solche Funktionen (‘punktweise’) addieren, aber nicht subtrahieren kann. Die Summe ist in der Tat A-messbar; denn {f + S g > y} ist als eine abz¨ahlbare Vereinigung messbarer Mengen darstellbar: {f + g > y} = r∈Q {f > r} ∩ {g > y − r}. Eine messbare Funktion, die nur endlich viele Werte annimmt, heisst eine A-Treppenfunktion. Im Hinblick auf sp¨atere Diskussionen wollen wir f¨ ur die n¨achsten S¨atze nicht annehmen, dass das ausgezeichnete Mengensystem (¨ uber der Grundmenge Ω) eine σ-Algebra ist. Wir lassen auch Mengenalgebren oder Mengenringe zu. Sprechweise 3.3.1 (Elementare Treppenfunktion). Auf der Menge Ω sei ein Mengenring R ausgezeichnet. Eine Funktion f , die nur endlich viele Werte annimmt mit {f = y} ∈ R f¨ ur alle y, nennen wir eine elementare R-Treppenfunktion. P Bemerke: Die elementaren R-Treppenfunktionen haben die Form h(ω) = j cj ·1Aj (ω) mit Aj ∈ R. Die elementaren reellwertigen Treppenfunktionen bilden einen Stone’schen Vektorverband. Sei beispielsweise R der Mengenring u ¨ber R, die von den beschr¨ankten halboffenen Intervallen erzeugt wird. Die elementaren Treppenfunktionen sind dann die Funktionen P c · 1 (aj ,bj ] , wobei man annehmen darf, dass die Intervalle (aj , bj ] paarweise disjunkt j j sind. Es sind die elementaren Treppenfunktionen, die man bei der bekannten Konstruktion des Riemann-Integrals ins Spiel bringt. Satz 3.3.1 (Das Elementarintegral zu einem Pr¨a-Maß). Es sei µ(·) ein Inhalt auf einem Mengenring A ¨uber der Grundmenge Ω. ˜ auf dem Stone’schen Vektorverband Es existiert dann genau ein lineares Funktional I(·) ˜ ˜ ˜ A ) = µ(A) f¨ur alle A ∈ A. Es gilt E der elementaren A-Treppenfunktionen f (·) mit I(1 Z ∞  ˜ ˜ I(f ) = µ {f˜ > t} dt f¨ur alle nichtnegativen f˜. 0

Wenn µ(·) ein Pr¨amaß ist, dann das Funktional ein Elementarintegral im Sinne der Daniell-Fortsetzung. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Mengenalgebren, Maße und Integration

Integrationstheorie

Beweis. Eine A-Treppenfunktion h kann man auf sehr viele Weisen als Linearkombination von Indikatorfunktionen darstellen. Es gilt zu beweisen X X X X aj · 1Aj = h = bk · 1Bk =⇒ aj · µ(Aj ) = bk · µ(Bk ). 1) Wir betrachten zuerst den Fall, wo sowohl die Aj als auch die Bk paarweise disjunkt sind. Wir k¨onnen diese Tupel durch Mengen A0 , B0 ∈ A erg¨anzen, sodass wir zwei ˜ erhalten, auf deren Komplement alle beteiligten Funktionen Partitionen einer Menge Ω verschwinden. Die Koeffizienten zu 1A0 bzw. 1B0 sind nat¨urlich a0 = 0 = b0 zu setzen. Es gilt X h= cjk · 1Aj ∩Bk mit Aj ∩ Bk 6= ∅ ⇒ cjk = aj = bk . j,k

Es gilt daher wegen Bk = X

P

Aj ∩ Bk ,

j

bk · µ(Bk ) =

X j,k

Aj =

P

k

Aj ∩ Bk

cjk · µ(Aj ∩ Bk ) =

X

aj · µ(Aj ).

P P ˜ eine Partition, die eine Mengenalgebra 2) Es sei h = bk · 1Bk , und es sei j Aj = Ω erzeugt, welche alle Bk enth¨alt. X X Bk = Aj , µ(Bk ) = µ(Aj ) f¨ur alle k {j: Aj ⊆Bk }

h= X

X

{(j,k): Aj ⊆Bk }

bk · 1Aj =

bk · µ(Bk ) =

X

X j

{(j,k): Aj ⊆Bk }

{j: Aj ⊆Bk }

aj · 1Aj

X

mit aj =

bk ,

{k: Aj ⊆Bk }

bk · µ(Aj ∩ Bk ) =

X j

aj · µ(Aj ).

Da alle Darstellungen von h mit paarweise disjunkte Aj denselben Wert liefern, liefern ˜ wohldefiniert. Es ˜ ˜ ist auf E alle Darstellungen denselben Wert I(h). Das Funktional I(·) ist monoton und positivlinear. 3) Wenn 0 = c0 < c1 < · · · < cM die m¨oglichen Werte von h sind, dann gilt h=

X m

cm · 1Cm

mit Cm = {h = cm }

˜ Diesen Wert I(h) k¨onnen als das Integral einer abnehmenden Sprungfunktion auf R+ gewinnen. In der Tat haben wir zun¨achst einmal f¨ur Funktionen, die (ausser der 0) nur einen einzigen Wert c annehmen k¨onnen, d. h. f¨ur die Vielfachen von Indikatorfunktionen Z ∞ ˜ h = c · 1C =⇒ I(c · 1C ) = c · µ(C) = µ({h > y}) dy; 0

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

3.3 : Das Integral zu einem Maß

21

P P Ebenso einfach ist das Argument f¨ u r h = h = aj · 1Aj mit paarweise disjunkten Aj j P wegen {h > y} = {hj > y} Z ∞ XZ ∞ X ˜ ˜ µ({h > y}) dy = µ({hj > y}) dy = I( hj ) = I(h). 0

4)

0

F¨ur eine punktweise nach 0 absteigende Funktionenfolge (hn )n gilt

 hn > y ց ∅ f¨ur alle y > 0

µ{hn > y} ց 0,

und daher f¨ur jedes Pr¨amaß Z ∞ ˜ I(hn ) = µ{hn > y} dy ց 0.

sowie

0

Die Funktionen F¯n (y) ur R ∞= µ{hn > y} sind auf R+ rechtsstetig und sie fallen nach 0 f¨ ¯ y → ∞. Die Integrale 0 Fn (y) dy fallen nach 0 f¨ur n → ∞. 5) Wir bemerken: h ist genau dann der aufsteigende Limes der Funktionenfolge (hn )n , wenn limn ↑ {hn > y} = {h > y} f¨ur alle y. Wenn die hn nichtnegative elementare  Treppenfunktionen sind und µ(·) ein  gilt limn ↑ µ {hn > y} = µ {h > y} R ∞Pr¨amaß, dann f¨ur alle y und daher lim I(hn ) ր 0 µ {h > y} dy.

Lemma. Wenn A eine σ-Algebra ist, dann l¨asst sich jede A-messbare nichtnegative numerische Funktion f als aufsteigender Limes einer Folge von Treppenfunktionen gewinnen. Beweis. Wir konstruieren f¨ur k, n ∈ N (n)

Ak = {ω : k2−n < f (ω) ≤ (k + 1)2−n }, X (n) (n) Al = {ω : k2−n < f (ω)}, Bk = l=k

f (n) = 2−n ·

∞ X 1

k · 1A(n) = 2−n · k

∞ X 1

1B(n) . k

f (n) entsteht aus f , indem man die Funktionswerte auf das n¨achste ganzzahlige Vielfache  von 2−n abrundet. Die Folge der Treppenfunktionen f (n) ∧ n n konvergiert aufsteigend gegen f . Bemerkung: Die rechtsstetige abnehmende Sprungfunktion F¯ (n) (y) = µ(f (n) > y) ist ) f¨ ur k < n2n . eine Minorante der Funktion F¯ (y) = µ(f > y); und es gilt F¯ (n) ( 2kn ) = F¯ ( k+1 2n Wenn der Limes der Integrale endlich ist, nennt man h eine µ-integrable Funktion. Unserer Konstruktionen liefern einen der zentralen S¨atze der Integrationstheorie: Satz 3.3.2 (Satz von der monotonen Konvergenz f¨ ur nichtnegative Funktionen).  Es sei Ω, A ein messbarer Raum, und F+ der Kegel aller A-messbaren nichtnegativen numerischen Funktionen. Zu jedem Maß µ(·) existiert dann genau ein monotones additives ¯ + mit I(1A ) = µ(A) f¨ur alle A ∈ A. Es gilt Funktional I(·) mit Werten in R 0 ≤ f1 ≤ f2 ≤ · · · f = lim ↑ fn =⇒ I(f ) = lim ↑ I(fn ). R R R Man notiert I(f ) = f dµ oder auch I(f ) = f (ω) dµ(ω) = f (ω) µ(dω). @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Mengenalgebren, Maße und Integration

Integrationstheorie

Die Additivit¨at des fortgesetzten Funktionals ergibt sich aus der Additivit¨at seiner Einschr¨ankung auf den Kegel der nichtnegativen Treppenfunktionen: Zu f, g ∈ F+ w¨ahlen wir aufsteigende Folgen von Treppenfunktionen fn ր f, gn ր g. Die Folge (fn +gn ) strebt dann aufsteigend gegen f + g, und f¨ ur die Integrale gilt I(f + g) = lim ↑ I(fn + gn ) = lim ↑ I(fn ) + lim ↑ I(gn ) = I(f ) + I(g). Die aufsteigende Stetigkeit ergibt sich so:   fn ր f =⇒ ∀y > 0 {fn > y} ր {f > y} =⇒ ∀y > 0 µ {fn > y} ր µ {f > y} Z ∞ Z ∞   =⇒ µ {fn > y} dy ր µ {f > y} dy. 0

0

Die absteigende Stetigkeit k¨onnen wir nur erschliessen, wenn f¨ ur die beteiligten fn das Integral endlich ist. Eine Variante des Satzes von der monotonen Konvergenz, welche in vielen Rechnungen Verwendung findet, ist der Satz 3.3.3 (Lemma von Fatou). F¨ur jede Folge nichtnegativer messbarer Funktionen gilt Z Z  lim inf fn dµ ≤ lim inf fn dµ.

Beweis. Der Limes inferior der FolgeR (fn )n ist R der aufsteigende Limes der Folge (gm )m , wenn gm = inf{fn : n ≥ m}. Wegen gm ≤ fn dµ f¨ur alle n ≥ m gilt nach dem Satz von der monotonen Konvergenz Z Z Z  lim inf fn dµ = lim ↑ gm dµ ≤ lim inf fn dµ.

Wenn die Folge (fn )n punktweise konvergiert, kann man nicht ohne weitere Annahmen schliessen, dass die Integrale gegen das Integral der Grenzfunktion konvergieren. R∞ x Beispiel. F¨ ur x ≥ 0 sei f1 (x) = 1+x fn (x) dx = 4 und fn (x) = n · f1 (nx). Es gilt 0 R R∞ n2 x 1 ∞ 1 ur alle n, w¨ahrend fn (x) = 1+n4 x4 → 0 f¨ ur alle x. f (x) dx = 2 0 1+u2 du f¨ 0

Definition 3.7 (µ-Integrabilit¨at). Eine A-messbare Funktion h, die auch negative Werte annehmen kann, Rnennt man µ-integrable Funktion, wenn I(|h|) < ∞. In diesem Fall R eine R − + definiert man h dµ = h dµ − h dµ.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

3.4 : Der Satz von Fubini

3.4

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Der Satz von Fubini

In der elementaren Differentialrechnung versteht man den Ausdruck ZZ f (x, y) dx dy B

als das ‘Fl¨achenintegral’ der Funktion f (x, y) bzgl. des ‘Fl¨achenelements’ dx dy u ¨ber den Bereich B. Man lernt, dass man dieses Doppelintegral unter gewissen Umst¨anden auch als ein iteriertes Integral auswerten kann, und dass es dabei nicht auf die Reihenfolge der eindimensionalen Integrationen ankommt Z Z ZZ Z Z dx f (x, y) dy = f (x, y) dx dy = dy f (x, y) dx. Das Thema hat mehrere Aspekte. Wir k¨onnen es z. B, als einen Vorschlag verstehen, das zweidimensionale Lebesgue- Maß u ¨ber R2 als ein Produktmaß zu konstruieren. Eine Verallgemeinerung ist die folgende Konstruktion von Produktmaßen u ¨ ber Produktr¨aumen Satz 3.4.1 (Das Produkt zweier Mengenringe). Es sei R1 ein Mengenring u ¨ber Ω1 und R2 ein Mengenring ¨uber Ω2 . Es sei S das System aller Rechtecke S = R1 × R2 und R das System aller disjunkten Vereinigungen. Dann ist S ein Mengensystem ¨uber dem cartesischen Produkt Ω = Ω1 × Ω2 mit der Eigenschaft S ′ , S ′′ ∈ S =⇒ S ′ ∩ S ′′ ∈ S, S ′ \ S ′′ ∈ R; und R ist ein Mengenring. Der Beweis ist trivial. Notation 3.1. Man nennt den so konstruierten Mengenring R den Produktring und bezeichnet ihn R1 ⊗ R2 . Satz 3.4.2 (Produkt-Inhalt). Die Bezeichnungen seien wie eben. ρ˜1 sei ein Inhalt auf R1 , ρ˜2 ein Inhalt auf R2 . Es gibt dann genau einen Inhalt ρ˜ auf R1 ⊗ R2 mit ρ˜ R1 × R2 = ρ˜(R1 ) · ρ˜2 (R2 ) f¨ ur alle Rechtecke. (Er heisst der Produktinhalt und wird mit ρ˜1 ⊗ ρ˜2 bezeichnet.) Wenn die ‘Faktoren’ ρ˜1 , ρ˜2 Pr¨amaße sind, dann ist auch das Produkt ρ˜ = ρ˜1 ⊗ ρ˜2 ein Pr¨amaß. Beweis. Wir ben¨utzen die Beschreibung des Produktinhalts durch ein iteriertes Integral, um zu zeigen, dass man unser Funktional ’L¨ange × Breite’ auf der Menge der Rechtecke in eindeutiger Weise zu einem Inhalt auf R fortsetzen kann. Wir verstehen unsere Inhalte ρ˜1 , ρ˜2 als Funktionale auf den betreffenden Systemen von Treppenfunktionen. R F¨ur eine R2 -Treppenfunktion h2 ∈ RT2 r+ notieren wir I˜2 (h2 ) = h2 (ω2 ) d˜ ρ(ω2 ). T r+ ˜ Entsprechend notieren wir die Elementarintegrale I1 (h1 ) f¨ur h1 ∈ R1 . F¨ur das Integral der Indikatorfunktion eines Rechtecks h = 1R1 ×R2 bieten sich mehrere Darstellungen an. Z Z  Z ρ(ω1 ). 1R2 (ω2 ) d˜ h(ω1 , ω2 ) d˜ ρ(ω1 , ω2) = 1R1 (ω1 ) @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Mengenalgebren, Maße und Integration

Integrationstheorie

T r+ F¨ur h ∈ R1 ⊗ R2 und ω1 ∈ Ω1 nennen wir die Funktion hω1 (·) = h(ω1 , ·) den Schnitt u ¨ber ω1 . Der Schnitt einer Summe h1 +h2 ist ¨uber jedem ω1 die Summe der Schnitte. F¨ur die Indikatorfunktion eines Rechtecks h¨angt das ρ˜2 - Integral des Schnitts ¨uber ω1 in der Form einer R1 −Treppenfunktion von ω1 ab. Aus der Linearit¨at des Elementarintegrals T r+ I˜ ergibt sich f¨ ur beliebige h ∈ R1 ⊗ R2 Z

h(ω1 , ω2 ) d˜ ρ(ω1 , ω2 ) =

Z Z

 hω1 (ω2 ) d˜ ρ(ω2 ) d˜ ρ(ω1 ).

Betrachten wir nun den Fall der Pr¨amaße. Wir zeigen die Pr¨amaßeigenschaft f¨ur den Produktinhalt. A(1) ⊇ A(2) ⊇ · · ·

∈ R1 ⊗ R2 ,

\

A(n) = ∅

=⇒

ρ˜(A(n) ) ց 0.

F¨ur h(n) = 1A(n) bilden die Schnitte u ¨ber ω1 eine Folge von R2 -Indikatorfunktionen, (n) die punktweise gegen die Nullfunktion abfallen. hω1 (·) = h(n) (ω1 , ·) ց 0. Die Pr¨amaßEigenschaft von ρ˜2 garantiert, dass die ρ˜2 -Integrale nach 0 fallen; und die Pr¨amaß-Eigenschaft von ρ˜1 liefert Z Z Z  (n) (n) (n) ρ˜(A ) = h (ω1 , ω2 ) d˜ ρ(ω1 , ω2) = hω1 (ω2 ) d˜ ρ(ω2 ) d˜ ρ(ω1 ) ց 0. Satz 3.4.3 (Satz von Fubini). Gegeben seien σ-endliche Maße µi auf Ai (i = 1, 2). A bezeichne die von A1 ⊗ A2 erzeugte σ-Algebra u ¨ber Ω1 × Ω2 . Das ‘iterierte Integral’ Z Z  A ∋ A 7−→ 1A (ω1 , ω2 ) dµ2(ω2 ) dµ1 (ω1 ). ist die eindeutig bestimmte monotone Fortsetzung µ des Produktinhalts µ1 ⊗ µ2 . F¨ur beliebige A-messbare nichtnegative h gilt Z Z   h dµ = h(ω1 , ω2 ) dµ(ω2 ) dµ(ω1 ). Beweis. Die Gesamtheit derjenigen nichtnegativen Funktionen h(ω1 , ω2 ), f¨ur welche jeder Schnitt h(ω1 , ·) A2 -messbar ist, enth¨alt die nichtnegativen Treppenfunktionen; sie ist gegen¨uber monotoner Limesbildung abgeschlossen und umfasst daher A+ . Mit anderen Worten: F¨ur jedes f ∈ A+ sind alle Schnitte messbar. Mit demselben Argument sieht man, dass die ρ2 -Integrale dieser Schnitte in A1 -messbarer Weise von ω1 abh¨angen. Das iterierte Integral ist daher ein wohldefiniertes Funktional. Es ist positivlinear und aufsteigendstetig, und es liefert f¨ur die Indikatoren der Rechtecke die gew¨unschten Werte. Es ist daher gleich dem Funktional I + (·) zum Produktpr¨amaß ρ˜1 ⊗ ρ˜2 . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

3.4 : Der Satz von Fubini

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Notation. Die von den Rechtecken erzeugte σ-Algebra bezeichnen wir mit A1 ⊗σ A2 Wenn ρ˜1 das σ-endliche Maß µ1 erzeugt und ρ˜2 das σ-endliche Maß µ2 , dann  bezeichnet µ1 ⊗σ µ2 das von ρ˜1 ⊗ ρ˜2 erzeugte σ-endliche Maß auf Ω1 × Ω2 , A1 ⊗σ A2 . Dieses Maß heisst das Produktmaß. Manchmal schreibt man auch einfach µ1 ⊗ µ2 , wenn klar ist, dass man nicht nur den Produktinhalt meint, sondern schon seine Fortsetzung zu einem Maß. Hinweise: Man kann nat¨ urlich die Reihenfolge der Faktoren des cartesischen Produkts Ωi vertauschen. Der Satz liefert somit insbesondere die Vertauschbarkeit der Reihenfolge ¨ der Integrationen. Altere Lehrb¨ ucher vermeiden den Begriff des Produktintegrals. Sie nennen den Satz von der Vertauschbarkeit der Integrationsreihenfolge der Satz von Fubini genannt. Die Mathematiker des 19. Jahrhunderts k¨ampften deswegen mit der Frage der Vertauschbarkeit, weil sie sich gelegentlich (auf dem Weg u ¨ber iterierte Integrale) auch um Integration von Funktionen hR bem¨ uhen wollten,R f¨ ur die der Positivteil und der Negativteil unendliches Integral haben. h+ dρ = +∞ = Rh− dρ. ∞ sin x Man versuchte beispielsweise die Formel dx = π2 mit den Mitteln einer 0 x Integrationstheorie zu rechtfertigen. Die damals ins Auge gefassten Ans¨atze zu einer Verallgemeinerung des Integralbegriffs haben sich als nicht tragf¨ahig erwiesen. ‘Uneigentliche Integrale’ und ‘bedingt integrable Funktionen’ gibt es nicht in der modernen Integrationstheorie. Viele (teilweise sehr ansprechende) Formeln mit Integralen, welche die ‘Integrationstheorie’ des 19. Jahrhunderts zu behandeln versuchte, m¨ ussen in der modernen Integrationstheorie als Limiten von Integralen gedeutet und mit der gebotenen Vorsicht behandelt werden. Fazit: Wenn man bei den Integranden f bleibt, f¨ ur welche f + und f − endliches Integral haben, dann gibt es keine Probleme mit dem iterierten Integrieren. Wir pr¨asentieren ‘Beispiele’ verschiedener Art. Das erste ist v¨ollig unproblematisch. Das zweite stellt eine problematische Situation gegen einen Zusammenhang, der aufgrund von Erfahrungen mit expliziten Rechenbeispielen von vielen ‘Anwendern’ als unproblematisch empfunden wird. Gemeint ist die sog. Fourier-Inversionsformel.  sei h(ω) ≥ 0 messbar auf dem Maßraum Ω, A, µ . Die bekannte Formel RBeispiel 3.4.1. Es R∞ h(ω) dµ(ω) = 0 µ(h >Ry) dy kann man sehr einfach mit dem Satz von Fubini herleiten: ∞ Wir schreiben h(ω) = 0 1{h(ω)>y} dy und erhalten Z Z Z ∞ h(ω) dµ(ω) = 1{h(ω)>y} dy dµ(ω) = µ(h > y) dy. 0

Beispiel 3.4.2. F¨ ur integrable Funktionen auf der reellen Achse F (·), g(·) definiert man Z Z 1 itx e−itx g(t) dt. f (t) = e F (x) dx, G(x) = 2π Unter gewissen Umst¨anden kann mit dem Satz von Fubini bewiesen werden Z Z 1 f¯(t) · g(t) dt = F¯ (x) · G(x) dx. 2π @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Mengenalgebren, Maße und Integration

Integrationstheorie

g(t) · F¯ (x) produktintegrabel ist, dann gilt Z  Z Z 1 1 −itx ¯ ¯ dt g(t) · e F (x) dx = f(t) · g(t) dt = 2π 2π Z  ZZ Z 1 1 −itx −itx = dt g(t) · F¯ (x) e dx dt = dx F¯ (x) g(t) · e dt = 2π 2π Z = dx F¯ (x) · G(x).

Wenn n¨amlich

Der Satz von Fubini f¨ uhrt nicht zum Ziel, wenn man die Fourier-Inversionsformel beweisen will. Die Inversionsformel besagt f¨ ur ‘gute’ F (·): Z Z 1 itx f (t) = e F (x) dx =⇒ F (x) = e−itx f (t) dt 2π Wenn man einfach einsetzt, erh¨alt man  Z Z Z 1 1 ity −itx −itx e F (y) dy = e f (t) dt = dte 2π 2π Z  ZZ Z 1 1 it(y−x) itz dt dy e F (y) =? = F (x + z) · e dt dz =? = F (x). ?= 2π 2π

Welche Funktionen F (·) die guten sind, und wie man die Inversionsformel beweist, werden wir sp¨ater kl¨aren. Wir erinnern noch an einige expliziten Formeln, die aus der Anf¨anger-Vorlesung bekannt sein sollten: Beispiel. Z 1 −|t| 1 f (t) = e , F (x) = e−itx f (t) dt = π1 · 1+x 2; 2π Z Z −|t| 1 eitx F (x) dx = eitx π1 · 1+x ; 2 dx = e Z ∞ 2 2 + 1 , F (x) = 2π dt = 21 1 − |x| e−itx sint f (t) = sint t t 2 Z −∞  + 2 sint = eitx 12 1 − |x| dx. t 2  2 gσ (t) = exp − σ2 (t21 + · · · + t2p ) ; Z p    1 p 1 · exp − 2σ12 (x21 + · · · + x2p ) , Gσ (x) = 2π e−itx gε (t) dt = √2πσ Z eitx Gσ (x) dx = gσ (t).

Wir bemerken: Gσ (x) dx heisst die Dichte der p-dimensionalen Normalverteilung mit der Covarianzmatrix σ 2 · I (auf dem Raum der reellen p-Spalten). Die Funktion gσ (t) auf dem Raum der reellen p-Zeilen heisst ihre charakteristische Funktion. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

3.5 : Gleichheit µ-fast¨ uberall

3.5

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Gleichheit µ-fastu ¨ berall

 Es sei Ω, A, µ ein Maßraum. Eine numerische Funktion f (ω) heisst bekanntlich A¯ ∈A messbar, wenn {ω : f (ω) > y} A-messbar ist f¨ ur alle y. Und das bedeutet {f ∈ B} ¯ ¯ ¯ f¨ ur alle B in der von den Intervallen erzeugten σ-Algebra B u ¨ber R = R ∪ {+∞, −∞}. Wir betrachten die Menge F aller A-messbaren numerischen Funktionen. Es handelt sich um einen σ-vollst¨andigen Verband; f¨ ur jede Folge (fn )n existieren Supremum und Infimum. Es gilt n¨amlich [ \ {sup fn > y} = {fn > y}, {inf fn ≥ y} = {fn ≥ y}.

Messbare numerische Funktionen heissen µ-fast¨ uberall gleich, wenn µ{ω : f (ω) 6= g(ω)} = 0. Messbare Mengen A, B heissen gleich bis auf eine Nullmenge, wenn die Indikatorfunktionen fast¨ uberall gleich sind. Das heisst, wenn µ(A △ B) = 0. Man sagt, f sei µ-fast¨ uberall kleinergleich g, und man notiert f ≤ g µ-fast¨ uberall, wenn µ{ω : f (ω) > g(ω)} = 0. Dies ist genau dann der Fall, wenn {f > y} \ {g > y} eine Nullmenge ist f¨ ur alle y. Das ergibt sich aus [ {f (ω) > r ≥ g(ω)}. {ω : f (ω) > g(ω)} = r∈Q

Wenn f µ-fast¨ uberall kleinergleich g ist, dann notieren wir auch f ≤µ g. Die Menge der  ¨ Aquivalenzklassen F, =µ ist ein σ-vollst¨andiger Verband. Wenn n¨amlich fn =µ gn f¨ ur alle n ∈ N, dann gilt sup fn =µ sup gn und inf fn =µ inf gn . F¨ ur jede Folge (fn )n in F, =µ sind der obere Limes f = lim sup fn und der untere Limes ¨ Wir sagen, dass die Folge µ-fast¨ uberall f = lim inf fn wohldefinierte Aquivalenzklassen. gegen f konvergiert, wenn lim  inf fn =µ lim sup fn =µ f . Ein Element f ∈ F, =µ wird eine µ-fast¨ uberall endliche Funktion genannt, wenn ein Repr¨asentant existiert, der nur endliche Werte annimmt. Die Menge aller µ-fast¨ uberall endlichen Funktionen ist ein Vektorraum. Ein Element f ∈ F, =µ heisst wesentlich beschr¨ankt (‘essentially bounded’ im Englischen), wenn eine Zahl M existiert, sodass µ{|f | > M} = 0; das Infimum der Werte M mit dieser Eigenschaft heisst die Supremumsnorm von f und wird mit kf k∞ bezeichnet. Es handelt sich wirklich um eine Vektorraumnorm: kf k∞ = 0 gilt genau dann, wenn f eine Nullfunktion ist, wenn also f ausserhalb einer µ-Nullmenge verschwindet. Es gilt kc · f k∞ = |c| · kf k∞ f¨ ur alle c ∈ R. Und k · k ist subadditiv: kf + gk∞ ≤ kf k∞ + kgk∞. Der ¨ mit k · k∞ normierte Vektorraum der Aquivalenzklassen wesentlich beschr¨ankter Funk ∞ tionen wird mit L Ω, A, µ bezeichnet. Ein Element f ∈ F, =µ heisst µ-integrabel, R ¨ wenn kf k1 = |f | dµ < ∞. Der mit k · k1 normierte Vektorraum der Aquivalenzklassen  1 integrabler Funktionen wird mit L Ω, A, µ bezeichnet.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

28

Mengenalgebren, Maße und Integration

Integrationstheorie

Ru ¨ckblick: Wir haben in diesem Kapitel 3 alle Argumente herausgearbeitet, die eine Rolle spielen in einem Satz, welcher vielen Lehrb¨ uchern als einer der Haupts¨atze der Maßtheorie gilt. Satz 3.5.1 (Satz von der eindeutigen Fortsetzbarkeit eines Pr¨amaßes). Es sei R ein Mengenring ¨uber der Grundmenge Ω, und A die von ihm erzeugte σ-Algebra. Zu jedem Pr¨amaß ρ˜ auf R existiert eine Fortsetzung zu einem Maß auf A. Die Fortsetzung ist eindeutig bestimmt auf dem σ-Ring derjenigen A-Mengen A, die sich mit abz¨ahlbar vielen R-Mengen ¨uberdecken lassen. F¨ur diese Mengen A gilt µ(A) = inf

X

ρ˜(Ai ) : A ⊆

∞ [

Ai ,

¨ wobei das Infimum ¨uber alle abz¨ahlbaren Uberdeckungen zu erstrecken ist. Beweis. Wir wiederholen nochmals in K¨urze die Beweisschritte: Beim Existenzbeweis st¨utzen wir uns auf die Fortsetzungsidee von Daniell. ˜ auf dem Stone’schen Vektorverband 1) Das Pr¨amaß ρ˜ liefert ein Elementarintegral I(·) der R-Treppenfunktionen. F¨ur eine Daniell-integrable Indikatorfunktion 1A gilt ! ∞ N ∞ ∞ [ [ [  X ∗ I (1A ) = inf lim ↑ ρ˜ Ai : Ai ⊃ A = inf ρ(Ai ) : Ai ⊃ A ; N

1

1

denn bei den aufsteigenden Folgen von Elementarfunktionen, die ¨uber 1A hinauswachsen, k¨onnen wir uns auf die aufsteigenden Folgen von Indikatorfunktionen beschr¨anken. Wir k¨onnen auch annehmen, dass die Ai paarweise disjunkt sind. 2)Die Mengen A, f¨ur welche 1A Daniell-integrabel ist, nennen wir Daniell-summierbare Mengen. Eine Daniell-summierbare Menge ist nicht notwendigerweise A-messbar; sie unterscheidet sich aber nur um eine Nullmenge von einer A-Menge. Die Gesamtheit der Daniell-summierbaren Mengen ist ein Mengenring Rf . Nach dem Satz von der monotonen Konvergenz gilt weiter A1 ⊆ A2 ⊆ · · · ∈ Rf ,



lim ↑ I (An ) < ∞ =⇒ A∞ :=

∞ [

An ∈ Rf ,

I ∗ (1An ) ր I ∗ (A∞ ).

3) Wir erhalten ein Maß µ(·), wenn wir den A-messbaren Daniell-summablen Mengen A den Wert µ(A) = I ∗ (1A ) zuordnen und den ¨ubrigen A-messbaren Mengen den Wert ∞.PWenn AP n paarweise disjunkte A-messbare Daniell-summable Mengen sind, dann gilt µ( An ) = µ(An ). Wenn eine Vereinigung von abz¨ahlbar vielen A-Mengen nicht mit abz¨ahlbar vielen R-Mengen u ¨berdeckt werden kann, dann l¨asst sich mindestens eine nicht mit abz¨ahlbar vielen R-Mengen ¨uberdecken. Hinweis: Manche Lehrb¨ ucher lassen bei den Pr¨amaßen auch den Wert +∞ zu. Der Fortsetzungssatz ist bei diesen Konventionen nat¨ urlich etwas anders zu formulieren. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

4.1 : H¨olders Ungleichung und die p-Normen

4

29

Die R¨ aume Lp(Ω, A, µ), Fourier-Integrale

Wir erinnern an einige Begriffsbildungen aus der elementaren Vektorraumtheorie: Ein (reeller oder komplexer) Vektorraum V wird zu einem normierten Vektorraum, indem man eine Norm k · k auszeichnet. Eine Seminorm ist eine nichtnegative Funktion N(·) auf V , welche subadditiv und ‘absoluthomogen’ ist. N(v + w) ≤ N(v) + N(w),

N(c · v) = |c| · N(v) f¨ ur alle Skalare c.

Eine Seminorm, die nur im Nullvektor den Wert 0 annimmt, heisst eine Norm. Ein normierter Vektorraum wird auch ein Pr¨a-Banachraum genannt. Eine Linearform auf einem normierten Vektorraum heisst eine stetige Linearform, wenn sie auf der Einheitskugel beschr¨ankt ist. Der Vektorraum aller stetigen Linearformen auf (V, k · k) heisst der (topologische) Dualraum und wird mit V ′ bezeichnet. Die duale Norm  V ∗ ∋ ℓ 7−→ kℓk = sup |ℓ(v)| : kvk ≤ 1

macht den Dualraum V ′ zu einem normierten Vektorraum, Ein normierter Vektorraum wird zu einem metrischen Raum, wenn man den Abstand zweier Vektoren als die Norm der Differenz definiert: d(v, w) = kw − vk. Jeden metrischen Raum kann man vervollst¨andigen; in der Standardinterpretation versteht man die Punkte ¨ des vervollst¨andigten Raums als die Aquivalenzklassen von Cauchy-Folgen. Ein vervollst¨andigter normierter Vektorraum ist selbst ein normierter Vektorraum, wenn man die Norm stetig fortsetzt. Ein vollst¨andiger normierter Vektorraum wird ein Banachraum genannt. Ein (Pr¨a)-Banachraum heisst ein (Pr¨a)-Hilbertraum, wenn die Norm die sog. Parallelogramm-Gleichung erf¨ ullt kv + wk2 + kv − wk2 = 2kvk2 + 2kwk2 . Beispiel 4.0.1. Es sei Vtrig der komplexe Vektorraum der trigonometrischen Polynome X X  ak cos kt + bk sin kt f (t) = cn · eint = 21 a0 + k=1

Wir machen ihn zu einem Pr¨a-Hilbert-Raum, indem wir festlegen Z 2π X 2 1 |f (t|2 dt = |cn |2 . kvk = 2π 0

Mittels der Integrationstheorie werden wir zwei interessante Darstellungen der Vektoren im vervollst¨andigten Raum finden: Eine Darstellung durch quadratsummable Folgen und eine Darstellung durch quadratintegrable 2π-periodische Funktionen. Den Zusammenhang zwischen den beiden Darstellungen beschreibt die Theorie der Fourier-Reihen.— Wir werden dieses Beispiel immer wieder in den Blick nehmen. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

Die R¨aume Lp (Ω, A, µ), Fourier-Integrale

30

4.1

Integrationstheorie

Ho ¨lders Ungleichung und die p-Normen

 Definition 4.1. Es sei Ω, A, µ ein Maßraum und p ∈ (1, ∞). R ¨ Eine Aquivalenzklasse messbarer Funktionen f heisst p-integrabel bzgl. µ, wenn |f |p dµ < ∞. F¨ ur solche f definiert man die p-Norm Np (f ) = kf kp =

Z

p

|f | dµ

1/p

Wir zeigen, dass k · kp in der Tat eine Norm auf dem Vektorraum  der p-integrablen p Funktionen ist. Dieser normierte Vektorraum wird mit L Ω, A, µ bezeichnet. (Wir unterdr¨ ucken im Folgenden den Hinweis, dass es sich bei den Elementen der p ¨ R¨aume L nicht um Funktionen handelt, sondern um Aquivalenzklassen. Wir sprechen von den p-integrablen Funktionen oder manchmal auch von den p-summablen Funktionen.) Satz 4.1.1 (Die H¨older’sche Ungleichung). Es sei h p-integrabel, und k q-integrabel mit 1/p + 1/q = 1. Das Produkt ist dann integrabel und es gilt Z |h · k| dµ ≤ Np (h) · Nq (k).

h·k

F¨ur jedes h ∈ Lp existiert ein k ∈ Lq , sodass Z h · k dµ = Np (h) · Nq (k). Beweis. Es gen¨ugt, den Fall Np (h) = 1 = Nq (k) zu behandeln. Bekanntlich gilt a1/p · b1/q ≤ p1 · a + 1q · b. f¨ur alle a, b ≥ 0. Angewandt auf die Funktionen a = |h|p , b = |k|q erhalten wir |h · k| ≤ p1 · |h|p + 1q · |k|q . Und die Integration liefert die erste Behauptung. ˜ = 1 und wegen Zu h mit Np (h) = 1 assoziieren wir zun¨achst k˜ = |h|p/q . Es gilt Nq (k) 1 1 1 p q 1/p 1/q ˜ q. ˜ ˜ a = |h| = |k| = b haben wir |h| · |k| = a · b = p · a + q · b = p · |h|p + 1q · |k| ˜ −iφ , das Verlangte. Wenn h = |h|eiφ , dann leistet k = |k|e Die Aussage des Satzes kann man kurz auch so ausdr¨ ucken: F¨ ur h ∈ Lp ist Z  Np (h) = sup h · k dµ : Nq (k) ≤ 1 .

 das Supremum des Absolutbetrags einer Linearform hh, ·i auf der Einheitskugel k : Nq (k) ≤ 1 . F¨ ur die Summe hh1 + h2 , ·i ist das Supremum h¨ochstens gleich der Summe der Suprema. Damit haben wir die Subadditivit¨at des Funktionals Np (·); und das liefert den @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

4.1 : H¨olders Ungleichung und die p-Normen

31

Satz 4.1.2 (Die Ungleichung von Minkowski). Die p-Norm k · k∞ = Np (·) macht den  p Raum der p-integrablen L Ω, A, µ zu einem normierten Vektorraum. Es gilt kf + gkp ≤ kf kp + kgkp

Satz 4.1.3. Sei µ ein W- Maß und h eine nichtnegative Funktion. Die Norm khkp ist dann ansteigend als Funktion von p ∈ [1, ∞). Der Limes f¨ur p → ∞ ist das wesentliche Supremum , oder = +∞, wenn h nicht wesentlich beschr¨ankt ist. Beweis. Wenn |k|r integrabel ist f¨ur ein r > 1 ist, dann ergibt sich aus der H¨older’schen R R r 1/r Ungleichung |k| dµ ≤ kkkr = |k| dµ Wir wenden die Ungleichung auf k = |h|p an und erhalten Z 1/r Z 1/rp Z p pr pr |h| dµ ≤ |h| dµ ; khkp ≤ |h| dµ = khkrp . R Es sei mε = µ(h > M − ε) > 0 Es gilt dann hp dµ ≥ mε · (M − ε)p . Es gilt (mε )1/p → 1 und lim inf p→∞ khkp ≥ M − ε. Mit der abnehmenden Funktion F¯h (t) = µ(h > t) auf R+ haben wir Z Z ∞ p h dµ = F¯h (t) · ptp−1 dt : denn 0

R

R µ(h > t1/p ) dt = µ(h > s) psp−1ds. F¯h (t) verschwindet R 1/p R M p−1 1/p f¨ur t > M. Wegen F¯h (0) ≤ 1 haben wir F¯h (t) · ptp−1 dt ≤ 0 pt dt = M. hp dµ =

R

µ(hp > t) dt =

R

Betrachten wir auf der anderen Seite ein unendliches Maß µ auf einer diskreten σAlgebra wie z. B. das Z¨ahlmaß u die Anzahl der Punkte im B. ¨ ber Z. µ(B) ist hier alsoP Eine Funktion f auf Z heisst eine p-summable Folge, wenn |f (n)|p < ∞. F¨ ur p ∈ [1, ∞) p wird der Raum ℓ P (Z) der p-summablen Folgen zu einem normierten Raum, wenn man p definiert: kf kp = |f (n)|p . Eine p-summable Folge ist offenbar auch p′ -summabel f¨ ur ′ alle p > p. Die R¨aume ℓp (Z) werden gr¨oßer, wenn p w¨achst. Auf einem allgemeinen unendlichen Maßraum gibt es keine derartigen Inklusionen f¨ ur  die R¨aume Lp Ω, A, µ . F¨ ur eine nichtnegative Funktion h kann die Fl¨ache unter der Kurve F¯h (t) ptp−1 aus zwei Gr¨ unden unendlich sein: F¯h (t) ptp−1 kann f¨ ur t → ∞ zu langsam abfallen, oder f¨ ur t ց 0 zu schnell ansteigen. Wir werden beweisen, dass die R¨aume Lp vollst¨andig sind und dass f¨ ur 1/p + 1/q = 1 L der Dualraum von Lq ist, dass es also ausser den Linearformen hh, ·i keine stetigen Linearformen auf dem Raum Lq gibt. Die Vollst¨andigkeit beweisen wir im n¨achsten Unterabschnitt; den Beweis der zweiten Behauptung m¨ ussen wir auf einen sp¨ateren Abschnitt verschieben, den Abschnitt, der sich mit totalstetigen Maßen befasst. p

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

32

4.2

Die R¨aume Lp (Ω, A, µ), Fourier-Integrale

Integrationstheorie

Vollst¨ andigkeit, Konvergenzs¨ atze

Wir betrachten zuerst einen besonders durchsichtigen Fall. Beispiel. Es sei µ das Z¨ahlmaß auf der σ-Algebra aller Teilmengen P der Grundmenge Ω = Z. Die p-integrablen Funktionen f sind die p-summablen Folgen: ω∈Z |f (ω)|p < ∞. Der Vektorraum lp (Z) dieser ’Folgen’ wird (wegen der Ungleichung von Minkowski) zu einem  P p 1/p normierten Vektorraum vermittels der Norm kf kp = |f (ω)| . Warum sollte ω∈Z (n) nun dieser normierte Vektorraum vollst¨andig sein? Wenn (f )n∈N eine Cauchy-Folge ist, dann suchen wir zuerst ein f (∞) , welches als Limes in Frage k¨ame. Die Eigenschaft einer Cauchy-Folge (im ℓp -Sinn) impliziert offensichtlich die punktweise Konvergenz; und die Limiten in den Punkten ω liefern eine ‘Funktion’, deren p-Summabilit¨at bewiesen werden muß. Anschliessend muß dann aber auch noch bewiesen werden, dass die Folge (f (n) )n∈N nicht nur punktweise, sondern auch in der p-Norm gegen f (∞) konvergiert. F¨ ur den ersten Schritt ben¨ utzen wir das Lemma von Fatou, angewandt auf die Folge der nichtnegativen Funktionen |f (n) (·)|p , die punktweise gegen |f (∞) (·)|p konvergieren: X X |f (∞) (ω)|p ≤ lim inf |f (n) (ω)|p = lim inf kf (n) kpp < ∞. ω

ω

Wir w¨ahlen N so groß, dass kf (n) − f (m) kp < ε f¨ ur alle m, n ≥ N. F¨ ur jedes m ≥ N liefert uns das Lemma von Fatou beim Grenz¨ ubergang n → ∞ Z Z (m) (∞) p (m) (∞) p kf − f kp = |f − f | dµ ≤ lim inf |f (m) − f (n) |p dµ < εp . n

Im allgemeinen Fall kostet es etwas M¨ uhe, einen Kandidaten f (∞) ausfindig zu machen, gegen welchen die Cauchy-Folge konvergieren sollte. Wir finden einen solchen, indem wir eine Teilfolge finden, welche µ-fast u ¨berall konvergiert. Wir brauchen Vorbereitungen:

Satz 4.2.1 (Lemma von Borel-Cantelli). P Sind A1 , A2 , . . . messbare Mengen mit µ(An ) < ∞, so ist die Menge N aller derjenigen ω, die in unendlichvielen An liegen,eine Nullmenge. T S Beweis. Man nennt N den P Limes superior der Mengenfolge; denn N = m n≥m An . Andererseits ist hm (ω) = n≥m 1An (ω) dieR Anzahl derjenigen n ≥ m, f¨ur welche An den P Punkt ω enth¨alt. Aus µ(An ) < ∞ folgt hm dµ ց 0. ! [ X µ(N) = lim ↓ µ An ≤ lim ↓ µ(An ) = 0 m

n≥m

m

n≥m

Satz 4.2.2 (Kriterium f¨ ur fastsichere Konvergenz).  Eine Folge (fn )n im Raum der messbaren FunktionenPu µ ist fastsicher kon¨ber (Ω, A, P vergent, wenn Zahlenfolgen αn , βn > 0 existieren mit n αn < ∞, n βn < ∞ und   (n+1) (n) µ ω : |f < βn . (ω) − f (ω)| ≥ αn @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

4.2 : Vollst¨andigkeit, Konvergenzs¨atze

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Beweis. Nach dem Lemma von Borel-Cantelli gilt f¨ur fast alle ω: F¨ur nur endlichviele n gilt |f (n+1) (ω) − f (n) (ω)| ≥ αn . Wenn wir also eine Nullmenge ausschliessen, dann ist f¨ur die u ¨brigen ω die Zahlenfolge (f (n) (ω))n eine Cauchy-Folge. Sie besitzt einen Limes f (∞) (ω) und f (∞) (·) ist A-messbar. R Satz 4.2.3. Wenn f¨ur p-integrable Funktionen gilt |hn − h|p dµ → 0, dann gilt  ∀ε, α > 0 ∃ N : ∀n ≥ N µ {ω : |hn − h| ≥ α} < ε, |hn − h|p ≥ αp · 1{|hn −h|≥α} Z  1 µ {ω : |hn − h| ≥ α} ≤ αp · |hn − h|p dµ.

Beweis (Markov-Ungleichung).

 p Satz 4.2.4. Es sei (hn )n eine Cauchy-Folge im Raum L Ω, A, µ ; P P und es seien αk , βk > 0 mit k αk < ∞, k βk < ∞.  Es existiert dann eine Teilfolge (fk )k = (hn(k) )k mit µ {ω : |fk+1 − fk | ≥ αk } < βk ; und die Folge (fk )k konvergiert fast¨uberall gegen eine p-integrable Funktion f (∞) . R Beweis. Wir w¨ahlen n1 so, dass f¨ur alle m ≥ n1 Rgilt |hm − hn1 |p dµ < α1p · β1 . Wir w¨ahlen n2 > n1 so, dass f¨ur alle m ≥ n2 gilt |hm − hn2 |p dµ < α2p · β2 . Wenn wir so fortfahren, erhalten wir eine Teilfolge (fk )k , welche das Kriterium f¨ur Konvergenz fast¨uberall erf¨ullt. Die p-Integrabilit¨at von |hN − f (∞)| und damit von f (∞) ergibt sich aus dem Lemma von Fatou. R R F¨ur gen¨ugend großes N ergibt sich sogar |hN − f (∞) |p dµ ≤ lim inf k |hN − hnk )|p dµ < ε. So sehen wir, dass die Folge auch in der p-Norm gegen f (∞) konvergiert. Die Vollst¨andigkeit des Raums Lp ist bewiesen. ˜ ein Elementarintegral auf einem Stone’schen VektorverBemerkungen: Es sei I(·) ˜ u ˜ ˜ ˜ ˜ band E ¨ber Ω. Das Integral  des Absolutbetrags f 7→ kfk1 = I(|f|) ist eine Seminorm ˜ Man kann E, ˜ k · k1 (wie jeden normierten Vektorraum) vervollst¨andigen. Unsere auf E. ¨ Konstruktionen zeigen: Die Elemente der Vervollst¨andigung kann man als die Aquivalenzklassen der Daniell-integrablen Funktionen beschreiben. (Bei den Repr¨asentanten kann man sich auf solche Funktion beschr¨anken, die messbar sind bzgl. der σ-Algebra, die von ˜ den Mengen {ω : f(ω) > 0} erzeugt ist.) ˜ auf dem Stone’schen ¨ Die Uberlegung passt insbesondere auf das Cauchy-Integral I(·) Vektorverband der stetigen Funktionen mit kompaktem Tr¨ager u ¨ber dem Raum Rd . Die Vervollst¨andigung f¨ uhrt zum Banachraum L1 (Rd , B, λ(·)) der Lebesgue-integrablen Funktionen. Es sei ρ ein Pr¨amaß auf einem Mengenring R u ¨ber Ω. Der Raum der elementaren ˜ Treppenfunktionen ur jedes p ∈ [1, ∞) ist q ist ein Stone’scher Vektorverband E, und f¨ p ˜ f˜|p ) eine Seminorm. Die Vervollst¨andigung f¨ f˜ 7→ kf˜kp = I(| uhrt zum Banachraum Lp (Ω, A, µ), wo A die von R erzeugte σ-Algebra ist und µ die Fortsetzung des Pr¨amaßes ρ auf A. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die R¨aume Lp (Ω, A, µ), Fourier-Integrale

Integrationstheorie

Konvergenz der Integralwerte und Fastu ¨berall-Konvergenz Das Integral ist ein lineares Funktional auf dem Vektorraum der integrablen Funktionen. ¨ (Die Elemente des Definitionsbereichs sind eigentlich nicht Funktionen, sondern Aquiva¨ lenzklassen; die Aquivalenzrelation ist aber f¨ ur alle p dieselbe.) Das Integral I(·) ist auf 1 der Einheitskugel des L beschr¨ankt. Wenn das zugrundeliegende Maß ein endliches Maß ist, dann ergibt sich aus der H¨older’schen Ungleichung, dass I(·) auch auf den Einheitskugeln der p-Normen beschr¨ankt ist. I(·) ist hier also stetig bzgl. aller p-Normen. F¨ ur die p L u ¨ber einem unendlichen Maß µ gilt kein solcher Satz. Wir diskutieren im Folgenden etwas genauer die alte und wichtige Frage, unter welchen Umst¨anden man ‘unter dem Integralzeichen’ zum Limes gehen darf: Z Z ? fn dµ − → lim fn dµ. Hier kommt es nat¨ urlich zuerst einmal ganz wesentlich darauf an, in welchem Sinne die Funktionenfolge (fn )n gegen die Grenzfunktion f konvergiert. Eine bemerkenswerte, wenngleich aus vielen Gr¨ unden merkw¨ urdige Konvergenz ist die Fast¨ uberall-Konvergenz. F¨ ur numerische Funktionen kann man sie so beschreiben fn → f f. u ¨ ⇐⇒ lim sup fn = f = lim inf fn

f. u ¨.

Hier gilt nun ein vielbenutzter Satz, welcher der Satz von der dominierten (oder majorisierten) Konvergenz genannt wird: Satz 4.2.5 (Satz von der majorisierten Konvergenz). Es sei f = lim fn µ-fast¨uberall. Wenn R nun eineR µ-integrable Funktion h existiert, sodass |fn | ≤ h f¨ur alle n, dann gilt limn fn dµ = f dµ.

Beweis. Das Lemma von Fatou wird angewendet auf die Funktionenfolgen (fn + h)n und (h − fn )n . Es ergibt sich Z Z Z Z (f + h) dµ ≤ lim inf (fn + h) dµ, (h − f ) dµ ≤ lim inf (h − fn ) dµ. Aus

R

f ≤ lim inf fn ,

R

f ≥ lim sup fn ergibt sich

R

fn →

R

f.

Satz 4.2.6 (Normkonvergenz und Integralkonvergenz). f ∈RLp . Sie konvergiert genau Die Folge p-integrabler (fn )n konvergiere fast u ¨berall R gegen dann auch in der p-Norm, kfn − f kp → 0, wenn |fn |p dµ → |f |p dµ.

Beweis. Die eine Richtung ist offensichtlich: Aus dem Lemma von Fatou ergibt sich n¨amlich kf kp ≤ lim inf kfn kp . Mit der Minkowski-Ungleichung kfn kp ≤ kf kp + kfn − f kp , ergibt sichR kf kp ≥ lim R sup kfn kp aus kfn − f kp → 0. Aus der Konvergenz in der p-Norm folgt also |fn |p → |f |p . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

4.2 : Vollst¨andigkeit, Konvergenzs¨atze

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Die einfachste Version der nichttrivialen Richtung ist bekannt unter dem Namen ‘Satz von Scheff´e’: Wenn die integrablen nichtnegativen fn fast¨uberall gegen die FunkR R R integrable tion f konvergieren, dann impliziert fn → f die Normkonvergenz fn − f → 0. In der Tat gilt zun¨achst einmal |fn − f | = fn \ fR + f \ fn = R f + fn −R2 · fn ∧ Rf. Nach dem RSatz von der majorisierten Konvergenz gilt fn ∧ f → f . Aus fn → f folgt also |fn − f | → 0. F¨ur den allgemeinen Fall m¨ussen wir einen Begriff heranziehen, der an verschiedenen Stellen der Vorlesung eine Rolle spielen wird, den Begriff der gleichgradigen Integrierbar¨ keit. Wir stellen den Beweis zur¨uck und begn¨ugen uns hier auf ein paar einfache Uberlegungen, welche zeigen, dass man sich auf Folgen nichtnegativer p-integrabler Funktionen beschr¨anken kann. Trivialerweise gilt fn → f fast ¨u.

⇐⇒

fn+ → f + fast ¨u.

und fn− → f − fast ¨u..

kfn+ − f + kp → 0,

und kfn− − f − kp → 0.

Auf der anderen Seite zeigen wir kfn − f kp → 0 ⇐⇒

F¨ur den Beweis st¨utzen wir uns auf die Absch¨atzung 21−p · |fn − f |p ≤ |fn+ − fn+ |p + |fn− − fn− |p Dort, wo die Funktionen verschiedenes Vorzeichen haben, ist die Absch¨atzung eine Konsequenz der H¨older’schen Ungleichung |a + b|p ≤ (ap + bp ) · 2p/q . Mit derselben H¨olderUngleichung sehen wir p p 21−p |fn − f |p ≤ fn \ f + f \ fn

Das Integral des zweiten Summanden strebt nach 0 nach dem Satz von der majorisierten Konvergenz. Was jetzt noch fehlt, ist der Beweis des folgenden Satzes: p Funktionen, die fast¨uberall gegen f konvergieren mit R pSindRfn pnichtnegativeR p-integrable fn \ f → 0. fn → f . Dann gilt Auch die folgende Versch¨arfung des Satzes von der dominierten Konvergenz st¨ utzt sich auf den Begriff der gleichgradigen Integrierbarkeit. Definition 4.2 integrierbar).  (Gleichgradig Eine Familie fα : α ∈ I heisst gleichgradig µ-integrierbar, wenn supα |fα | dµ < ∞ und Z ∀ε > 0 ∃gε µ-integrabel : ∀α |fα | dµ < ε. {|fα |>gε }

Im Folgenden wird es bequem sein, sich nur mit nichtnegativen Funktionen zu befassen; die Formeln werden  durchsichtiger. Eine Familie f : α ∈ I α   ist offenbar genau dann gleichgradig integrierbar, wenn die Familien fα+ : α ∈ I und fα− : α ∈ I gleichgradig integrierbar sind. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die R¨aume Lp (Ω, A, µ), Fourier-Integrale

Integrationstheorie

Satz 4.2.7. Konvergiert eine gleichgradig integrierbare Folge (fn )n µ-fastsicher, so konvergieren die Integrale gegen das Integral der Grenzfunktion. Umgekehrt: Wenn eine Funktionenfolge im L1 -Sinn konvergiert, dann ist sie gleichgradig integrierbar. Kurz gesagt: F¨ur eine fast¨uberall konvergierende Folge integrabler Funktionen ist die gleichm¨aßige Integrierbarkeit notwendig und hinreichend f¨ur die L1 -Konvergenz. Beweis. Wir beschr¨anken uns auf nichtnegative fn . R R Sei f = lim fn f. ¨u. Das Lemma von Fatou liefert f ≤ lim inf fn . Wenn die Folge gleichgradig integrierbar ist, dann liefert der Satz von Rder majorisierten Konvergenz, anR gewandt auf Rdie Funktionenfolge (f ∧ g ) , lim sup f ≤ ε + f . Wir haben n¨amlich n ε n n R wegen fn ≤ {fn >gε } fn + fn ∧ gε lim sup

Z

fn



ε+

Z

f ∧ gε



ε+

Z

f.

F¨ur den Beweis der gleichgradigen Integrierbarkeit einer L1 -konvergenten Folge ben¨otigen wir einige Vorbereitungen. Wir haben bereits gesehen, dass jede Teilfolge einer L1 konvergenten Folge , kfn − f k1 → 0, eine Teilfolge besitzt, die fast¨uberall gegen f konvergiert. Betrachten wir entlang einer solchen Teilfolge die Funktionen gk = fnk · 1{fnk ≤2f } . Diese Funktionenfolge konvergiert f. ¨u. gegen f . Nach dem Lemma von Fatou gilt also Z Z Z Z  f ≤ lim inf fnk − fnk · 1{fn >2f } = f − lim sup fnk . {fn >2f }

R Die Zahlenfolge an = {fn >2f } fn hat also die Eigenschaft, dass jede Teilfolge eine Teilfolge besitzt, die nach 0 konvergiert. Die Folge (an )n ist daher eine Nullfolge. Daraus folgt aufgrund des folgenden Lemma die gleichgradige Integrierbarkeit. R integrierbar, Lemma. Eine Folge (fn )n mit supn |f | < ∞ ist genau dann gleichgradig R wenn zu jedem ε > 0 ein integrierbares gε existiert, sodass lim sup {|fn |≥gε } |fn | < ε. R Beweis. Wenn {|fn |≥gε} |fn | < ε f¨ur alle n ≥ N, dann gilt f¨ur die integrable Funktion R g˜ε = gε + |f1 | + · · · + |fN | die gew¨ unschte Absch¨atzung {|fn |≥˜gε } |fn | < ε f¨ur alle n. Wir formulieren (ohne Beweis) die entsprechende Aussage f¨ ur die Konvergenz in der p-Norm.   Satz 4.2.8. Es sei Ω, A, µ ein σ-endlicher Raum und (fn )n eine Folge in Lp Ω, A, µ mit supn kf kp < ∞, die µ-fast¨uberall gegen die Funktion f konvergiert. Es gilt kfn −f kp → 0 genau dann, wenn eine p-integrable Funktion g existiert, sodass gilt Z ∀ε > 0∃C |fn |p dµ < ε. {fn >Cg}

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4.2 : Vollst¨andigkeit, Konvergenzs¨atze

37

Wa es mit der hier angesprochenen gleichgradigen p-Integrierbarkeit auf sich hat, werden wir im Abschnitt u uhrlich diskutieren. ¨ ber gleichgradige Totalstetigkeit ausf¨ Die Integration komplexwertiger Funktionen Bei unseren Konstruktionen im vorigen Kapitel haben wir die Ordnung der (erweiterten) reellen Achse ernsthaft ben¨ utzt. Viele Resultate k¨onnen dann aber auch auf die komplexen Vektorr¨aume Lp Ω, A, µ ¨ u derjenigen komplexwertigen ¨bertragen werden. Ihre Elemente sind die Aquivalenzklassen Funktionen, f¨ ur welche der Real- und der Imagin¨arteil p-integrable Funktionen sind. Z Z Z Z p (f + ig) dµ = f dµ + i · g dµ; kf + igkp = |f + ig|p dµ.   Die komplexen Lp Ω, A, µ sind komplexe Banachr¨aume; der komplexe L2 Ω, A, µ ist ein Hilbertraum.

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38

4.3

Die R¨aume Lp (Ω, A, µ), Fourier-Integrale

Integrationstheorie

Diverse Funktionenr¨ aume u ¨ ber der Gruppe R/2π.

Es existiert genau ein translationsinvariantes Borel’sches W-Maß λ(·) auf der Gruppe R/2π. Man nennt es das normierte Haar-Maß. Das dazugeh¨orige Integral I(·) liefert f¨ ur die stetigen 2π-periodischen Funktionen f (·) den Wert Z Z 1 I(f ) = f dλ = 2π f (t) dt, wobei das letztere Integral u ¨ber eine volle Periode zu erstrecken ist. Die Notation erinnert an die Verwandtschaft von λ(·) mit dem Lebesgue-Integral auf dem Intervall [0, 2π]. Wir wollen in diesem Unterabschnitt einige normierte Vektorr¨aume 2π-periodischer Funktionen etwas n¨aher diskutieren. Stetige 2π-periodische Funktionen und trigonometrische Polynome In der elementaren Analysis (beispielsweise beim Satz von Stone-Weierstraß) betrachtet  manchmal den mit der Supremumsnorm k · kausgestatteten Raum C ′ [0, 2π] derjenigen stetigen Funktionen auf [0, 2π], die im Anfangspunkt denselben Wert haben wie im Endpunkt. Dieser Raum ist nichts anderes als der Raum der stetigen 2π-periodischen Funktionen. Er hat sowohl die Struktur eines Vektorverbandes als auch die Struktur einer Algebra (mit der punktweisen Multiplikation). Es gilt kf · gk∞ ≤ kf k∞ · kgk∞. Wegen der Vollst¨andigkeit der Algebra spricht man von einer Banachalgebra. Eine interessante Teilalgebra ist der Raum der trigonometrischen Polynome. ! ! X X X X ak · bn−k. cn eint mit cn = bl eilt = ak eikt · k

l

n

k

Die punktweise Multiplikation l¨asst sich auch als die Faltung der Koeffizientenfolgen beschreiben. Jede stetige 2π-periodische Funktion f (·) l¨asst sich (nach dem Satz von StoneWeierstrass) durch trigonometrische Polynome gleichm¨aßig (also in der Supremumsnorm) approximieren. Neben der Supremumsnorm wollen wir nun auch die p-Normen auf dem Raum der trigonometrischen Polynome betrachten; und wir werden die Elemente aus der Vervollst¨andigung diskutieren.  Die R¨ aume Lp R/2π, B, λ Es handelt sich (streng genommen) nicht wirklich um Funktionenr¨aume; die Elemen¨ te sind Aquivalenzklassen von 2π-periodischen Borel-messbaren Funktionen. Jeder der R¨aume mit 1 ≤ p < ∞ ergibt sich als eine Vervollst¨andigung gewinnen, z. B. als die Vervollst¨andigung des Raums der trigonometrischen Funktionen (mit rationalen Koeffizienten). Die R¨aume Lp werden immer kleiner, wenn p ansteigt; der Raum L1 ist der gr¨oßte. Quadratsummable trigometrische Reihen. Die 2-Norm auf dem Raum der trigonometrischen Funktionen kann man sehr bequem durch die Koeffizienten beschreiben X X |cn |2 f¨ ur f (t) = cn eint . kf k22 = @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

4.3 : Diverse Funktionenr¨aume u ¨ ber der Gruppe R/2π.

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Dies Formel l¨asst sich aufPden vervollst¨andigten Raum L2 ausdehnen: Jedes f ∈ L2 besitzt eine Darstellung f (t) = cn eint , wo die Summation im Sinne des quadratischen Mittels zur verstehen ist. Das soll heissen Zu jedem ε > 0 existiert ein N, sodass ur jede zu {−N, −N + 1, . . . , N − 1, N} dispP P f¨ int 2 junkte (endliche) Indexmenge J gilt k n∈J cn e k2 = n∈J |cn | < ε. 2 Die Koeffizienten in der Darstellung von f ∈ L als trigonometrischeRReihe sind eindeutig 1 e−int dt. bestimmt. Wie bei den trigonometrischen Polynomen gilt cn = 2π

Die Erweiterung der Faltung Ein weiterer normierterP Raum 2π-periodischer Funktionen P ist der Raum A der Funktionen ikt a e mit der Norm kf k = |ak |. Es handelt sich um eine von der Gestalt f (t) = ∞ A −∞ k Vervollst¨andigung der Algebra der trigonometrischen Polynome. Das punktweise Produkt solcher Funktionen liegt wieder im Raum A und es gilt kf · gkA ≤ kf kA · kgkA. Man nennt die f ∈ A manchmal die absolutkonvergenten trigonometrischen Reihen. Ob diese Ausdrucksweise gl¨ ucklich ist, darf allerdings bezweifelt werden; die Symbole eint dienen nur der notationellen Bequemlichkeit; die Interpretation als Funktionen ist irrelevant. Inhaltlich geht es um den Raum ℓ1 (Z) der 1−summablen Folgen, der durch die Faltung zu einem kommutativen Ring mit Einselement wird. In der Stochastik interessiert man sich f¨ ur eine konvexe Teilmenge, P die Menge der W-Gewichtungen. Die nichtnegativen Koeffizientenfolgen (ak )k∈Z mit  ak = 1 entsprechen den W-maßen auf Z. Den Raum L1 R/2π, B, λ kann man zu einem kommutativen Ring (ohne Einselement) machen, indem man die Faltung als Multiplikation einf¨ uhrt: Z f ∗ g = h ⇐⇒ h(t) = f (s) · g(t − s) ds λ-fast u ¨berall

(Das Integral ist u ¨ber eine Periode zu erstrecken.) Die reellwertigen Elemente f sollte man als die bzgl. λ totalstetigen signierten Maße auf R/2π verstehen. — Der Begriff des (bzgl. eines Maßes µ) totalstetigen Maßes soll sp¨ater er¨ortert werden. Die trigonometrischen Reihen sind irrelevant f¨ ur das Studium der 2π-periodischen Funktionen von dieser Art. Einige merkwu ¨rdige trigonometrische Reihen Die 2π-periodische Funktion E(·) mit Werten E(t) = π − t im Intervall (0, 2π) heisst die Euler’sche S¨agezahnfunktion . Es handelt sich um eine reellwertige ungerade Funktion mit Spr¨ ungen der H¨ohe 2π in den Positionen k · 2π. Sie ist quadratintegrabel und kann daher durch eine trigonometrische Reihe dargestellt werden. Man rechnet leicht nach Z ∞ X 1 1 bk sin kt mit bk = E(t) = E(t) sin kt dt = . π k k=1 Das approximierende trigonometrische Polynom vom Grad ≤ N hat die Ableitung ′ EN (t)

=2·

N X 1

cos kt =

N X −N

eikt − 1 = DN (t) − 1,

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40

Die R¨aume Lp (Ω, A, µ), Fourier-Integrale

Integrationstheorie

P int wo DN (t) = N der Dirichlet-Kern der Ordnung N genannt wird. Aus dieser Folge −N e (DN )N gewinnt man die Folge der Fej´er-Kerne. FN =

 X 1 D0 + D1 + · · · + DN −1 = 1− N

|k| N

+

eik(·)

Diese Funktionen kann man auch elementar geschlossen darstellen — man muss nur geometrische Reihen summieren. Satz 4.3.1. DN (t) =

eit/2 − e−it/2

FN (t) =

eit/2 − e−it/2

−1

−1



sin(N + 1/2)t . sin t/2  2 N −1  1 sin Nt/2 1 X i(N +1/2)t −i(N +1/2)t e −e = . N −N +1 N sin t/2

· ei(N +1/2)t − e−i(N +1/2)t

=

Sprechweise. Wenn f eine integrable 2π-periodische Funktion ist, dann nennen wir Z 1 fN (t) = 2π f (t − s) FN (s) ds die mit dem N-ten Fej´er-Kern gegl¨attete Funktion. Rπ 1 F (t) dt = 1; Es ist wichtig, zu bemerken, dass die Fej´er-Kerne positiv sind mit 2π −π N und die Masse ist (f¨ ur große N) auf eine kleine R Umgebung der 0 konzentriert. Die DirichletKerne haben zwar ebenfalls das Integral DN dλ = 1; sie sind aber nicht positiv und daher nicht geeignet f¨ ur die Gl¨attung. Dennoch sind die mit DN gefalteten Funktionen von Interesse. Es gilt n¨amlich der P ikt Satz 4.3.2. Ist f ein trigonometrisches Polynom, f (t) = K −K ak e , so gilt pN (t) =

1 2π

Z

f (t − s) DN (s) ds =

K∧N X

ak eikt

−K∧N

Beweis. F¨ur n ∈ N bezeichne en die Funktion en (t) = eint . Es gilt en ∗ em = 0 f¨ur n 6= m und = 1 f¨ur n = m. Die Faltung mit dem N-ten Dirichlet-Kern projiziert den Vektorraum aller trigonometrischen Polynome auf den Raum der trigonometrischen Polynome vom Grad ≤ N. Die Gl¨attung mit den Fej´er-Kernen liefert f¨ ur jedes integrable f eine Folge von trigonometrischen Polynomen (fN ). Und man kann fragen, f¨ ur welche Funktionen f diese Folge (in irgendeinem Sinn) die Funktion approximiert. Ber¨ uhmte Untersuchungen dieser Art haben P. L. Dirichlet (1805- 1859) und L. Fej´er (1880- 1959) angestellt. Wir wollen darauf aber hier nicht weiter eingehen. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

4.3 : Diverse Funktionenr¨aume u ¨ ber der Gruppe R/2π.

41

Schlussbemerkung u ¨ber trigonometrische Reihen.  Man kann zwar jeder integrablen 2π-periodischen Funktion f ∈ L1 R/2π, B, λ die Folge R 1 der Fourier-Koeffizienten cn P = 2π e−int · f (t) dt zuordnen, und man dann eine ‘formale Fourier-Reihe’ anschreiben: cn · eint ; aber man kann solchen Reihen allenfalls mit großer M¨ uhe einen guten Sinn geben, wenn die Koeffizientenfolge nicht quadrat-summabel ist. — Hier ist nicht der Platz, um u uberaus schwer zu beweisenden) Resultate zur ¨ber die (¨ Fast¨ uberallkonvergenz solcher Reihen f¨ ur f ∈ L1+δ zu berichten.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

42

4.4

Die R¨aume Lp (Ω, A, µ), Fourier-Integrale

Integrationstheorie

Fourier-Integrale und Fourier-Transformation

Auf der Gruppe Rd gibt es ein σ-endliches translationsinvariantes Borelmaß; es ist bis auf eine Konstante eindeutig bestimmt. Man w¨ahlt eine Normierung und nennt dieses Maß dann das d-dimensionale Lebesgue-Maß. Im Folgenden unterscheiden wir den Raum RdSp der d-Zeilen vom Raum RdSp der d-Spalten. F¨ ur x ∈ RdSp , t ∈ RdSp ist das ‘MatrizenProdukt’ t · x eine reelle Zahl, die wir auch mit ht , xi bezeichnen. Definition (Das Fourier-Integral). F¨ ur die Funktion ϕ(t) ∈ L1 ∩ L2 heisst die Funktion Z  1 d f (x) = 2π · e−itx ϕ(t) dt das Fourier-Integral zu ϕ(·).

F¨ ur eine Funktion h(x) ∈ L1 ∩ L2 heisst die Funktion Z χ(t) = eitx h(x) dx das inverse Fourier-Integral zu h(·). Wir notieren h = F (ϕ) und χ = F −1(h).

 1 d Konvention: Die Konventionen um den Faktor 2π variieren in den Lehrb¨ uchern. Unsere Konvention orientiert sich an dem Vorbild der Fourier-Reihen. F¨ eine quadratRur−int 1 integrable 2π-periodische Funktion ϕ(t) nennen wir die Folge cn = 2π e ϕ(t) P dt die Fourier-Folge zu ϕ(·). F¨ ur eine quadratsummable Folge (cn )n nennen wir χ(t) = cn eint die Fourier-Reihe zu (cn )n . Wenn man einmal davon absieht, dass die Summation der Reihe P im L2 -Sinn zu verstehen ist und nur dann eine Integration ist, wenn |cn | < ∞ dann ist die Bildung der Fourier-Reihe zur Folge (cn )n die inverse Operation zur Berechnung der Fourier-Folge. Warnung: Die Konstruktion der Fourier-Integrale kann man als das kontinuierliche Analogon zur Bildung der Fourier-Reihen verstehen. Dabei ist aber zu beachten, dass das Fourier-Integral h(·) zu einer Funktion χ(·) ∈ L1 ∩ L2 nicht immer integrabel ist, dass R itx also e h(x) dx f¨ ur manche χ(·) nicht definiert ist. F¨ ur diejenigen χ(·) f¨ ur welche das Fourier-Integral auf eine im Unendlichen schnell abfallende Funktion h(·) f¨ uhrt, ist die Rede von der Inversen berechtigt, wie wir sehen werden. Satz 4.4.1 (‘Lemma von Riemann-Lebesgue’). Jedes Fourier-Integral verschwindet im Unendlichen:

limkxk→∞

R

e−itx ϕ(t) dt = 0.

Beweis. Es gen¨ugt, den Satz f¨ur die Elemente einer Im L1 -Sinn dichte Funktionenmenge zu beweisen. Geeignet sind z. B. die Indikatorfunktionen der elementaren Rechtecke f (t) = 1R (t) = 1[a1 ,b1 ) (t1 ) · · · · · 1[ap ,bp ) (tp ) zu beweisen. Jede integrable Funktion kann in der L1 -Norm durch Linearkombinationen solcher Funktionen approximiert werden. F¨ur @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

4.4 : Fourier-Integrale und Fourier-Transformation

43

R ein r(t) mit |r(t)| dt ≤ ε ist die  Fourier-Transformierte eine gleichm¨aßig stetige Funk1 p tion R(x) mit supx |R(x)| ≤ 2π ε. Beginnen wir mit den Intervallen auf R : F¨ur a < b und c = 21 (a + b), h = 12 (b − a) gilt 1 2π

Z

−itx

e

1[a,b) (t) dt =

1 −icx e 2π

Z

h

e−iux du = −h

1 −icx e 2π

· 2h ·

sin(hx) . hx

Diese Funktionen konvergieren nach 0 f¨ur x → ±∞, allerdings nicht schnell genug, um Lebesgue-integrabel zu sein. F¨ur den d-dimensionalen Fall bemerken wir: ϕ(t1 , . . . , td ) = ϕ1 (t1 ) · · · · · ϕd (td ) =⇒ F (ϕ)(x1 , . . . , xd ) = F (ϕ1)(x1 ) · · · · · F (ϕd )(xd ). Das inverse Fourier-Integral kann man f¨ ur jede integrierbare Funktion f (x) definieren; f¨ ur Funktionen, die nicht auch quadratintegrabel sind, liefert das Fourier-Integral jedoch einen Typ Funktionen, der wohl in der Stochastik, nicht aber in der klassischen FourierAnalyse betrachtet wird. Wir formulieren f¨ ur solche ‘Integral-Transformierte’ dennoch einen Satz, einen Satz, der in der sog. Theorie der charakteristischen Funktionen eine Erweiterung erf¨ahrt: Satz 4.4.2. Das inverse Fourier-Integral macht aus jeder Lebesgue-integrablen Funktion auf dem Spaltenraum RdSp eine gleichm¨aßig stetige Funktion auf dem Zeilenraum RdZ . Diese verschwindet im Unendlichen. Die gleichm¨aßige Stetigkeit werden wir unten beweisen. Zielsetzung: Die Fourier-Transformation und ihre Inverse Man kann die Bildung des Fourier-Integrals fortsetzen auf den gesamten Hilbertraum L2 . Diese Fortsetzung heisst die Fourier-Transformation. Die Fourier-Transformation bildet den Raum der quadrat-integrablen Funktionen auf RdZ isometrisch und surjektiv auf den Raum der quadrat-integrablen Funktionen auf RdSp , und die Umkehrabbildung ist die stetige Fortsetzung des `ınversen Fourier-Integrals. Dies gilt es zu beweisen. Beispiel. Die Dichte der eindimensionalen Standard-Normalverteilung ist bekanntlich h(x) = √12π exp(− 21 x2 ). Es gilt χ(t) =

Z

itx

e

h(x) dx =

exp(− 21 t2 )

h(x) =

1 2π

Z

e−itx χ(t) dx.

Es sei Q eine positivdefinite d × d-Matrix mit det Q = 1, und C = Q−1 die Inverse. F¨ ur d  die gauss’sche Dichte g(x) = √12π exp(− 12 xT Qx) gilt dann χ(t) =

Z

itx

e

g(x) dx =

exp(− 21 tCtT )

g(x) =

 1 d 2π

Z

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

e−itx χ(t) dx.

44

Die R¨aume Lp (Ω, A, µ), Fourier-Integrale

Integrationstheorie

Lemma. F¨ur jedes integrable ϕ(·) liefert das Fourier-Integral eine gleichm¨aßig stetige Funktion  R −itx 1 p f (x) = 2π · e ϕ(t) dt.  R 1 d ¨ Beweis. Der Ubersichtlichkeit halber nehmen wir an 2π · |ϕ(t)| dt = 1. Wir w¨ahlen  R d 1 · {|t|≤R} |ϕ(t)| dt < ε/2. Und wir w¨ahlen δ > 0 so klein , dass R so groß, dass 2π ity e − 1 ≤ ε/2 f¨ur |y| ≤ δ, |t| ≤ R.

Es gilt dann f (x + y) − f (x) ≤

 1 d 2π

·

R −it(x+y) e − e−itx ϕ(t) dt < ε.

Satz 4.4.3 (Faltung und punktweise Multiplikation).  R 1 d ϕ(s) · ψ(t − s) ds. Es gilt dann Es seien ϕ, ψ ∈ L1 (RdZ ) , und χ(t) = 2π F (χ) = F (ϕ) · F (ψ). R Es seien f, g ∈ L1 (RdSp ) , und h(x) = f (y) · g(x − y) dy. Es gilt dann F −1 (h) = F −1 (f ) · F −1 (g).

Beweis. Im Beweis ben¨otigen wir S¨atze u ¨ber Doppelintegrale bzw. iterierte Integrale, die mit dem Satz von Fubini behandelt werden k¨onnen. In manchen Situationen (allerdings nicht bei der Fourierinversion) erlaubt der Satz von Fubini die Vertauschung der Reihenfolge von Integrationen. Z Z Z Z   −itx 1 2d 1 d e χ(t) dt = 2π e−i(t−s)x · e−isx ϕ(s)ψ(t − s) ds dt = f (x) · g(x). 2π

Die zweite Aussage bedarf keines separaten Beweises.  d 1 Beispiel 4.4.1. Es sei gσ (y) = √2πσ exp(− 2σ12 y T · y), und f (x) integrabel. 2 R F¨ ur die Funktion hσ (x) = f (x − y) · gσ (y) dy gilt dann F −1 (hσ )(t) = F −1 (f )(t) · exp(− 21 σ 2 ktk2 )

Die Funktion χσ (t) = F −1 (hσ )(t) ist f¨ ur alle σ integrabel und auch quadratintegrabel. F¨ ur kleine σ ist χσ in einer großen Kugel {ktk ≤ R} nahe an der gleichm¨aßig stetigen beschr¨ankten Funktion χ0 = F −1(f ), (die nicht notwendigerweise integrabel ist.) Satz 4.4.4 (L2 -Isometrie zum Fourier-Integral). Es sei ϕ(t) ∈ L1 ∩ L2 so dass f (x) = F (ϕ)(x) ∈ L1 ∩ L2 . Es gilt dann Z Z  1 p ϕ(t) 2 dt = f (x) 2 dx. 2π @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

4.4 : Fourier-Integrale und Fourier-Transformation

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Beweis. Aus typographischen Gr¨ unden bezeichnen wir die zu f komplex konjugierte Funk∗ tion mit ϕ statt mit ϕ. ¯ Wir haben also |ϕ|2 = ϕ∗ · ϕ. Wir zeigen die (auf den ersten Blick) etwas allgemeinere Gleichheit Z Z  −1 ∗ 1 d f = F (ϕ), ψ = F (g) =⇒ 2π ϕ (t) · ψ(t) dt = f (x)∗ · g(x) dx,

f¨ur Funktionen ϕ, g, die sowohl integrabel als auch quadratintegrabel sind. Der Satz von Fubini kann angewendet werden auf das Doppelintegral Z Z  1 d ϕ∗ (t) · eit·x · g(x) dx dt. 2π

Wenn wir zuerst nach x integrieren, erhalten wir den Ausdruck auf der linken Seite der behaupteten Wenn wir zuerst nach t integrieren, dann m¨ussen wir beachten,  R Gleichheit. 1 p ∗ it·x ϕ (t) · e dt die komplex konjugierte Funktion zur Fourier-Transformierten dass 2π von ϕ ist. Wir fassen die Definitionen und Einsichten nochmals zusammen. Satz 4.4.5 (Fourier-Transformation). Die durch das Fourier-Integral gegebene Abbildung wird eingeschr¨ankt auf den Teilraum derjenigen integrablen Funktionen, die auch quadratintegrabel sind und dann L2 -stetig fortgesetzt auf den Raum aller quadratintegrablen ϕ. Diese isometrische Bijektion   F : L2 RpZ −→ L2 RpSp

heisst die Fourier-Transformation. Auf dem Raum der Funktionen auf dem Spaltenraum, die sowohl integrabel als auch quadratintegrabel sind liefert das inverse Fourier-Integral tats¨achlich die Umkehrabbildung.

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46

Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

Integrationstheorie

5

Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

R Zu einem bestimmten Integral I(f ) = f (ω) dµ(ω) geh¨oren ein Integrand f (·) und ein ¨ Integrator dµ(·). Die Integranden sind (bei uns hier) Aquivalenzklassen messbarer Funktionen. Die Integratoren sind (bei uns hier) σ-additive Mengenfunktionen auf einer σAlgebra A. Das Resultat der Integration von f bzgl. µ ist eine reelle Zahl. Wir werden uns in diesem Abschnitt auch um sog. unbestimmteRIntegrale bem¨ uhen; R hier wird der Integrationsbereich als eine Variable gesehen: A 7−→ A f (ω) dµ(ω) = 1A · f (ω) dµ(ω) ist eine Mengenfunktion auf dem Mengensystem A.

5.1

Die Ladungsverteilungen auf einem Mengenring Ω, R



Wir interessieren uns f¨ ur R¨aume von Maßen auf einem messbaren Raum. Wir holen aber weiter aus: Das ausgezeichnete Mengensystem A u ¨ber Ω darf zun¨achst einmal auch ein Mengenring sein.Und die σ-Additivit¨at bringen wir erst sp¨ater ins Spiel. Wir besch¨aftigen uns mit endlichwertigen additiven Mengenfunktionen auf dem Mengenring A. Definition 5.1. Eine nichtnegative additive Mengenfunktion auf einem Mengenring A heisst ein Inhalt; eine additive Mengenfunktion, die sich als Differenz zweier Inhalte darstellen l¨asst, heisst eine Ladungsverteilung.  Die Menge aller Ladungsverteilungen auf Ω, A ist ein partiell geordneter Vektorraum; die Menge der Inhalte ist der positive Kegel in diesem Vektorraum. Wenn eine Ladungsverteilung ‘punktweise’ gr¨oßer oder gleich als eine andere, dann ist die Differenz ein Inhalt ist. Dies alles ergibt sich aus dem folgenden Satz 5.1.1 (Verbandsoperationen). Zu jedem Paar von Inhalten ρ1 , ρ2 existiert ein gr¨oßter Inhalt drunter µ = ρ1 ∧ ρ2 und ein kleinster Inhalt dr¨uber ν = ρ1 ∨ ρ2 . Es gilt ρ1 ∧ ρ2 + ρ1 ∨ ρ2 = ρ1 + ρ2 . Beweis. Ein penibel durchgef¨uhrter Beweis braucht recht viele (nicht durchwegs interessante) Zeilen. Wir begn¨ugen uns mit der Pr¨asentation der entscheidenden Gedanken. Wir konstruieren f¨ur A ∈ A X X µ(A) = inf min{ρ1 (Ai ), ρ2 (Ai )} , ν(A) = sup max{ρ1 (Ai ), ρ2 (Ai )} i

wobei die Extrema ¨uber alle endlichen A-Partitionen der Menge A zu erstrecken P Psind. Ist Z : Ai = A eine Partition von A, so gilt f¨ur jede Verfeinerung Z′ : Bj = A X X min{ρ1 (Bj ), ρ2 (Bj )} ≤ min{ρ1 (Ai ), ρ2 (Ai )}; X X max{ρ1 (Bj ), ρ2 (Bj )} ≥ max{ρ1 (Ai ), ρ2 (Ai )}; @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

 5.1 : Die Ladungsverteilungen auf einem Mengenring Ω, R

47

und Addition ergibt ρ1 (A) + ρ2 (A). F¨ur reelle Zahlen c, d gilt n¨amlich offenbar c ∧ d + c ∨ d = c + d sowie (c1 + c2 ) ∧ (d1 + d2 ) ≥ c1 ∧ d1 + c2 ∧ d2 ;

(c1 + c2 ) ∨ (d1 + d2 ) ≤ c1 ∨ d1 + c2 ∨ d2 .

µ(·) und ν(·) sind additive Mengenfunktionen, also Inhalte, mit der Summe ρ1 + ρ2 . µ liegt unter ρ1 und unter ρ2 . P F¨ur jeden Inhalt ρ(·), der unter ρ1 (·) und ρ2 (·) gilt ρ(A) ≤ min{ρ1 (Ai ), ρ2 (Ai )} f¨ur jede Partition von A. Es gilt also ρ ≤ µ. Der hier konstruierte Inhalt µ ist also tats¨achlich das Minimum von ρ1 und ρ2 ; und es ist legitim, zu notieren µ = ρ1 ∧ ρ2 . Analog findet man ν = ρ1 ∨ ρ2 . Bemerkung: Wenn σ1 und σ2 Ladungsverteilungen sind, dann liefert unsere Konstruktion das Minimum σ1 ∧ σ2 und das Maximum σ1 ∨ σ2 . Wenn man jedoch allgemeinere additive Mengenfunktionen zul¨asst, dann ist nicht gesichert, dass die Infimums -(oder Supremums)-bildung auf endliche Werte f¨ uhrt. Offensichtlich gilt der Satz 5.1.2 (Jordan-Zerlegung einer Ladungsverteilung). Es sei σ(·) eine Ladungsverteilung und  X σ + (A) = σ ∨ 0 (A) = sup max{σ(Ai ), 0)} , i

wo das Supremum ¨uber alle endlichen A-Partitionen der Menge A zu erstrecken ist. Dann gilt mit σ − = (−σ) ∨ 0 = −(σ ∧ 0). σ = σ+ − σ− , Sind ρ1 , ρ2 Inhalte mit

σ + ∧ σ − = 0.

σ = ρ1 − ρ2 , so existiert ein Inhalt ρ, sodass ρ2 = σ − + ρ.

ρ1 = σ + + ρ,

Definition 5.2. Wenn σ eine Ladungsverteilung ist, dann heisst der Inhalt σ + der Positivteil und der Inhalt σ − der Negativteil von σ. Die Summe σ + + σ − = σ ∨ (−σ) wird manchmal die Schwankung von σ genannt und mit |σ|(·)bezeichnet. Der Wert sup{|σ|(A) : A ∈ A} (der auch +∞ sein kann) heisst die Gesamtschwankung oder die Totalvariation des Ladungsverteilung. Satz 5.1.3. F¨ur jedes A gilt σ + (A) = sup

X i

σ − (A) = sup

X i

σ(Ai ) :

X

−σ(Ai ) :

 Ai ⊆ A = sup σ(A′ ) : A′ ⊆ A

X

 Ai ⊆ A = sup − σ(A′′ ) : A′′ ⊆ A

X X σ|(A) = (σ + + σ − )(A) = sup |σ(Ai )| : Ai = A . i

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48

Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

Integrationstheorie

Beweis. Zur letzten Behauptung bemerken wir: Wir k¨onnen die Partition A = fein w¨ahlen, dass gilt X X σ(Ai )+ ≤ σ + (A) ≤ σ(Ai )+ + ε X X σ(Ai )− ≤ σ − (A) ≤ σ(Ai )− + ε X X  |σ(Ai)| ≤ σ + + σ − (A) ≤ |σ(Ai )| + 2ε

P

Ai so

Zu jedem gegebenen A existiert zu jedem ε > 0 eine Zerlegung A = A′ + A′′ , sodass σ + (A′′ ) + σ − (A′ ) < ε. Darauf kommen wir nochmals bei der Hahn-Zerlegung zu sprechen. Satz 5.1.4 (Totalvariationsnorm). Die Gesamtheit der Ladungsverteilungen mit endlicher Gesamtschwankung ist ein normierter Vektorraum mit der Totalvariationsnorm kσkT V = sup{|σ|(A) : A ∈ A}. Die Totalvariation eingeschr¨ankt auf den Verbandskegel der beschr¨ankten Inhalte ist ein additives Funktional. Beweis. Wir m¨ussen die Subadditivit¨ at beweisen: P Es kσ + τ kT V ≤ σ + τ (A) + ε, und die Partition A = Ai so fein, dass sei A so, dass P σ + τ (A) − ε ≤ |(σ + τ )(Ai )|. Es gilt dann kσ + τ kT V − 2ε ≤

X

|σ(Ai )| +

X

|τ (Ai )| ≤ kσkT V | + kτ kT V

Beispiel 5.1.1. Es sei A der Mengenring u ¨ber Ω = R oder u ¨ber Ω = Q, der von den beschr¨ankten halboffenen Intervallen (a, b] erzeugt wird. (Seine Elemente sind bekanntlich die disjunkten Vereinigungen solcher Intervalle.) Es sei G(·) eine Funktion beschr¨ankter Schwankung auf R. Wir erhalten eine Ladungsverteilung mit endlicher  Totalvariation σ(·), wenn wir den Intervallen den Zuwachs von G(·) zuordnen: σ (a, b] = G(b) − G(a) (und diese Mengenfunktion in additiver Weise auf den Mengenring der disjunkten Vereinigungen fortsetzen.) Die ‘Verteilungsfunktion’ G(·) ist durch die Mengenfunktion σ bist auf eine additive Konstante eindeutig bestimmt. Die Totalvariation kσkT V ist die Gesamtschwankung der ‘Verteilungsfunktion’ G(·). Wenn G(·) monoton steigend ist, dann ist ρ ein Inhalt. Jede Darstellung der Ladungsverteilung σ als Differenz zweier Inhalte σ = ρ1 − ρ2 entspricht einer Darstellung der Verteilungsfunktion als Differenz zweier monoton ansteigender Funktionen. F¨ ur die speziellen Darstellung σ = σ + − σ − ergeben sich monotone Funktionen, deren Gesamtschwankungen sich zur Gesamtschwankung der Verteilungsfunktion aufsummieren. Die Inhalte σ + und σ − sind genau dann Pr¨amaße, wenn die Verteilungsfunktion G(·) rechtsstetig ist. Die Notwendigkeit der Rechtsstetigkeit ist klar: Die Mengenfolge (a, a+ n1 ] konvergiert absteigend gegen die leere Menge. Dass die Rechtsstetigkeit auch hinreichend ist, ist nicht so leicht zu sehen. Man muß tiefer in die Theorie eindringen, etwa mit der Fortsetzungsidee von Daniell. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

 5.1 : Die Ladungsverteilungen auf einem Mengenring Ω, R

49

Wir wenden uns der σ-Additivit¨at zu. Die Pr¨amaße sind spezielle Inhalte. Die Differenzen von Pr¨amaßen nennt man auch signierte Pr¨amaße. Satz 5.1.5 (σ-additiver Anteil). Zu jedem Inhalt ρ existiert ein gr¨oßtes Pr¨amaß drunter, genannt der σ-additive Anteil von ρ. Beweis. Es sei ρ(·) ein Inhalt auf (Ω, A). Wir setzen f¨ur jedes A im Mengenring A ρσ (A) = inf

X

ρ(Ai ) :

∞ X

Ai = A

wo das Infimum ¨uber alle abz¨ahlbaren Partitionen der Menge A zu erstrecken ist. P Wie oben bei den finiten Partitionen gilt auch hier, dass sich die Summen ρ(Ai ) bei Verfeinerungen verkleinern. ρσ (·) ist σ-additiv in dem Sinn: Wenn (Cj )j eine P∞ Folge paarweise disjunkter P Elemente der Mengenalgebra ist, deren Vereinigung C = 1 Cj in A liegt, dann gilt ρσ (Cj ) = ρσ (C). Da unsere Inhalte und Pr¨amaße endlichwertig sind, ist diese σ-Additivit¨at ¨aquivalent zur absteigenden Stetigkeit in ∅: ρ(C) −

∞ X 1

ρ(Cj ) = ρ(C) − lim ρ( N

N X 1

Cj ) = lim ↓ ρ C \

Offenbar gilt: Jedes σ-additive Inhalt unter ρ liegt auch unter ρσ .

N X

Ci



Bemerke: Wenn ρ(·) ein Inhalt ist und ρσ (·) das gr¨oßte Pr¨amaß drunter, dann hat der Inhalt δ(·) = ρ(·) − ρσ (·) die P Eigenschaft: Zu jedem A ∈ A und jedem ε > 0 existiert eine abz¨ahlbare Partition A = Ai , sodass δ(Ai ) < ε. Jeder Inhalt, der kleiner ist als ein Pr¨amaß, ist selbst ein Pr¨amaß. Die Summe von Pr¨amaßen ist ein Pr¨amaß. Eine Ladungsverteilung σ ist, die sich als Differenz von Pr¨amaßen darstellen l¨asst, wird manchmal ein signiertes Pr¨amaß genannt; σ + und σ − sind in diesem Falle Pr¨amaße. Wenn eine Folge von Pr¨amaßen mit beschr¨ankter Schwankung in der Totalvariation konvergiert, dann ist der Limes ein Pr¨amaß. Wenn eine Folge von Inhalten ‘punktweise’ konvergiert (ρn (A) → ρ(A) f¨ ur alle A ∈ A), dann ist der Limes ρ(·) ein Inhalt. Wenn die ρn (·) Pr¨amaße sind, dann kann man nicht schliessen, dass auch ρ(·) ein Pr¨amaß ist. Im n¨achsten Unterabschnitt werden wir uns auf die Pr¨amaße konzentrieren. F¨ ur viele Zwecke ist es g¨ unstig oder gar erforderlich, Pr¨amaße zu Maßen fortzusetzen. Dabei m¨ ussen wir dann aber auf den Wert +∞ achten. Man bemerke: Wenn ρ ein Pr¨amaß auf (Ω, A) ist, dann liefert die Einschr¨ankung auf ˜ ∈ A ein beschr¨anktes Pr¨amaß u die Teilmengen einer festen Menge Ω ¨ber der Grundmenge ˜ ˜ Ω; man nennt es manchmal die Spur von ρ auf Ω. Wenn S Ω1 ⊆ Ω2 ⊆ · · · , dann liefert die ˜ Einschr¨ankung von ρ auf die Teilmengen von Ω = Ωn ein Pr¨amaß, welches sich in eindeutiger Weise zu einem σ-endlichen Maß fortsetzen l¨asst. ¨ Wir werden im Folgenden (der Ubersichtlichkeit halber) nur σ-endliche Maßr¨aume betrachten. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

50

5.2

Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

Integrationstheorie

Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym

Wir u ¨ bertragen einige Notationen aus der Welt der Inhalte und Pr¨amaße in die Welt der σ-endlichen Maße. Wenn µ ein σ-endliches Maß ist und ν ein endliches Maß auf (Ω, A) ist, dann notieren wir ν \ µ = (ν − µ)+ = ν − ν ∧ µ. Gelegentlich ben¨ utzen wir auch die + − Notation µ \ν = (µ −ν) = (ν − µ) . Wenn wir diese Notation ben¨ utzen, dann haben wir ν\µ ∧ µ\ν =0 Wir m¨ ussen stets beachten, wo wir es mit beschr¨ankten (Pr¨a)-Maßen zu tun haben, und an welchen Stellen auch σ-endliche (Pr¨a)-Maße zugelassen werden k¨onnen.  Definition 5.3. Zwei σ-endliche Maße µ, ν auf dem messbaren Raum Ω, A nennt man (zueinander) singul¨ar, wenn eine Zerlegung Ω = A + B existiert, sodass µ(B) = 0 = ν(A). Man notiert µ ⊥ ν. Satz 5.2.1 (Hahn-Zerlegung). Auf dem Mengenring R u ˜, ν˜ σ-endliche Pr¨amaße mit µ ˜ ∧ ν˜ = 0. ¨ber Ω seien µ Die Fortsetzungen µ, ν sind dann zueinander singul¨are Maße. µ ⊥ ν. Beweis. Es gen¨ugt, P den Satz f¨ur beschr¨ankte Pr¨amaße zu beweisen. Wenn n¨amlich Ω = Ωn mit µ ˜(Ωn ) < ∞, ν˜(Ωn ) < ∞, dann f¨ugen sich die Zerlegungen der Ωn zusammen zu einer Zerlegung von Ω. Wir erinnern an den Beweis zur Jordan-Zerlegung. Zu jedem ε > 0 existiert eine Partition Ω = Aε + Bε , sodass µ(Bε ) < ε, ν(Aε ) < ε. P Wir w¨ahlen zu jedem εn in einer summablen Folge εn < ∞ eine Zerlegung Ω = An +Bn und betrachten \ [ [ \ Aµ = An ; Aν = Bn = ∁Aµ m n≥m

m n≥m

T

F¨ur jedes m ist n≥m Bn eine µ-Nullmenge, weil das µ-Maß kleiner ist als jedes εn , und Vereinigungen von Nullmengen selbst Nullmengen sind. Nach dem Lemma von BorelCantelli ist Aµ eine ν-Nullmenge. Definition (Totalstetig I). Auf dem Mengenring R u ˜ ¨ber Ω sei ν˜ ein beschr¨ankter und µ ein σ-endliches Pr¨amaß. Man sagt ν˜ sei totalstetig (oder auch absolutstetig) bzgl. µ ˜, und man notiert ν˜ ≪ µ ˜, wenn gilt ν ∧ Cµ ր ν f¨ ur C ↑ ∞. Satz 5.2.2 (Lebesgue-Zerlegung). Es sei ν ein endliches Pr¨amaß und µ ein σ-endliches Pr¨amaß auf dem Mengenring R ¨uber Ω. Es existiert dann eine Zerlegung ν = νa + νs ,

sodass νa ≪ µ,

νs ⊥ µ.

Der ‘absolutstetige Anteil‘ νa und der ‘singul¨are Anteil’ νs sind eindeutig bestimmt. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

5.2 : Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym

51

Beweis. F¨ur C ↑ ∞ betrachten wir die Zerlegungen ν = ν ∧ (Cµ) + ν \ (Cµ). Der erste Summand konvergiert (aufsteigend und in der Totalvariationsnorm) gegen ein absolutstetiges Pr¨amaß. Wir m¨ussen zeigen, dass die νC = ν \ (Cµ) gegen ein Pr¨amaß absteigen, welches zu µ singul¨ar ist. Es gilt νC = νC ∧ µ + νC \ µ = νC ∧ µ + νC+1 . Die Differenz νC − νC+1 strebt (absteigend und in der Totalvariationsnorm) gegen das Nullmaß, q. e. d. Satz 5.2.3 (Totalstetig II). Es seien ν und µ beschr¨ankte Pr¨amaße auf dem Mengenring R. Genau dann ist ν totalstetig bzgl. µ, ν ≪ µ, wenn gilt ∀ε > 0 ∃δ > 0 :

∀R ∈ R

µ(R) < δ =⇒ ν(R) < ε.

Beweis. Sei C so groß. dass kν  \ Cµk < ε/2. F¨ur jedes R mit µ(R) < δ = ν(R) = ν \ Cµ (R) + ν ∧ Cµ (R) < ε/2 + Cµ(R) < ε.

ε 2C

gilt dann

Sei nun lim kν \ (Cµ)k = γ ∗ > 0Wegen ν \ (Cµ) ⊥ (Cµ) \ ν gibt es eine R Zerlegung Ω = A + B, sodass ν \ Cµ (A) + Cµ \ ν (B) = f < 21 γ ∗ . Es gilt   ν(B) = ν \ Cµ (B) + ν ∧ Cµ (B) =    = ν \ Cµ (Ω) − ν \ Cµ (A) + Cµ(B) − Cµ \ ν (B)  ν(B) + f = ν \ Cµ (Ω) + C · µ(B)

Dies ergibt einerseits ν(B) > 21 γ ∗ und andererseits C · µ(B) < ν(B).  Lemma. Ω, A, µ sei ein σ- endlicher Maßraum, und ρ ein σ-endliches Pr¨amaß auf einem Mengenring R, welcher die σ-Algebra A erzeugt. ν sei die eindeutige Fortsetzung von ρ zu einem Maß auf A. Wenn α, β > 0 existieren, sodass ∀ R ∈ R µ(R) < α =⇒ ρ(R) ≤ β, dann gilt auch ∀ A ∈ A µ(A) < α =⇒ ρ(A) ≤ β. P ¨ Beweis. Es sei P A ∈ A mit µ(A) < α − ε, und A ⊂ ∞ Ri eine abz¨ahlbare UberPRN deckung, sodass µ(Ri ) < µ(A) + ε. Wir haben dann f¨ur alle die R-Mengen Ri die Absch¨atzungen N N X X  µ Ri < α und daher ρ( R) ≤ β.

Es folgt

ν(A) ≤

P∞

i

ρ(Ri ) ≤ β.

Mit unserer zweiten Kennzeichnung der Relation ν ≪ µ stellen wir einen Zusammenhang her zu einer bedeutsamen Definition von G. Vitali aus dem Jahr 1905. Dort hat die Idee der Totalstetigkeit ihren ersten Ausdruck gefunden. Bei Vitali ist Absolutstetigkeit eine Bedingung an eine Funktion F auf einem kompakten Intervall, die zum L¨angenmaß in Beziehung gesetzt wird. Dort heisst es @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

52

Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

Integrationstheorie

Definition (G. Vitali). Eine reelle oder komplexwerige Funktion F auf dem Intervall [a, b] heisse absolut stetig, wenn zu jedem ε > 0 ein δ > 0 existiert, sodass X F (bk ) − F (ak ) < ε gilt f¨ ur alle Zerlegungen a ≤ a1 < b1 ≤ a2 < · · · ≤ an < bn ≤ b mit

P

 bk − ak < δ.

Wir bemerken: 1) Es wird bei Vitali nicht angenommen, dass F reellwertig und monoton ist. Realteil und Imagin¨arteil einer absolut stetigen Funktion sind jedoch offenbar Funktionen mit beschr¨ankter Schwankung und lassen sich daher als Differenz von monoton steigenden Funktionen schreiben. 2) Lebesgue, Vitali und andere haben aufgekl¨art, dass die absolute Stetigkeit von F garantiert, dass die Funktion in Lebesgue-fastallen Punkten differenzierbar ist, und dass Rd die Ableitung f = F ′ Lebesgue-integrierbar ist mit c f (t) dt = F (d) − F (c) f¨ ur alle [c, d] ⊆ [a, b]. 3)In vielen Lehrb¨ uchern der Differentialrechnung wird das folgende Resultat aus der Zeit von Lebesgue und Vitali bewiesen: Wenn F (·) eine monotone Funktion ist, dann Rd existiert in Lebesgue-fastallen Punkten die Ableitung f = F ′ und es gilt c f (t) dt ≤ F (d) − F (c) f¨ ur alle [c, d] ⊆ [a, b]. 4) Die punktweise Differenzierbarkeit in Lebegue-fastallen Punkten ist f¨ ur die moderne Integrationstheorie kein wichtiges Thema; sie f¨ uhrt nicht weiter. Wenn wir (in Beispielen) von einer absolutstetigen Funktion F auf einem Intervall [a, b] sprechen, dann meinen wir eine Funktion, die als unbestimmtes Integral einer Lebesgue-integrablen Funktion f gewonnen werden kann. Die Berechtigung liefert der oben angegebene Satz von Vitali, der besagt, dass eine Funktion genau dann absolut stetig ist im obigen Sinn, wenn sie ein unbestimmtes Integral ist. 5) Ein ber¨ uhmtes Beispiel einer im Einheitsintervall stetig ansteigenden Funktion, die nicht absolutstetig ist, ist die Cantor-Funktion. Sie wird folgendermaßen konstruiert. Beispiel (Die Cantor-Funktion). Die Cantor-Funktion C(x) steigt stetig von 0 auf 1 mit C(0) = 0, C(1) = 1. Die Funktion hat Konstanzintervalle in den H¨ohen 2kn , n = 1, 2, . . . ; k(ungerade) = 1, 3, . . . , 2n − 1. Die L¨ange der Konstanzintervalle der n-ten Generation ist ( 31 )n ; diese Konstanzintervalle erf¨ ullen das mittlere Drittel zwischen den Konstanzintervallen der (n − 1)-ten Generation. F¨ ur n = 1, k = 1 F¨ ur n = 2, k = 1, 3 F¨ ur n = 3, k = 1, 3, 5, 7

1 2 1 {x : C(x) = } = 2    3 , 3 , {x : C(x) = 14 } = 19 , 29 , und {x : C(x) = 43 } = 79 , 98 , ................................................

Die Menge D der Endpunkte dieser Intervalle heisst das Cantor’sche Diskontinuum; P∞ aus den Zahlen der Gestalt y = 1 ωi · ( 31 )i mit ωi ∈ {0, 2}. Das Komplement sie besteht  0, 1 − D ist die disjunkte Vereinigung von offenen Intervallen mit der Gesamtl¨ange @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

5.2 : Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym

53

  λ( 0, 1 −D) = 31 +2( 31 )2 +4( 13 )3 +· · · = 1. Das Cantor’sche Diskontinuum ist eine LebegueNullmenge. Das Stieltjes-Maß zur Cantorfunktion ist auf das Cantor’sche Diskontinuum konzentriert.— Wir haben hier also ein nichttriviales Beispiel f¨ ur eine Hahn-Zerlegung.  Wir fixieren jetzt einen σ-endlicher Maßraum Ω, A, µ und betrachten endliche Maße ν auf A, und manchmal auch signierte Maße σ = σ + − σ − . Definition 5.4 (Unbestimmtes Integral). Wenn h integrabel ist, dann definiert man das unbestimmte Integral als die Mengenfunktion Z Z ν : A ∋ A 7−→ ν(A) = 1A (ω) · h(ω) dµ = h. A

Man schreibt

dν = h · dµ oder auch

dν(ω) = h(ω) · dµ(ω).

Bemerke: Unbestimmte Integrale sind σ-additive Mengenfunktionen. Wenn h ≥ 0, dann ist das unbestimmte Integral ein endliches Maß. Die σ-Additivit¨at ergibt sich aus dem Satz von der monotonen Konvergenz. Wenn h auch negative Werte annimmt, dann ist das unbestimmte Integral ein signiertes Maß σ, und die Zerlegung h = h+ − h− liefert die Darstellung σ = σ + − σ − mit σ + ∧ σ − = 0. Die Punktfunktion h ist durch die Mengenfunktion ν µ-fast¨ uberall eindeutig bestimmt. Man notiert dν µ-fast¨ uberall; h= dµ und man nennt die L1 -Funktion h die Radon-Nikodym-Dichte von ν bzgl, µ. Satz 5.2.4 (Stetigkeitsmodul). Es sei h ≥ 0 integrabel und ν das unbestimmte Integral. Es existiert dann eine Funktion β(·) auf R+ mit limα→0 β(α) = 0, sodass µ(B) < α =⇒ ν(B) ≤ β(α).  Beweis. Es sei H(y) = ν {ω : h(ω) > y} . Wir zeigen Z ∞  sup ν(A) : µ(A) < α ≤ α ∧ H(y) dy. 0

(Man nennt die absteigende Funktion H(·) manchmal die komplement¨are Verteilungsfunktion in Analogie zum Begriff der  Verteilungsfunktion FX (·) einer nichtnegativen Zufallsgr¨oßen X: FX (x) = Ws X ≤ x )

Die Funktion H(y) kann Spr¨unge und Flachstellen haben. Trotzdem kann man in sinnvoller Weise eine Umkehrfunktion Y (·) konstruieren, (wie man an einem Bild leichter sieht als an einer Formel). Sei α ein Wert, der von der Funktion H angenommen wird, H(r) = α. Es gilt dann ν(h > r) ≤ β(α). Das µ-Integral der nichtnegativen Funktion @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

Integrationstheorie

1(h>r) ·(h−r) ergibt n¨amlich einerseits den Wert = ν(h > r)−r·µ(h > r) = ν(h > r)−r·α und andererseits Z Z ∞ Z ∞ 1(h>r) · (h − r) dµ = µ(h − r > t) dt = H(y) dy r Z0 ∞ = α ∧ H(y) dy − r · α. 0

Betrachten wir nun im Vergleich zu {ω : h(ω) > r} eine weitere Menge B mit µ(B) ≤ α Wir zeigen ν(B) − ν(A) ≤ 0. In der Tat    ν(B) − ν(A) ≤ ν(B) − ν(A) − r · µ(B) − µ(A) = Z   = 1A − 1B h − r dµ = Z   = 1A\B − 1B\A (h − r)+ − (h − r)− dµ ≤ 0.

denn (h − r)+ verschwindet auf der Menge A \ B, und (h − r)− verschwindet auf der Menge B \ A. Satz 5.2.5 (Satz  von Radon-Nikodym). Es sei Ω, A, µ ein σ-endlicher Maßraum. Jedes bzgl. ν totalstetige endliche Maß ν ≪ µ ist dann ein unbestimmtes Integral. Beweis. 1)Wir schicken voraus: Wenn Sh eine nichtnegative messbare Funktion ist, und Ay = {ω : h(ω) > y}, dann gilt Ay = {y 0} 2)Ist umgekehrt T {Ay : y ∈S(0, ∞)} ist eine abnehmende rechtsstetige Schar messbarer Mengen mit so existiert eine Funktion h, sodass {h > y} = y Ay = ∅, y Ay = Ω, Ay . In der Tat ist das Supremum einer Zahlenmenge genau dann > y, wenn es in dieser Zahlenmenge ein Element r > y gibt. F¨ur die Funktion h(ω) = sup{r ∈ Q : ω ∈ Ar } gilt also h(ω) > y genau f¨ur diejenigen ω, die in einem der Ar mit r > y liegen. Wegen der Rechtsstetigkeit der Mengenfamilie bedeutet das ω ∈ Ay . 3) Bei der Konstruktion der Radon-Nikodym-Dichte kann man sich offenbar auf den Fall eines endlichen dµ beschr¨anken. F¨ur jedes r ∈ Q sind die Maße ν \ rµ und rµ \ ν zueinander singul¨ar. Es existiert eine Hahn-Zerlegung   Ω = A˜r + Br , ν \ rµ (Br ) = 0, rµ \ ν (A˜r ) = 0.  F¨ur alle A ⊆ A˜r gilt rµ − ν (A) ≤ 0, also ν(A) ≥ rµ(A). F¨ur alle B ⊆ Br gilt ν(B) ≤ rµ(B). @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

5.2 : Zerlegungen und der Satz von Radon-Nikodym

55

S 4)Wir gehen ¨uber zu einer absteigenden Familie Ay = r>y A˜r . F¨ur alle A ⊆ Ay mit µ(A) > 0 gilt ν(A) > y · µ(A); f¨ur alle B ⊆ ∁Ay gilt ν(B) ≤ y · µ(A). Die Familie {Ay : y ∈ (0, ∞)} ist absteigend und rechtsstetig. h(·) sei die dazugeh¨orige R Funktion: Ay = {h > y} Wir zeigen A h dµ = ν(A) zun¨achst f¨ur A ⊆ {c < h ≤ C} mit festen c > 0, C < ∞. Dies macht die relevanten Summen im n¨achsten Abschnitt zu endlichen Summen. (n)

5) Wir setzen Ak = {ω :

k 2n

< h(ω) ≤

k+1 } 2n

Die Funktion h(n) = 1 . 2n

P∞ 1

k 1 2n A(n) k

entsteht

Es gilt aus h durch Abrunden auf das n¨achste ganzzahlige Vielfache von Z X k X 1  (n)  k h(n) dµ = = µ A ∩ A µ A ∩ { < h} . n k 2 n n 2 2 A k (n)

F¨ur jedes B ⊂ Ak

gilt

k µ(B) 2n

≤ ν(B) ≤

k+1 . 2n

Das ergibt

X k Xk+1 X (n)  (n)  (n)  ≤ ≤ ν A ∩ A µ A ∩ A µ A ∩ Ak , k k n n 2 2 k k k Z Z h(n) dµ. h(n) dµ ≤ ν(A) ≤ 21n µ(A) + A

A

R

Der aufsteigende Limes liefert die Behauptung A h dµ = ν(A) f¨ur die A ⊂ {ω : h(ω) ≤ C}. Da wir ν ≪ µ angenommen haben, ist alles bewiesen. Hinweis auf gleichgradige Totalstetigkeit: In unserer zweiten Kennzeichnung der Totalstetigkeit ν ≪ µ haben wir nicht nur angenommen, dass ν ein beschr¨ankter Inhalt ist; wir haben auch die Beschr¨anktheit von µ angenommen. Das hat einen guten Grund, wenn man eine weiterf¨ uhrende Theorie im Auge hat. Die folgende Begriffsbildung hat sich als fruchtbar erwiesen: Definition 5.5 (Gleichgradige Totalstetigkeit). Es sei Ω, A, µ ein σ-endlicher Maßraum, und {νι : ι ∈ I} eine Familie von Pr¨amaßen auf einem Mengenring R, welcher A erzeugt. Die Familie heisst gleichgradig totalstetig, wenn gilt i) supι kνι k < ∞ ii) Es existiert ein endliches Maß µ ˜ ≪ µ, sodass gilt  ∀ε > 0 ∃δ > 0 ∀R ∈ R µ ˜(R) < δ =⇒ supι νi (R) < ε .

Diese Begriffsbildung stellt in der Tat den Anschluss her zum Begriff der gleichgradigen Integrierbarkeit einer Familie von L1 -Funktionen {fι : ι ∈ I}, die wir bei den Konvergenzs¨atzen kennengelernt haben. Bei einzelnen beschr¨ankten Inhalten ν bzw. einzelnen integrablen f gibt es keinen Unterschied. Wenn kν \ Cµk ց 0 f¨ ur ein σ-endliches µ, dann gibt es auch ein endliches µ ˜ ≪ µ mit kν \ C µ ˜k ց 0. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

Integrationstheorie

Hinweis: Wenn man die Begriffe der gleichgradigen Totalstetigkeit von Inhalten und der gleichgradigen Integrierbarkeit von Funktionen auf Maßr¨aume ausdehnen will, die nicht σ-endlich sind, dann muss man noch etwas behutsamer zu Werke gehen. Wir wollen das hier nicht weiter verfolgen.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

5.3 : Genaueres u ¨ber Totalstetigkeit

5.3

57

Genaueres u ¨ ber Totalstetigkeit

Wir haben fr¨ uher darauf aufmerksam gemacht, dass f¨ ur 1 ≤ p < ∞ der Dualraum des Banachraums Lp Ω, A, µ der Raum Lq Ω, A, µ ist, mit 1/p + 1/q = 1. Der Satz von Radon-Nikodym liefert ein schnellen Beweis:  Satz 5.3.1. Zu jeder stetigen Linearform ℓ auf dem Raum Lp Ω, A, µ mit 1 ≤ p < ∞ gibt es ein h ∈ Lq , 1/p + 1/q = 1, sodass Z ℓ(f ) = h · f dµ f¨ur alle f ∈ Lp . Beweis. Mit der H¨older’schen Ungleichung haben wir gesehen, dass f¨ur jedes h ∈ Lq Z  p ℓh (·) : L Ω, A, µ ∋ f 7−→ h · f dµ

eine stetige Linearform ist mit der Norm kℓh k = sup{|ℓh (f )| : kf kp ≤ 1} = khkq .

Es sei nun andererseits ℓ(·) eine stetige Linearform auf dem Raum Lp . Wir wollen dazu eine q-Integrable Funktion h finden. Dabei nehmen wir zuerst einmal an, dass µ ein endliches Maß ist. Wenn wir das Funktional ℓ auf die Indikatorfunktionen einschr¨anken, dann liefert σ(A) = ℓ(1A ) eine Ladungsverteilung. Es existiert eine Partition Ω = A + B, sodass σ = σ + − σ − mit σ + (C) = σ(A ∩ C), σ − (C) = −σ(B ∩ C). Die Stetigkeit von ℓ zeigt σ + (C) = σ(A ∩ C) ≤ kℓk · µ(A ∩ C)1/p . Dies zeigt die Absolutstetigkeit σ + ≪ µ; dasselbe gilt f¨ur σ − ≪ µ. Der Satz von Radon-Nikodym liefert Funktionen h+ , h− , sodass Z Z + − + − ℓ(1C ) = σ (C) − σ (C) = (h − h ) dµ = (h+ − h− ) · 1C dµ. C

Die Linearit¨at zusammen mit der Stetigkeit in der p-Norm zeigt, dass auch f¨ur die Treppenfunktionen und ihre Limiten f in der p-Norm gilt Z ℓ(f ) = h · f dµ, kℓk = khkq . Im Falle eines Maßes, welches auch den Wert +∞ annehmen kann, betrachten wir die Funktion f · 1{|f |>1/n} auf dem endlichen Maßraum Ωn = {|f | > 1/n}. Bemerkung: Im Fall p = 1 erhalten wir eine wesentlich beschr¨ankte Funktion h mit Z Z  ℓ(f ) = h · f dµ mit sup |ℓ(f )| : |f | dµ ≤ 1 = khk∞

Der Fall L∞ liegt anders. Wenn nicht A eine endliche σ-Algebra ist, dann gibt noch R weitere stetige Linearformen auf dem L∞ neben den Integralen ℓ(f ) = p · f dµ mit einem integrablen p. Allerdings kann man solche Linearformen nicht explizit angeben. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

Integrationstheorie

Gleichgradige Totalstetigkeit  F¨ ur den weiteren Unterabschnitt fixieren wir einen σ-endlichen Maßraum Ω, A, µ . Messbare Funktionen sind A-messbar. Gleichheit fast¨ uberall bezieht sich auf das Maß µ; wir sprechen auch von fastsicherer Gleichheit. Wir haben den Begriff der Totalstetigkeit f¨ ur beschr¨ankte Pr¨amaße eingef¨ uhrt. Was dort konstruiert und hergeleitet wurde, kann nun auf Grund des Satzes von Radon-Nikodym in die Sprache der integrablen Funktionen u ¨bersetzt werden. Manche, aber nicht alle Aspekte der (gleichgradigen) Totalstetigkeit sind durchsichtiger, wenn man die Radon-NikodymDichten zun¨achst einmal nicht ins Spiel bringt. Wir erinnern zuerst noch einmal an einige Ergebnisse des vorigen Abschnitts. Satz 5.3.2. Es sei µ′ die Einschr¨ankung von µ auf einen Mengenring R von Mengen R mit µ(R) < ∞ , der A erzeugt. ρ sei ein beschr¨anktes Pr¨amaß auf R und ν das Maß, welches ρ auf A fortsetzt. Es gilt ν ≪ µ genau dann, wenn eine der folgenden zueinander ¨aquivalenten Bedingungen erf¨ullt ist. 1. kρ \ CµkT V → 0

f¨ur C → ∞

2. ∀ α > 0 ∃ β > 0 :

∀R ∈ R

µ′ (R) < α ⇒ ρ(R) < β.

3. Es existiert eine Funktion β(·) mit limα↓0 β(α) = 0, sodass  sup ρ(R) : µ′ (R) < α ≤ β(α).

Bemerke: Wenn β(·) ein Stetigkeitsmodul im Sinne von 3) ist, dann leistet auch jedes β (·) ≥ β(·), welches ebenfalls nach 0 strebt, das Verlangte. Man kann nat¨ urlich immer annehmen, dass die Stetigkeitsmoduln ansteigende Funktionen sind. ′

Wir wollen jetzt dem Begriff der gleichgradigen Totalstetigkeit entwickeln.  Dieser Begriff soll so gefasst werden, dass eine Familie von beschr¨ankten Pr¨amaßen ρι : ι ∈ I genau dann gleichgradig totalstetig genannt wird, wenn die dazugeh¨origen Radon-NikodymDichten gleichgradig integrierbar sind. Eine Forderung ist die, dass die ρι gleichm¨aßig beschr¨ankt sind (sup kρι kT V < ∞) und dass ein f¨ ur alle ι ∈ I g¨ ultiger Stetigkeitsmodul existiert. Das ist aber nicht ganz hinreichend, wie wir sehen werden. Man muß fordern, dass ein endliches Maß µ ˜ existiert, sodass gilt ∀ α > 0 ∃ β > 0 ∀R ∈ R :

µ ˜(R) < α ⇒ sup ρι (R) ≤ β. ι

Entscheidend sind die folgenden elementaren Lemmata: Lemma. Das endliche Maß ν sei totalstetig bzgl. des σ-endlichen Maßes µ, dν ≪ dµ. Ist nun g integrabel mit g > 0 fast ¨uberall, so ist ν auch totalstetig bzgl. des endlichen Maßes g · dµ, dν ≪ g · dµ. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

5.3 : Genaueres u ¨ber Totalstetigkeit

59

Beweis. Wir haben gesehen, dass die Bedingung der Totalstetigkeit dν ≪ dµ ¨aquivalent ist mit der Bedingung, dass jede µ-Nullmenge auch ν-Nullmenge ist. Das heisst hier: Jede R Menge A mit A g ·dµ = 0 ist eine µ-Nullmenge. Und das ist wegen der strikten Positivit¨at von g klar. Wir bemerken: Ein Maß µ ist genau dann σ-endlich, wenn es eine strikt positive Funktion gibt, die µ-integrabel ist. RLemma. Es sei g > 0 integrabel und gε ≥ 0 integrabel. Wenn C so groß ist, dass g < ε/2, Dann gilt {gε >Cg} ε Z

{|f |>Cg}

|f |dµ < ε

f¨ur jedes f mit

Z

{|f |>gε }

|f |dµ < ε/2.

Beweis. Die Absch¨atzung gewinnt man folgendermaßen     |f | > Cg ⊆ |f | > gε ∪ |f | ≤ gε ∩ |f | > Cg Z Z  |f | dµ ≤  ge dµ < ε/2 gε ≥|f |>Cg

gε >Cg

Das Lemma zeigt,  dass man die oben1 gegebene Definition der gleichgradigen Integrierbarkeit einer Familie fι : ι ∈ I ∈ L mit sup kfι k < ∞ folgendermaßen vereinfachen kann Z 1 ∃g ∈ L ∀ε > 0 ∃C sup  |fι | dµ < ε. ι

|fι |>Cg

Man ben¨otigt (im σ-endlichen Fall) keine Familie {gε }; man kommt mit geeigneten Vielfachen einer beliebig gew¨ahlten strikt positiven Funktion g ∈ L1 aus. Beispiel 5.3.1. Es sei Ω = Z und µ das Z¨ahlmaß auf der Potenzmenge A = P(Z). ( 1 f¨ ur ω = n fn (ω) = 0 f¨ ur ω 6= n

Die Familie (fn )n∈Z ist nicht gleichgradig integrierbar. Wenn n¨amlich Rg > 0 auf Z integrabel ist, dann gilt g(ω) → 0 f¨ ur ω → ±∞ und f¨ ur jedes C > 0 gilt {fn ≥Cg} fn dµ = 1 f¨ ur alle gen¨ ugend großen |n|.

Beispiel 5.3.2. Es sei Ω = [0, 1] und λ das Lebesgue-Maß. Sei f (x) ≥ 0 auf R+ mit R∞ f (x) dx = 1. F¨ ur x ∈ Ω sei fn (x) = n · f (nx). Die Folge (fn )n∈Z ist nicht gleichgradig 0 x integrierbar.— Die Funktion f (x) = 1+x uher als Beispiel betrachtet. 4 haben wir schon fr¨ Dort haben wir direkt verifiziert, dass die Funktionenfolge punktweise nach 0 strebt, w¨ahrend die Integrale nach π4 konvergieren. Was die gleichgradige Integrierbarkeit st¨ort, ist das Ph¨anomen, dass das Lebesgue-Maß eines Bereichs, der wesentlich zum Integral beitr¨agt, f¨ ur große n beliebig klein wird. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

60

Totalstetige Maße, unbestimmte Integrale

Integrationstheorie

 Satz 5.3.3. Es sei Ω, A, µ ein W-Raum mit einer abz¨ahlbar erzeugten σ-Algebra. Wenn Die Familie M = {fι : ι ∈ I} gleichgradig integrierbar ist, dann existiert zu jeder M-Folge  1 eine Teilfolge (fn )n und ein f ∈ L Ω, A, µ , sodass Z Z fn dµ −→ f dµ f¨ur alle A ∈ A. A

A

Beweis. Wir k¨onnen annehmen, dass die fι nichtnegativ sind; andernfalls studieren wir die Familie der fι+ und fι− . Es sei (f˜k )k eine M-Folge und ρ˜k die unbestimmten Integrale, eingeschr¨ankt auf eine abz¨ahlbare Mengenalgebra Af , die A erzeugt. Die Elemente von Af seien aufgez¨ahlt: A1 , A2 , . . .. Es sei ρ˜1,1 , ρ˜1,2 , . . . eine Teilfolge, sodass ρ˜1,n (A1 ) konvergiert; der Grenzwert sei ρ(A1 ). Aus der Teilfolge w¨ahlen wir eine Teilfolge ρ˜2,1 , ρ˜2,2 , . . ., sodass ρ˜2,n (A2 ) konvergiert; der Grenzwert sei ρ(A2 ). So fahren wir fort. Die ‘Diagonalfolge’ liefert eine Teilfolge ρ1 = ρ˜1,1 , ρ2 = ρ˜2,2 , ρ3 = ρ˜3,3 . . . mit ρn (Aj ) → ρ(Aj ) f¨ur alle Aj Die Grenzwerte f¨ugen sich zu einem Inhalt auf Af zusammen. Es handelt sich in der Tat um ein Pr¨amaß, welches bzgl. µ totalstetig ist. Ist n¨amlich β(·) ein gemeinsamer Stetigkeitsmodul f¨ur die Inhalte νι , µ(A) < α ⇒ sup νι (A) ≤ β(α), so ist β(·) auch ein Stetigkeitsmodul f¨ur das Pr¨amaß ν. Nach dem Satz von Radon-Nikodym Rist die Fortsetzung auf A ein unbestimmtes Integral dν = f · dµ R Wir zeigen, dass A fn → A f nicht nur f¨ur die A ∈ Af gilt sondern auch f¨ur beliebige A ∈ A. Sei also A ∈ A. Es gen¨ugt zu zeigen, dass f¨ur beliebiges β > 0 gilt Z Z −2β ≤ lim inf (fn − f ) ≤ lim sup (fn − f ) ≤ 2β. A

A

P ¨ Um das zu zeigen, w¨ahlen wir ein abz¨ahlbare Af -Uberdeckung von A, A ⊆ ∞ Ak , sodass P ∞ P∞ µ(Ak ) < µ(A) + α. Wenn N gen¨ugend groß ist, dann ist das µ-Maß der Menge BN = Integrierbarkeit N +1 Ak kleiner als jedes vorgegebene α > 0. Wegen der gleichgradigen P∞ ˜ gilt νn (BN ) ≤ β f¨ur alle n und auch ν(BN ) ≤ β. F¨ur das gew¨ahlte A = Ak ⊃ A gilt Z Z (fn − f ) = P (fn − f ) + νn (BN ) − ν(BN ). ˜ A

N

Ak

Der erste Summand strebt nach 0 f¨ur n → ∞, der zweite ist im Betrag ≤ β. Wegen µ(A˜ − A) < α haben wir auch νn (A˜ − A) ≤ β und ν(A˜ − A) ≤ β, und daraus folgt die Behauptung. Wir betrachten als Beispiel die Menge A† = {ω : lim inf(fn − f )(ω) > 0}. Unser ¨ Argument liefert µ(A) = 0. Der Ubersichtlichkeit halber beweisen wir das nur im Falle, wo die Funktionen f, fn beschr¨ankt sind. In diesem Falle k¨onnen wir n¨amlich Fatou’s Lemma direkt anwenden mit dem Ergebnis Z Z lim inf(fn − f ) dµ ≤ lim inf (fn − f ) = 0. A†

A†

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

5.3 : Genaueres u ¨ber Totalstetigkeit

61

Es folgt µ(A† ) = 0. Zusammen mit der entsprechenden Aussage f¨ur die Folge (f − fn )n ergibt das lim inf(f − fn ) ≤ 0 ≤ lim inf(f − fn ) µ-fast¨uberall. Die Folge fn − f oszilliert µ-fast¨uberall um die Nullfunktion. Das Resultat kann man erweitern: Nicht nur f¨ ur die Indikatorfunktion, sondern f¨ ur beliebige wesentlich beschr¨ankte h gilt Z Z h · fn → h · f Ein wesentlich beschr¨anktes h kann man n¨amlich in der k · k∞ -Norm durch Treppenfunktion beliebig genau approximieren, und der Aproximationsfehler st¨ort nicht. Hinweis: Man darf nicht erwarten, dass die hier durch Teilfolgenauswahl gewonnene Folge im Sinne der Banachraumnorm k · k1 gegen die Limesfunktion f konvergiert. Es handelt sich hier vielmehr um eine sog. schwache Konvergenz . Beispiel 5.3.3. Betrachten wir auf dem Einheitsintervall mit dem Lebesgue-Maß die Funktionenfolge fn (x) = sin(2πnx). Dies ist eine gleichgradig integrierbare Folge mit der ofRb fensichtichen Eigenschaft a fn (x) dx → 0 f¨ ur alle Intervalle [a, b]. Wie wir eben bewiesen haben, konvergieren die Integrale u ¨ber beliebige Borelmengen nach 0. Von einer Konver1 genz in der L -Norm kann aber nicht die Rede sein.  Den Satz ist zu verstehen als ein Kompaktheitskriterium im Raum L1 Ω, A, µ . Das Resultat ist bekannt als das Dunford-Pettis-Theorem: Eine Teilmenge M des L1 mit der schwachen Topologie ist genau dann bedingt kompakt, wenn sie gleichgradig integrierbar ist. Kompaktheitskriterien f¨ ur die starke Topologie (d. h. in der Topologie zur Norm) sind schwieriger. Es geht darum, die M¨oglichkeit der Oszillation einzuschr¨anken. Der interessierte Leser sei verwiesen auf den Artikel: Maria Girardi 98 (1991) 95-97.

Weak vs. Norm Compactness in L1 : the Bocce Criterion, Studia Math.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

62

Messbarkeit

Integrationstheorie

6

Messbarkeit

Wir haben schon fr¨ uher mit Folgen (fn )n zu tun uberall konvergieren.  gehabt, die fast¨ Das waren Folgen, f¨ ur welche die Menge A = ω : lim inf fn (ω) 6= lim sup fn (ω) eine Nullmenge ist. Wir haben damals die Frage u ¨berspielt, ob Mengen wie dieses A Amessbar sind. In allgemeineren Zusammenh¨angen m¨ ussen wir u ¨ber Fragen dieser Art genauer nachdenken. Die Fragen werden noch etwas komplexer, wenn wir es nicht mit Funktionen ¨ sondern mit Aquivalenzklassen zu tun haben.

6.1

Messbare Abbildungen und Nullmengenstruktur

Es gibt (auf einem elementaren Niveau) augenf¨allige Parallelen zwischen der sog. allgemeinen Topologie und der allgemeinen Messbarkeitslehre. Was in der Topologie die stetigen Abbildungen sind, das sind in der Messbarkeitslehre die messbaren Abbildungen. Definition 6.1. Eine Abbildung eines messbaren Raums in einen messbaren Raum heisst eine messbare Abbildung, wenn die vollen Urbilder von messbaren Mengen messbar sind.   ϕ : Ω′ , A′ −→ Ω′′ , A′′ messbar, wenn ϕ−1 (A′′ ) ∈ A′ f¨ ur alle A′′ ∈ A′′ .  Man sagt manchmal ausf¨ uhrlicher, die Abbildung ϕ in den Raum Ω′′ , A′′ sei eine A′ messbare Abbildung. Bemerkungen: 1)Wenn das Mengensystem S′′ die σ-Algebra A′′ erzeugt und ϕ−1 (S ′′ ) ∈ A′ f¨ ur alle ′ ′′ S ∈ S , dann ist ϕ messbar.  ′ ′′ ′′ 2) F¨ ur jede Abbildung der Menge Ω in den messbaren Raum Ω , A ist das System  ′ aller vollen Urbilder A′ = ϕ−1 (A′′ ) : A′′ ∈ A′′ eine σ-Algebra u ber Ω . Sie heisst die ¨ von ϕ erzeugte σ-Algebra.

3) Die von ϕ erzeugte σ-Algebra ist die gr¨obste σ-Algebra u ¨ ber Ω′ , bzgl. welcher die  Abbildung ϕ : Ω′ → Ω′′ , A′′ messbar ist. Satz 6.1.1 (Hintereinanderschalten). Sind ϕ und ψ messbare Abbildungen  ϕ  ψ  Ω′ , A′ − → Ω′′ , A′′ − → Ω′′′ , A′′′

so ist auch die zusammengesetzte Abbildung χ(·) = ψ(ϕ(·)) messbar.  Beweis. F¨ur alle A′′′ ∈ A′′ gilt χ−1 (A′′′ ) = ϕ−1 ψ −1 (A′′′ ) ∈ A′ . (Man beachte die Reihenfolge der Symbole χ = ϕ ◦ ψ, χ−1 = ψ −1 ◦ ϕ−1 .) @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

6.1 : Messbare Abbildungen und Nullmengenstruktur

63

Satz 6.1.2 (Nebeneinanderstellen). Sind ϕ1 und ϕ2 messbare Abbildungen  ϕ1  Ω, A −→ Ω1 , A1 ,

 ϕ2  Ω, A −→ Ω2 , A2

so ist (ϕ1 , ϕ2 ) eine messbare Abbildung in den Produktraum

 (ϕ1 ,ϕ2 )  Ω, A −−−−→ Ω1 × Ω2 , A1 ⊗ A2

Beweis. Das System der Rechtecke A1 × A2 ist ein Erzeugendensystem der Produkt-σAlgebra A1 ⊗ A2 , und das volle Urbild eines solchen Rechtecks ist die A-messbare Menge −1 (ϕ1 , ϕ2 )−1 (A1 × A2 ) = ϕ−1 1 (A1 ) ∩ ϕ2 (A2 ). Beispiel  6.1.1. Es seien v(ω) und w(ω) messbare  Abbildungen des messbaren Raums Ω, A in einen normierten Vektorraum V, k · k mit seiner Borelalgebra B. Die Summe v(ω) + w(ω) ist dann ebenfalls messbar. Die Addition α : V × V, B ⊗ B) −→ V, B) ist n¨amlich stetig und damit messbar. Und die Summe entsteht durch Hintereinanderschalten (v + w)(·) = α ◦ (v, w)(·). Man spricht das Resultat auch folgendermaßen aus: Wenn v und w in messbarer Weise von ω abh¨angt, dann h¨angt auch v + w in messbarer Weise von ω ab. Beispiel Abbildungen des messbaren Raums  6.1.2. Es seien ϕ(ω) und ψ(ω) messbare  Ω, A in einen metrischen Raum S, d(·, · . Die Menge {ω : ϕ(ω) = ψ(ω)} ist dann messbar. Die Menge A, auf welcher zwei vorgegebene messbare Abbildungen u ¨bereinstimmen, ˜ messbar. Man ˜ A A = {ω : ϕ(ω) = ψ(ω)}, ist auch bei vielen anderen Zielr¨aumen Ω,  ˜ × Ω, ˜ A ˜ ⊗A ˜ . Diese ist ben¨otigt die Messbarkeit der Diagonalen im Produktraum Ω beispielsweise gegeben, wenn der Zielraum ein Hausdorff-Raum mit abz¨ahlbarer Basis (HRaB) ist. Wenn n¨amlich (Ur )r eine abz¨ahlbare Basis ist, dann existiert zu jedem Punktepaar P 6= Q ein Ur , sodass P ∈ Ur , Q ∈ / Ur . Somit ist ∁A eine messbare Menge ∁A = {ω : ϕ(ω) 6= ψ(ω)} =

[ r

{ω : ϕ(ω) ∈ Ur } ∩ {ω : ψ(ω) ∈ / Ur }.

Beispiel 6.1.3. Es sei (ϕn )n eine Folge messbarer Abbildungen in einen metrischen Raum S, d(·, · mit seiner Borelalgebra. Die Menge C derjenigen ω, f¨ ur welche (ϕn (ω))n eine Cauchyfolge ist, ist messbar. In der Tat: eine Punktfolge (Pn )n ist genau dann eine CauchyFolge, wenn gilt ∀ε > 0 ∃ N : ∀ n, m ≥ N d(Pm , Pn ) ≤ ε. Dabei k¨onnen wir uns auf die rationalen ε > 0 beschr¨anken oder auf irgendeine Folge positiver ε. welche gegen 0 konvergiert. Die Mengen Aε,m,n = {ω : d(ϕ( ·), ψ(ω)) ≥ ε} sind messbar und daher auch C=

\

ε>0

[ \

Aε,m,n .

N m,n≥N

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

64

Messbarkeit

Integrationstheorie

 Beispiel 6.1.4. Es sei S, d(·, · ein vollst¨andiger metrischer Raum, den wir durch Hinzunahme eines weiteren Punkts ∂ zum Raum S¯ erweitern. (Man nennt den Extrapunkt manchmal den ‘cemetary point’.). Es sei nun (ϕn )n ) eine Folge messbarer Abbildungen von  Ω, A nach S. Wir setzen ϕ∞ (ω) = lim ϕn (ω), wenn der Limes existiert und ϕ∞ (ω) = ∂, wenn der Limes nicht existiert. Wir zeigen, dass ϕ∞ eine messbare Abbildung nach S¯ ist. Es gen¨ ugt zu zeigen, dass das volle Urbild einer belibigen abgeschlossenen Menge F ⊆ S A-messbar ist. Es bezeichne F ε die ε-Umgebung von F . F ε = {Q : d(Q, F ) < ε} = {Q : inf d(Q, P ) < ε}. P ∈F

F¨ ur eine konvergente Folge liegt der Limes genau dann in F , wenn f¨ ur jedes ε > 0 schliessε lich alle Punkte in F liegen.(Wir ben¨otigen auch hier lediglich eine Folge echtpositiver ε. die nach 0 konvergiert.) Wir wissen bereits, dass die Menge C derjenigen ω, f¨ ur die (ϕn (ω))n eine Cauchyfolge ist und somit konvergiert, eine messbare Menge ist. Diejenigen ω, f¨ ur welche der Limes ϕ∞ (ω) in F liegt, ist die messbare Menge \ [ \ {ω : ϕ∞ (ω) ∈ F } = C ∩ {ω : ϕn (ω) ∈ F ε }. ε>0

N

n≥N

  Satz 6.1.3 (Bildmaße). Sei ϕ : Ω′ , A′ −→ Ω′′ , A′′ eine messbare Abbildung. Zu jedem W-Maß ν ′ auf A′ erh¨alt man ein W-Maß ν ′′ auf dem Zielraum, wenn man definiert  ν ′′ (A′′ ) = ν ′ ϕ−1 (A′′ ) f¨ur alle A′′ ∈ A′′ . Der Beweis ist trivial. ν ′′ heisst das ϕ-Bild von ν ′ . Leider gibt es keinen allgemein akzeptierten Namen f¨ ur die Abbildung ν ′ 7−→ ν ′′ . (In Frage k¨ame ’Pushforward-Abbildung’ f¨ ur W-Maße) Die Abbildung ist dual zur Pullback-Abbildung f¨ ur messbare Funktionen; ′′ ′′ ′ ∗ ′′ ′ ′ ist n¨amlich f ≥ 0 A -messsbar und f = ϕ (f ) (d. h. f (ω ) = f ′′ (ϕ(ω ′))), so gilt Z Z ′′ ′′ ′′ ′′ f (ω ) dν (ω ) = ϕ∗ (f ′′ )(ω ′ ) dν ′ (ω ′ )



kurz geschrieben ν ′′ , f ′′ = ν ′ , ϕ∗ (f ′′ ) . Messbare R¨ aume mit Nullmengenstruktur In der Integrationstheorie waren wir gezwungen, bei den messbaren numerischen Funktio¨ nen zu Aquivalenzklassen u ¨berzugehen. Diesen Konstruktionsschritt wollen wir jetzt auch bei messbaren Abbildungen (mit geeigneten Zielr¨aumen) gehen. Das Nullmengensystem muss nicht notwendigerweise das Nullmengensystem zu einem Maß sein.  Definition 6.2. Es sei Ω, A ein messbarer Raum. Ein Mengensystem N ⊆ A heisst ein σ-Ideal in A, wenn gilt i) N ∈ N, A ∈ A ⇒ N ∩ A ∈ N, @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

6.1 : Messbare Abbildungen und Nullmengenstruktur ii) N1 , N2 , . . . ∈ N ⇒

S

n

65

Nn ∈ N

 Definition 6.3. Ein messbarer Raum Ω, A wird zu einem messbaren Raum mit Nullmengenstruktur, indem man σ-Ideal N als das System der Nullmengen auszeichnet.   Einen messbaren Raum mit Nullmengenstruktur notieren wir Ω, A, N oder Ω, A/N . ¨ Das Nullmengenideal generiert eine Aquivalenzrelation in der σ-Algebra A, wenn man definiert A =N B ⇔ A △ B ∈ N. ¨ Aquivalente Mengen nennen wir N-fast sicher gleich. Wir notieren A ⊆N B, wenn A \ B ∈ ¨ N. Die Relation ⊆N ist vertr¨aglich mit der Aquivalenz. Es gilt     A =N B ⇔ A ⊆N B ∧ B ⊆N A .

¨ Die Aquivalenzrelation ist vertr¨aglich mit den Boole’schen Operationen, d. h. mit der Komplementbildung, der Maximums- und der Minimumsbildung. Auch abz¨ahlbare Operationen sind zul¨assig; zu jeder abz¨ahlbaren Familie gibt es in A/N ein wohlbestimmtes Supremum und ein wohlbestimmtes Infimum. Man sagt kurz:  ¨ Satz. Die geordnete Menge der Aquivalenzklassen A/N, ⊆N ist ein σ-vollst¨andiger Boole’scher Verband. Hinweis: Die Ereignisfelder in der Stochastik sind σ-vollst¨andige Boole’sche Verb¨ande. Ihre Elemente beschreiben die beobachtbaren Ereignisse. Es ist u ¨ blich, die Ereignisfelder durch messbare R¨aume mit Nullmengenstruktur darzustellen. Die Darstellbarkeit ergibt sich aus dem ber¨ uhmten Darstellungssatz von Loomis aus dem Jahr 1948: Ist E ein σvollst¨andigerBoole’scher Verband, so existiert ein messbarer Raum mit Nullmengenstruktur Ω, A, N und ein σ-isomorphe Bijektion E ←→ A/N.

Definition 6.4. Es sei N ein σ-Ideal in der σ-Algebra A eines messbaren Raums. Zwei A˜ heissen N-fastsicher gleich, ˜ B messbare Abbildungen ϕ, ψ in einen messbaren Raum Ω, ˜ die vollen Urbilder ϕ−1 (B) ˜∈B ˜ und ψ −1 (B) ˜ N-fastsicher gleich sind. wenn f¨ ur jedes B Wir notieren in diesem Fall ϕ =N ψ.

˜ die s-Algebra B ˜ erzeugt, und ϕ−1 (S) ˜ =N ψ −1 (S) ˜ f¨ Wir bemerken: Wenn S ur alle −1 ˜ −1 ˜ ˜ ˜ ˜ S ∈ S, dann gilt ϕ =N ψ. Die Gesamtheit aller A, f¨ ur welche ϕ (A) =N ψ (A) gilt, ist n¨amlich eine σ-Algebra.  Sprechweise. Wir nennen ein Maß ν auf Ω, A ein N-vertr¨agliches Maß und notieren ν ≪ N, wenn ν(N) = 0 f¨ ur alle N ∈ N. Ein N vertr¨agliches ν kann als eine σ-additive Funktion auf dem σ-vollst¨andigen Boole’schen Verband A/N verstanden werden. Wenn die messbaren Abbildungen ϕ, ψ N-fastsicher gleich sind ϕ =N ψ, dann f¨ ur jedes N-vertr¨agliche Maß das ψ-Bild gleich dem ϕ-Bild. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

Messbarkeit

66

6.2

Integrationstheorie

Messbarkeit im Sinne von Carath´ eodory

Nehmen wir einmal an, es w¨are m¨oglich, ‘jeder’ Teilmenge A des d-dimensionalen Anschauungsraums eine L¨ange“ λ∗ (A) (die auch +∞ sein kann) zuzuordnen. Welche Ei” genschaften k¨onnten oder sollten wir von der Mengenfunktion λ∗ (·) erwarten? Wenn wir einen axiomatischen Zugang zum Begriff der L¨ange einer Punktmenge versuchen m¨ochten, dann w¨ urden wir jedenfalls postulieren: 1. F¨ ur eine Strecke P Q sollte der euklidische Abstand der Endpunkte herauskommen, d.h.  λ∗ P Q = dist(P, Q) . F¨ ur einen Polygonzug ist ebenfalls klar, was die L¨ange ist.

2. Auch f¨ ur eine doppelpunktfreie stetig differenzierbare Kurven haben wir eine Vorstellung, was die L¨ange sein sollte, n¨amlich ∗

λ (C) =

Z1 0

kγ(t)kdt ˙ =

Z1 qX

(x˙ j (t))2 dt

0

3. Die L¨angenmessung sollte verschiebungsinvariant und drehungsinvariant sein 4. F¨ ur disjunkte Mengen, die einen positiven Abstand voneinander haben, sollte die L¨ange“ der Vereinigung gleich der Summe der L¨angen“ sein. (Eingeschr¨ankte Ad” ” ditivit¨at). Wenn man allerdings an zwei Mengen denkt, die zwar disjunkt, aber doch recht ‘verzahnt’ nahe beieinander liegen, dann scheint fraglich, ob eine L¨angenmessung λ∗ (·) auch daf¨ ur additiv sein kann. 5. In jedem Fall w¨ urden wir aber erwarten i) A ⊆ B ⇒ λ∗ (A) ≤ λ∗ B)

ii) λ∗ (A ∪ B) ≤ λ∗ (A) + λ∗ (B) ∞  ∞ S P iii) λ∗ Ai ≤ λ∗ (Ai )

(Monotonie) (Subadditivit¨at) (Vereinigungsbeschr¨anktheit)

Auf der Grundlage der Axiome gewinnen wir bereits f¨ ur einige Mengen konkrete Zahlenwerte. Denken wir z.B. an die Menge Q der rationalen Punkte im Einheitsintervall und die Menge [0, 1]\Q der irrationalen Punkte. Wenn man Q eine echt positive L¨ange zuerkennen m¨ochte, dann k¨ame man in Schwierigkeiten mi der Additivit¨at. Die Additivit¨at zusammen mit der Verschiebungsinvarianz impliziert, daß die Menge Q die L¨ange 0 und die Menge [0, 1]\Q die L¨ange 1 bekommen sollte. Die Forderung der Subadditivit¨at erscheint ziemlich schwach. Die Frage ist, f¨ ur wie allgemeine Paare von disjunkten Mengen die Additivit¨at der L¨angenmessung garantiert werden @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

6.2 : Messbarkeit im Sinne von Carath´eodory

67

kann. Eine h¨ochst befriedigende Antwort gibt ein Satz von Caratheodory (1873-1950) aus dem Jahre 1914: Solange man bei Borel’schen Mengen bleibt, gilt nicht nur Additivit¨at, sondern sogar σ-Additivit¨at. Der Beweis ist von einer Art, die vor 100 Jahren neuartig erschien, aber doch wohlwollend aufgenommen wurde. Nach dem Vorschlag von Caratheodory definiert man zun¨achst (f¨ ur ein vorgegebenes ρ > 0) eine Mengenfunktion Lρ (·), die zwar so noch nicht als L¨angenmessung in Frage kommt, aber doch im Limes ρ −→ 0 etwas sehr Brauchbares liefert, ein ‘¨ausseres’ Maß mit bemerkenswerten Eigenschaften. Caratheodorys Konstruktion: Gegeben A ⊆ Rd und ρ > 0. Wir u ¨berdecken A mit ρ-feinen offenen Mengen Ui so, daß die Summe der Durchmesser P d(Ui ) m¨oglichst klein ist. Das Infimum nennen wir Lρ (A). Lρ (A) w¨achst, wenn ρ ց 0. Der Limes sei mit L∗ (A) bezeichnet. Beispiele f¨ ur Mengen A ⊆ [0, 1] : 1) A = Q ∩ [0, 1]. Wir legen ein Intervall der L¨ange 2εn um den rationalen Punkt rn , wobei r1 , r2 . . . eine Abz¨ahlung der Menge A ist. Die Summe der Durchmesser ist = 2ε. Lρ (A) = 0 f¨ ur alle ρ. 2) A = Cantor’sches Diskontinuum. Wenn wir k-mal den Prozeß des Herausschneidens vollzogen haben, dann bleiben k k ¨ 2k Teilintervalle der L¨ange 13 u ist ¨ brig. Die Gesamtl¨ange ist 32 . Die Uberdeckung 1 zul¨assig f¨ ur ρ > 3k . Also  k 2 Lρ (A) ≤ 3

 k  k 1 1 f¨ ur ρ > , Lρ (A) = 0 f¨ ur ρ > 3 3

.

Also gilt Lx (A) = 0 f¨ ur die u ¨berabz¨ahlbare Menge A. 3) A = [0, 1]. P Wir versuchen m¨oglichst sparsam mit ρ-feinen offenen Mengen zu u ur alle ρ. Der Beweis baut auf die Kompaktheit von ¨berdecken. Es gilt i d(Ui ) ≥ 1 f¨ R, oder elementar gesprochen, auf den Satz von Heine-Borel. Das Argument von Borel: Die Summe der Durchmesser der u ¨berdeckenden offenen Mengen kann nicht klein sein. Es reichen schon endlich viele; und wenn man mit endlich vielen Mengen u ¨ berdeckt, ist die Summe der Durchmesser mindestens 1.Mit dieser Entdeckung von E. Borel beginnt (nach Meinung vieler Mathematikhistoriker) die moderne Maß- und Integrationstheorie. 4) F¨ ur die Teilmengen A ⊆ R1 wird der Limes ρ → 0 nicht ben¨otigt. L∗ (A) kann direkt als ein Infimum gewonnen werden. A sei z.B. der Graph der Kurve t 7−→ t · sin 1t t ∈ [0, 1] . F¨ ur ρ > 0 haben wir Lρ (A) endlich. Aber lim Lρ (A) = +∞. Die Kurve hat unendliche L¨ange. 5) Sei [t0 , t1 ] ∋ t 7−→ γ(t)  eine stetig differenzierbare doppelpunktfreie Kurve. Man ∗ kann leicht beweisen: L γ(·) ist das Supremum der L¨angen von einbeschriebenen Polygonz¨ ugen. Und das ist in der Tat die L¨ange im Sinne der klassischen Differential- und Integralrechnung.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

68

Messbarkeit

Integrationstheorie

¨ Definition 6.5 (Ausseres Maß). Eine nichtnegative Funktion µ∗ (·) (Wert +∞ erlaubt) auf einer σ-Algebra A∗ heißt ein außeres Maß, wenn sie monoton und vereinigungsbeschr¨ankt ist, d.h. wenn gilt ¨ i) 0 ≤ µ∗ (A) ≤ +∞ f¨ ur alle A,

(‘Erweiterte Positivit¨at’)

ii) B ⊆ A =⇒ µ∗ (B) ≤ µ∗ (A), ∞  ∞ P S ∗ µ∗ (Ak ) . Ak ≤ iii) µ

(’Monotonie’) (‘Vereinigungsbeschr¨anktheit’)

Unsere Mengenfunktionen Lρ (·) und L∗ (·) sind offenbar ¨außere Maße. Sie sind auch translationsinvariant. F¨ ur L∗ = lim Lρ (·) haben wir dar¨ uber hinaus: Wenn A1 und A2 positiven Abstand haben, dann gilt L∗ (A1 + A2 ) = L∗ (A1 ) + L∗ (A2 ). Auf diese Eigenschaften von L∗ (·) kommen wir sp¨ater zur¨ uck. Hier besch¨aftigen wir uns zun¨achst mit einem ganz allgemeinen ¨außeren Maß. Eine geniale Erfindung von Caratheodory ist der Begriff des Zerlegers f¨ ur µ∗ (·). (Caratheodory gebrauchte die Bezeichnung meßbare Menge“; diese Bezeichnung ist aber heutzutage anderweitig vergeben). ” Definition 6.6 (Zerleger f¨ ur µ∗ ). A heißt Zerleger f¨ ur das ¨außere Maß µ∗ (·), wenn µ∗ (W ) = µ∗ (W \A) + µ∗ (W ∩ A) f¨ ur alle W

.

Satz 6.2.1. Die Gesamtheit A aller Zerleger f¨ur µ∗ (·) ist eine σ-Algebra und die Einschr¨ankung µ(·) von µ∗ (·) auf A ist ein Maß. Beweis. 1) Eine Menge A ist schon dann ein Zerleger f¨ur das ¨außere Maß µ∗ (·), wenn f¨ur alle W mit µ∗ (W ) < ∞ gilt µ∗ (W ) ≥ µ∗ (W ∩ A) + µ∗ (W \A) . 2)Wir zeigen, daß die Gesamtheit A der Zerleger eine Mengenalgebra ist. Offensichtlich gilt ∅ ∈ A, Ω ∈ A und A ∈ A =⇒ Ω\A ∈ A .

Der Nachweis, daß mit A, B ∈ A der Durchschnitt D = A ∩ B ein Zerleger ist, erfordert etwas M¨uhe. Wir zeigen, daß f¨ur alle W mit µ∗ (W ) < ∞ gilt µ∗ (W \D) = µ∗ (W \A) + µ∗ (W ∩ A) − µ∗ (W ∩ D) . Zu diesem Zweck zeigen wir (i) µ∗ (W \D) = µ∗ (W \A) + µ∗ (W  ∩ ∗A)\D) ∗ ∗ (ii) µ (W ∩ A) = µ (W ∩ A)\D + µ (W ∩ D) . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

6.2 : Messbarkeit im Sinne von Carath´eodory

69

Zum Beweis von (i) wenden wir die Zerlegereigenschaft von A auf W1 : = W \D an, wobei wir bemerken W1 \A = (W \D)\A = W \A ;

W1 ∩ A = (W \D) ∩ A = (W ∩ A)\D

.

Zum Beweis von (ii) wenden wir die Zerlegereigenschaft von B auf W2 : = W ∩ A an, wobei wir bemerken W2 \B = (W ∩ A)\(A ∩ B) = (W ∩ A)\D ;

.

Zerleger mit ∞ S A1 ⊆ A2 ⊆ . . . und A = An . Wir zeigen, daß A ein Zerleger ist, indem wir f¨ ur alle W mit µ∗ (W ) < ∞ zeigen 3)

Seien

W2 ∩ B = W ∩ D

A1 , A2 . . .

(i) µ∗ (W ) ≥ µ∗ (W \A) + µ∗ (W ∩ An ) f¨ ur alle n ∗ ∗ (ii) µ (W ∩ A) = lim ր µ (W ∩ An ) . Die Behauptung (i) ist evident wegen W \A ⊆ W ∩ An . Zum Nachweis von (ii) zeigen wir zun¨achst  µ∗ (W ∩ An+1 ) = µ∗ (W ∩ An ) + µ∗ W ∩ (An+1 − An )

indem wir bemerken  W ∩ An+1 ∩ An = W ∩ An ;

(W ∩ An+1 ) \An = W ∩ (An+1 − An )

und An ist ein Zerleger. Es folgt

  µ∗ (W ∩ An+1 ) = µ∗ (W ∩ A1 ) + µ∗ W ∩ (A2 − A1 ) + . . . + µ∗ W ∩ (An+1 − An )

Nun gilt W ∩ A ⊆

∞ S

n=1

µ∗ (W ∩ A) ≤

 W ∩ (An − An−1 ) und wegen der Vereinigungsbeschr¨anktheit

∞ X

 µ∗ W ∩ (An − An−1 ) = lim ր µ∗ (W ∩ An ) n

q.e.d.

˜ eine beliebige Menge und 4) Sei W   ˜ ∩A f¨ ur alle A ∈ A (System der Zerleger) . µ ˜(A) = µ∗ W

Wir zeigen, daß µ ˜(·) ein Maß ist: Seien A, B disjunkte Zerleger. Es gilt dann     ˜ ∩ (A + B) \A = W ˜ ∩ B, W ˜ ∩ (A + B) ∩ A = W ˜ ∩A W µ ˜(A + B) = µ ˜(B) + µ ˜(A) . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

70

Messbarkeit

Integrationstheorie

∞ S Seien A1 ⊆ A2 ⊆ . . . Zerleger und A = An . Es gilt   ∗ ˜ µ ˜(A) = µ W ∩ A = lim ր µ∗ (W ∩ An ) = lim ր µ ˜ (An )

.

Also ist µ ˜(·) aufsteigend stetig. Damit ist der Satz vollst¨andig bewiesen.

¨ Aussere Maße und die daraus abgeleiteten Maße sind nur dann interessant, wenn die σ-Algebra der Zerleger hinreichend reichhaltig ist. Wir werden sehen, dass in unserem Fall die offenen Mengen Zerleger sind. Die Herleitung st¨ utzt sich auf die ‘eingeschr¨ankte Additivit¨at’ des ¨ausseren Maßes: F¨ ur Mengen mit positivem Abstand voneinander gilt µ∗ (A1 + A2 ) = µ∗ A1 + µ∗ A2 . Satz 6.2.2. Ist µ∗ (·) ein  ¨außeres Maß auf der Gesamtheit aller Teilmengen eines metrischen Raums E, d(·, ·) mit d(A1 , A2 ) > 0

=⇒

µ∗ (A1 + A2 ) = µ∗ A1 + µ∗ A2 .

so ist jede offene Menge G ein Zerleger f¨ur µ∗ . Die Einschr¨ankung von µ∗ auf die Borelalgebra ist also ein Maß. Beweis. Sei F das Komplement F von G. Wir m¨ussen f¨ur alle W mit µ∗ (W ) < ∞ zeigen µ∗ (W ) ≥ µ∗ (W ∩ G) + µ∗ (W ∩ F ) .  . F¨ur n = 1, 2, . . . sei Gn = x : dist(x, F ) > n1 Da jedes Gn positiven Abstand von F hat, haben wir µ∗ (W ) ≥ µ∗ (W ∩ Gn ) + µ∗ (W ∩ F ) , Der Satz ist bewiesen, wenn wir zeigen. µ∗ (W ∩ G) = lim ր µ∗ (W ∩ Gn ) .    Die Subadditivit¨at sagt µ∗ W ∩ G ≤ µ∗ W ∩ Gn + µ∗ W ∩ (G − Gn ) . Wir zeigen, dass zu jedem ε > 0 ein n existiert, sodass  µ∗ W ∩ (G − Gn ) < ε.

Das ergibt sich folgendermaßen: F¨ur jedes n haben Gn und E−Gn+1 positiven Abstand. 1 , Wenn n¨amlich x und y Punkte sind mit dist(x, F ) > n1 , dist(y, F ) ≤ n+1 1 1 1 dann gilt dist(x, y) ≥ n − n+1 = n(n+1) . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

6.2 : Messbarkeit im Sinne von Carath´eodory Die Mengen G2 − G1 , Vereinigung R1 gilt

G4 − G3

71

. . . haben paarweise positiven Abstand. F¨ur ihre

  µ∗ (W ∩ R1 ) = µ∗ W ∩ (G2 − G1 ) + µ∗ W ∩ (G4 − G3 ) + . . .

Dasselbe gilt f¨ur die Mengen G3 − G2 ,

G5 − G4 , . . . und ihre Vereinigung R2   µ∗ (W ∩ R2 ) = µ∗ W ∩ (G3 − G2 ) + µ∗ W ∩ (G5 − G4 ) . . . .

Die Summen konvergieren wegen µ∗ (W ) < ∞. Wenn n gen¨ugend groß ist, dann gilt 



µ W ∩ (G − Gn ) ≤

∞ X k=n

 µ∗ W ∩ (Gk+1 − Gk ) < ε.

Caratheodory hat nicht nur das lineare Maß eingef¨ uhrt. Auch sein Vorschlag f¨ ur die Definition des Oberfl¨achenmaßes“ im Rd hat allgemeine Anerkennung gefunden. Ca” ratheodory konstruiert folgendermaßen. Weitere Konstruktionen: F¨ ur eine offene konvexe Teilmenge K des Rd sei d(2) (K) der maximale zweidimensionale Schatten, d.h. das Maximum der Fl¨achen von orthogonalen Projektionen von K auf einen zweidimensionalen Teilraum des Rd . Wir arbeiten nun mit konvexen K mit Durchmesser < ρ. Eine beliebige Menge A ⊆ Rd soll nun m¨oglichst sparsam mit ρ-feinen konvexen Ki u ¨berdeckt werden; man konstruiert L(2) ρ (A)

= inf

nX

d

(2)

(Ki ) :

∞ [

o Ki ⊇ A , d (Ki ) < ρ f¨ ur alle i

(2)

Der aufsteigende Limes L∗(2) (A) = lim Lρ (A) erf¨ ullt die Voraussetzungen der beiden ρց0

S¨atze. Die Einschr¨ankung auf die Borelalgebra liefert eine Fl¨achenmessung f¨ ur Mengen d d im R . Man sieht leicht, dass f¨ ur sich f¨ ur ein Rechteck im R die klassische Fl¨ache ergibt: Fl¨ache = L¨ange × Breite. Auch f¨ ur allgemeinere ‘Fl¨achenst¨ ucke’ A, denen man in der klassischen Infinitesimalrechnung einen Fl¨acheninhalt zumisst, liefert Caratheodorys Konstruktion das gew¨ unschte Ergebnis. F. Hausdorff hat 1919 weitere metrische ¨außere Maße im Rn konstruiert, die in den letzten Jahren im Anschluß an einige Aufs¨atze von B. Mandelbrot sehr popul¨ar geworden sind. Eine sehr sch¨one Darstellung gibt Falconer, K.: Fractal Geometry, Wiley, 1990. Hausdorff konstruierte insbesondere f¨ ur s > 0 µ(s) ρ (A)

∞ nX s [ o = inf d (Ui ) : Ui ⊇ A , d (Ui ) < ρ . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

72

Messbarkeit

Integrationstheorie (s)

Der Limes µ(s) (·) = lim ր µρ (·) ist offenbar ein Maß auf der Borelalgebra. F¨ ur die meisten B hat man µ(s) (B) = ∞ oder µ(s) (B) = 0 . Wenn µ(s) (B) < ∞, dann gilt offenbar µ(t) (B) = 0 f¨ ur alle t > s. Das Infimum der s, mit µ(s) (B) < ∞ heißt die Hausdorff-Dimension von B. Man kann in der Tat zeigen, dass die in den Rd eingebeteten k-dimensionalen glatten Mannigfaltigkeiten die Hausdorff-Dimension k haben. F¨ ur nichtglatte Mengen B findet man auch nichtganzzahlige Werte der Hausdorff-Dimension. Hinweis fu ¨r Stochastiker: Der zweidimensionale Graph der eindimensionalen Brown’schen Bewegung hat (fast sicher) die Dimension 23 . Diese Brown’schen Pfade im R3 haben (fast sicher) die HausdorffDimension 2. Die Brown’schen Graphen und die Brown’schen Pfade sind mit Erfolg sehr genau untersucht worden, nicht nur auf ihre Dimension hin. Zur genaueren Untersuchung dient die folgende Verallgemeinerung des Ansatzes von Hausdorff. Konstruktion Sei h(·) : R+ → R+ eine isotone Funktion mit h(0) = 0. F¨ ur Teilmengen B des Rd definiert man das Hausdorff-Maß von B bzgl. h(·) als Limes (h)

µ (B) = lim ↑ ρ→0

µρ(h) (B)

= lim ↑ inf ρ→0

∞ nX

h d (Ui )



∞ [

:

o Ui ⊇ B , d (Ui ) < ρ .

Bemerke: Das Hausdorff-Maß zur Dimensionsfunktion h(·) h¨angt monoton von h(·) ab. Je steiler h(·) im Nullpunkt ansteigt, desto gr¨oßer ist das entsprechende Hausdorff-Maß (f¨ ur alle B). Genauer gesagt: Sind h(·) und k(·) Funktionen, so daß f¨ ur ein δ gilt h(d) ≤ k(d) f¨ ur alle d ∈ (0, δ), dann gilt µ(h) (B) ≤ µ(k) (B) f¨ ur alle Borel’schen B. Beispiele 1) Es stellt sich heraus, daß die Brown’schen Pfade im Rn nicht nur f¨ ur die Funktion 2 d endliches Hausdorff-Maß haben, sondern sogar f¨ ur die steiler ansteigende Funktion   1 h(d) = d · log log d 2

.

Dieses h(·) liefert eine wirklich genaue Ausmessung der Brown’schen Pfade. Man kann beweisen : F¨ ur jede Dimension n ≥ 3 gibt es eine Konstante cn , so daß f¨ ur fast alle Brown’schen Pfade im Zeitabschnitt [0, T ] gilt   L(h) Bω [0, T ] = T · cn

.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

6.2 : Messbarkeit im Sinne von Carath´eodory

73

2) In den Dimensionen n = 1 und n = 2 sind die Verh¨altnisse etwas anders. F¨ ur die Graphen der eindimensionalen Brown’schen Bewegung beschreibt r 1 3 /2 h(d) = d · log log d die genaue Hausdorff-Dimension. Es gilt   h L Γω [0, T ] = c · T

fast sicher

.

Diese feinen Resultate sind noch nicht sehr alt. Siehe S.J. Taylor, The measure theory of random fractals, Math. Proc. Cambridge Phil. Soc. 100 (1986), S. 383-406.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

74

Diverse Konstruktionen von Pr¨amaßen

Integrationstheorie

7

Diverse Konstruktionen von Pr¨ amaßen

Wir haben zwei Wege kennengelernt, wie man Pr¨amaße gewinnen kann. Beim CauchyIntegral (und einigen Verwandten) ist die Grundlage der Satz von Dini u ¨ ber monotone Folgen von stetigen Funktionen auf einem Kompaktum. Beim Ansatz von Caratheodory werden ebenfalls topologische Eigenschaften des Grundraums ben¨otigt, wenn man garantieren will, dass der Raum der ‘messbaren’ Mengen nicht zu klein ist. Wir behandeln hier noch weitere Konstruktionen. Ideen der Topologie stehen da zun¨achst einmal nicht im Vordergrund.

7.1

¨ Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea

Wir wollen den Begriff einer messbaren Abbildung verallgemeinern zum Begriff  ϕ des sto- chastischen Kerns. Bekanntlich ordnet eine messbare Abbildung Ω1 , A1 − → Ω2 , A2 jedem Punkt ω1 einen Punkt ω2 = ϕ(ω1 ) zu. Wir k¨onnen aber auch sagen: ϕ ordnet dem Punkt ω1 das δ-Maß δω2 zu, und das in messbarer Weise. Entsprechend  legen wir fest: Ein stochastischer Kern ordnet jedem Punkt ω1 ein W-Maß auf Ω2 , A2 zu,  und das in messbarer Weise. Dabei ist σ-Algebra A, die den Raum Ω = M Ω2 , A2 der W-Maße zu einem messbaren Raum macht, diejenige σ-Algebra, die durch die Auswertungen der Maße in den A2 erzeugt wird.   Definition 7.1. Ω1 , A1 und Ω2 , A2 seien messbare R¨aume. Eine Abbildung   P : Ω1 , A1 ∋ ω1 7→ P (ω1 , ·) ∈ M Ω2 , A2 heisst ein stochastischer Kern, wenn P (·, A2) A1 -messbar ist f¨ ur jedes ist f¨ ur jedes A2 ∈ A2 . Wir nennen P einen stochastischen Kern von Ω1 nach Ω2 , und notieren  P  Ω1 , A1 − → Ω2 , A2 .

Wir betrachten auch die Integrale nichtnegativer A2 -messbarer Funktionen f2 bez¨ uglich der W-Maße P (ω1 , ·) und ben¨ utzen dabei die Notationen Z P (ω1 , A2 ) = P (ω1 , dω2) · 1A2 (ω2 ) = P ∗ (1A2 )(ω1 ) Z P (·, f2) = P (·, dω2) · f2 (ω2 ) = P ∗ (f2 )(·).

Die Abbildung P ∗ , die der nichtnegativen A2 -messbaren Funktionen f2 die nichtnegative A1 -messbaren Funktionen f1 = P ∗ (f2 ) zuordnet, heisst die Pullbackabbildung zum Kern P . Wir bemerken, dass die Pullback-Abbildung monoton stetig ist: (1) (2) (3) (n)  (n) g2 ≤ g2 ≤ g2 ≤ . . . =⇒ P ∗ lim ↑ g2 = lim ↑ P ∗ (g2 ). Daraus ergibt sich der

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

¨ 7.1 : Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea

75

Satz 7.1.1 (Hintereinanderschalten). Gegeben seien stochastische Kerne   P21 Ω2 , A2 , Ω1 , A1 −→

  P32 Ω3 , A3 . Ω2 , A2 −→

Wir gewinnen einen stochastischen Kern P31 = P21 ◦P32 von Ω1 nach Ω3 wenn wir definieren Z Z 1 1 P3 (ω1 , A3 ) = P2 (ω1 , dω2) · P32(ω2 , dω3) · 1A3 (ω3 ) Z   ∗ ∗ ∗ = P21(ω1 , dω2) · P32 1A3 (ω2 ) = P21 P32 1A3 ∗





Die Pullback-Abbildungen werden hintereinandergeschaltet: P31 (·) = P21 ◦ P32 (·).

Beispiel 7.1.1 (Stochastische Matrizen). Es seien I und J abz¨ahlbare Mengen. Eine I × J-Matrix P = (P i j ) heisst eine stochastische Matrix, wenn alle Eintr¨age nichtnegativ sind und alle Zeilensummen den Wert = 1 haben. F¨ ur jedes i ∈ I ist also P i (·) eine Wahrscheinlichkeitsgewichtung auf der Menge J. Wir haben hier einen stochastischen Kern von I nach J. Wir notieren die nichtnegativen Funktionen f auf der Menge Ω2 = J als J-Spalten, und die nichtnegativen Funktionen g auf der Menge Ω1 = I als PI-Spalten. Die Pullback-Abbildung f 7→ g = P ∗ (f ) ist die Matrizenmultiplikation: g i = j P i j · f j . Wenn P eine stochastische Matrix vom Format I × J ist und Q eine stochastische Matrix vom Format J × K, dann ist das Matrizenprodukt R = P · Q eine stochastische Matrix vom Format I × K.  P Wenn (pi )i eine W-Gewichtung auf I ist pi ≥ 0, i pi = 1 , dann liefern die Zahlen (pi · P ij )(i,j)∈I×J eine W-Gewichtung auf dem Produktraum I × J. Die P Marginalverteilung auf dem zweiten Faktor J ist das W-Maß mit den Gewichten qj = i pi · P ij .

Notation. Bezeichnet µ das W-Maß mit den Gewichten pi auf I und ν das W-Maß mit den Gewichten qj auf J, dann schreibt man (µ)P∗ = ν.  Die Abbildung P∗ : M I) → M J heisst die Pushforward-Abbildung zum Kern P (·, ·). Mit µ ⊗ P bezeichnet man das oben konstruierte Maß auf dem Produktraum I × J. Man bemerke: Wenn alle Zeilen von P gleich sind, P i j = qj dann ist µ ⊗ P das Produktmaß µ ⊗ ν, welches wir beim Satz von Fubini studiert haben.

Den folgenden Satz k¨onnte man als eine Verallgemeinerung des Satzes von Fubini bezeichnen, obwohl er nichts mit der Vertauschung der Reihenfolge schrittweiser Integration zu tun hat.

Satz 7.1.2. Sei µ1 (·) ein W-Maß auf (Ω1 , B1 ). Zu jedem ω1 ∈ Ω1 sei ein W-Maß P (ω1 , dω2) auf (Ω2 , B2 ) gegeben, wobei die Abh¨angigkeit B1 –meßbar ist Es existiert dann ein Wahrscheinlichkeitsmaß ρ auf (Ω, B) = (Ω1 × Ω2 , B1 ⊗σ B2 ) @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

76

Diverse Konstruktionen von Pr¨amaßen

Integrationstheorie

so, daß f¨ur alle produktmeßbaren f (ω1, ω2 ) ≥ 0 gilt Z

f dρ =

Z

µ1 (dω1 ) ·

Z

P (ω1 , dω2)f (ω1 , ω2 ) .

Beweis. Der Beweis ist praktisch identisch mit dem Beweis f¨ ur die Existenz des Produktmaßes. Wie dort haben wir nachzuweisen, daß die Ingredienzen zu einem Pr¨amaß νf Anlaß geben. (Das Suffix f erinnert daran, dass wir vorerst nur einen endlichadditiven Inhalt gewinnen.) Wir definieren Z ρf (B1 × B2 ) =

µ1 (dω1 )P (ω1 , B2 )

B1

tritt an die Stelle des Produktinhalts“ ” Z ρf (B1 × B2 ) = µ1 (dω1) · µ2 (B2 ) = µ1 (B1 ) · µ2 (B2 ) . B1

Unser νf (·) liefert ein Pr¨amaß auf der Mengenalgebra aller disjunkten Vereinigungen P (n) (n) von Rechtecken. Sei n¨amlich B1 × B2 = B1 × B2 , also 1B1 ×B2 (ω1 , ·) =

{n:

X

1B(n) (ω1 ) · 1B(n) (·) . 1

(n) ω1 ∈B1 }

1

Diese Funktion wird jetzt nicht bzgl. eines festen Maßes µ2 (·) sondern bzgl. P (ω1, ·) integriert. Wir erhalten f¨ ur jedes feste ω1 1B1 (ω1 ) · P (ω1, B2 ) =

X n

1B(n) (ω1 ) · P 1



(n) ω1 , B2



.

Integration dieser B1 –meßbaren Funktion bzgl. µ1 (·) liefert ρf (B1 × B2 ) =

Z

µ1 (dω1 ) · P (ω1, B2 ) =

B1

=

X n



(n)

(n)

ρf B1 × B2



X Z n

(n)

B1

  (n) µ1 (dω1 ) · P ω1 , B2

.

Also ist νf (·) ein Pr¨amaß. Fortsetzung liefert das gew¨ unschte Maß ν(·) auf dem Produkt der meßbaren R¨aume. Wir schreiben ρ = µ1 ⊗ P. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

¨ 7.1 : Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea

77

Ausdehnung auf mehrere Faktoren Es seien (Ω0 , B0 ), (Ω1 , B1 ), (Ω2 , B2 ), . . . meßbare R¨aume. Auf dem Raum der Folgen Ω = Ω0 × Ω1 × . . . = {ω : ω = (ω0 , ω1 , . . .)} definieren wir σ–Algebren An (f¨ ur n = 0, 1, 2, . . .), wie folgt: An ist die σ–Algebra, die erzeugt ist vom System Sn der Mengen B0 × B1 × B2 × . . . × Bn × Ωn+1 × Ωn+2 × . . . Die Elemente von An nennt man Zylindermengen mit einer Basis in B1 ⊗σ B2 ⊗σ · · · Bn : Die Die Elemente von Sn k¨onnte man Zylindermengen mit einer rechteckigen Basis nennen. Eine Funktion f (ω) ist genau dann An –meßbar, wenn der Wert von f nur von den ersten n + 1 Eintr¨agen der Folge ω = (ω0 , ω1 , . . .) abh¨angt, und wenn sie als Funktion dieser Eintr¨age produktmeßbar ist. Sprechweise (Filtrierte messbare R¨aume).  Sei Ω, A ein messbarer Raum und A0 ⊆ A1 ⊆ A2 ⊆ . . . eine aufsteigende Folge von  Teil-σ-Algebren. Man nennt dann diese Folge eine Filtrierung von Ω, A . Ein messbarer Raum wird zu einem filtrierter messbarer Raum, indem man eine Filtrierung auszeichnet. ˙ haben eine Folge von Wir haben hier eine recht spezielle Filtrierung von Ω Wir  Abbildungen πk : Ω −→ Ωk , Bk , wo An von den Abbildungen πk , k ≤ n erzeugt wird. ∞ S Bemerke: Die Vereinigung Af = An ist eine Mengenalgebra u ¨ ber Ω; Af ist aber im allgemeinen keine σ–Algebra. (Das Suffix f steht f¨ ur finit). Bemerke F¨ ur jedes n ∈ N sei µn ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf An . Die Folge (µn )n sei vertr¨aglich in dem Sinne, daß µn+1 eine Fortsetzung von µn ist. Die Folge liefert dann einen normierten Inhalt auf Af . Dieser ist im Allgemeinen kein Pr¨amaß. Wir pr¨asentieren nun aber eine interessante Konstruktion, die auf ein Pr¨amaß f¨ uhrt. Diese Konstruktion f¨ uhrt zu einem ber¨ uhmten Satz von C. Ionescu–Tulcea (1949). Inhalte zu einer Folge von stochastischen Kernen Gegeben seien stochastische Kerne P1 : (Ω0 , B0 ) −→ (Ω1 , B1 ) P2 : (Ω0 × Ω1 , B0 ⊗σ B1 ) −→ (Ω2 , B2 ) ... Pn : (Ω0 × . . . × Ωn−1 , B0 ⊗σ . . . ⊗σ Bn−1 ) ...

−→ (Ωn , Bn )

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

78

Diverse Konstruktionen von Pr¨amaßen

Integrationstheorie

F¨ ur jedes Wahrscheinlichkeitsmaß µn−1 auf B0 ⊗σ . . . ⊗σ Bn−1 gewinnen wir mit der Konstruktion von oben ein Wahrscheinlichkeitsmaß µn = µn−1 ⊗ Pn auf B0 ⊗σ . . . ⊗σ Bn . Wir identifizieren nun alle diese Maße µn mit Maßen auf den entsprechend groben σ–Algebren An u ¨ber Ω. Die Konstruktion µ ek 7−→ µ ek+1 := µ ek ⊗ Pk+1

ist dann also als eine Fortsetzung des Maßes µ ek auf Ak zu einem Maß µ ek+1 auf der verfeinerten σ–Algebra Ak+1 zu verstehen. Zu jedem beliebigen µ ek erhalten wir µ ek+1 =

µ ek ⊗ Pk+1

auf Ak+1

µ ek+2 = µ ek+1 ⊗ Pk+2 = µ ek ⊗ Pk+1 ⊗ Pk+2 auf Ak+2 ...

und somit einen Inhalt ρ(e µk )(·) auf Af =

∞ S

An welcher auf Ak mit µ ek u ¨bereinstimmt.

Satz 7.1.3 (Satz von Ionescu–Tulcea (1949)). F¨ur jedes µ ek auf Ak ist der eben mit Hilfe der Folge von Kernen (Pn )n konstruierte ∞ S Inhalt ρ(e µk ))(·) ein Pr¨amaß auf der Mengenalgebra Af = An .

1. Wir m¨ussen zeigen, daß f¨ur jede absteigende Folge A1 ⊇ A2 ⊇ . . . mit ∞ T An nicht leer ist. lim ց ρ(e µk )(An ) > 0 der Durchschnitt

Beweis. n

2. Es gen¨ugt, dies f¨ur µ ek von spezieller Art zu zeigen, f¨ur die µ ek n¨amlich, die auf Ak nur die Werte 1 und 0 annehmen k¨onnten, das sind die δ–Maße zu einem Anfangsst¨uck“ ” ω (k) = (ω0 , ω1 , . . . , ωk ) . Wir bezeichnen diese speziellen Inhalte mit ρ(ω (k) )(·). Dies gen¨ugt deshalb, weil f¨ur jedes µ ek auf Ak gilt Z ρ(e µk )(·) = de µk (ω (k) ) · ρ(ω (k) )(·) . Der Inhalt ρ(e µk ) ist eine konvexe Mischung der Inhalte ρ(ω (k) ). 3. Nach Konstruktion gilt ρ(ω

(k)

)(·) =

Z

P (ω (k), dωk+1) · ρ(ω (k) , ωk+1)(·) .

Auf die Maße P (ω (k), ·) k¨onnen wir jetzt den Satz von der monotonen Konvergenz anwenden. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

¨ 7.1 : Ubergangskerne und der Satz von Ionescu-Tulcea

79

4. Sei A1 ⊇ A2 ⊇ . . . mit An ∈ An (o.B.d.A.). Wenn f¨ur ein Anfangsst¨uck ω (k) gilt lim ց ρ(ω (k) (An ) > 0, dann existiert ωk+1 mit lim ց ρ(ω (k) , ωk+1)(An ) > 0, n n denn Z (k) 0 < lim ց ρ(ω )(An ) = lim ց P (ω (k) , dωk+1) · ρ(ω (k) , ωk+1)(An ) n

n

5. Es existiert also eine unendliche Fortsetzung ω e von ω (k) :  ω e = ω (k) , ωk+1 , ωk+2, . . . = (ω0 , ω1 , . . . , ωk , ωk+1, ωk+2, . . .) , so daß f¨ur jeden Abschnitt ω (m) von ω e gilt

lim ց ρ(ω (m) , An ) > 0 . n

6. F¨ur die gerade konstruierte Fortsetzung ω e gilt ω e∈

∞ T

An .

W¨are n¨amlich ω e ∈ / An , dann w¨are auch das Anfangsst¨uck ω e (n) von ω e nicht in An ; denn die Frage, ob ein ω e in An ∈ An liegt, wird allein aufgrund des Anfangsst¨ucks der L¨ange n entschieden.

7. Ist An ∈ An eine absteigende Folge von Mengen, sodass f¨ur irgend ein ω (k) gilt T

lim ց ρ(ω (k) )(An ) > 0 n

Q dann gilt An = 6 ∅. Es existiert dann n¨amlich eine Fortsetzung ω e ∈ Ω = Ωn des Anfangsst¨ucks ω (k) , welche im Durchschnitt aller An liegt.   Beispiel 7.1.2 (Unendliche Produktmaße). Es seien Ω , A , µ , Ω , A µ , ... 1 1 1 2 , 2  Q N  W-R¨aume. Auf dem unendlichen Produkt Ω, A = Ωi , Ai existiert dann genau ein W-Maß µ, sodass f¨ ur alle Zylindermengen mit rechteckiger Basis gilt  µ A1 × A2 × · · · × An × Ωn+1 × · · · = µ1 (A1 ) · µ2 (A2 ) · · · · · µn (An ).

Sei beispielsweise Ωi = {0, 1} f¨ ur alle i und µi ({1}) = 1/2 = µi ({0}). Ω ist dann die Menge aller unendlichen 0 − 1-Folgen, und f¨ ur jedes endliche ‘Wort’ δ im Alphabet {0, 1} gilt  µ {ω : ω1 = δ1 , . . . , ωn = δn } = 2−n . P Die Abbildung ω 7−→ χ(ω) = ωn · 2−n bildet das Maß µ auf das Lebesgue-Maß u ¨ber [0.1] ab.— Wir haben so eine Konstruktion der uniformen Verteilung, wo der Beweis der σ-Additivit¨at nicht explizit von der Kompaktheit des Einheitsintervalls Gebrauch macht. Beispiel 7.1.3. Gegeben sei ein Wurzelbaum ohne Bl¨atter, bei welchem von jedem Knoten h¨ochstens abz¨ahlbar viele Kanten ausgehen. Die vom P Knoten i in der Tiefe n ausgehenden (n) (n) Kanten seien mit Zahlen pij ≥ 0 beschriftet, sodass j pij = 1. Es existiert dann genau ein W-Maß µ auf der Menge Ω der von der Wurzel w ausgehenden unendlichen Pfade,  (0) (1) (n−1) sodass f¨ ur jeden Knoten i in der Tiefe n gilt µ ω : ω geht durch i = pwi1 · pi1 i2 · · · · pin−1 i , wo i1 , . . . , in−1 die Vorg¨angerknoten von i sind. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

Diverse Konstruktionen von Pr¨amaßen

80

7.2

Integrationstheorie

Regul¨ are Maße

Wir bauen im Folgenden ein Argument f¨ ur die σ–Additivit¨at eines Inhalts auf eine Begriffsbildung, welche an die Kompaktheit erinnert. Die Begriffsbildung unterscheidet sich von der genuin topologischen Begriffsbildung der Kompaktheit insofern, als nur abz¨ahlbare Mengenoperationen ins Spiel kommen. Ausserdem spielt Punktetrennung keine Rolle. Die Pr¨amaßeigenschaft eines endlichen Inhalts ist sehr leicht hinzuschreiben; wir haben den Satz wenn

Ein endlicher Inhalt ρ(·) auf einer Mengenalgebra ist genau dann ein Pr¨amaß, A1 ⊇ A2 ⊇ . . .

Anders gesagt:

∞ \

An = ∅ =⇒ lim ↓ ρ(An ) = 0 .

A1 ⊇ A2 ⊇ . . . lim ↓ ρ(An ) 6= 0 =⇒

∞ \

An 6= ∅ .

Um zu beweisen, daß ein Inhalt ein Pr¨amaß ist, muß man also f¨ ur gewisse absteigende Folgen von Mengen zeigen, daß sie einen nichtleeren Durchschnitt haben. Eine Aussage dieser Art ist aus der Theorie der Kompaktheit bekannt, n¨amlich Satz Wenn eine Familie abgeschlossener Teilmengen eines kompakten Raums die endliche Durchschnittseigenschaft besitzt, dann hat sie einen nichtleeren Durchschnitt. Wir lassen zun¨achst einmal alle Topologie beiseite und definieren Definition Ein Mengensystem K u ¨ ber einer abstrakten Grundmenge Ω heißt ein σ–Kompaktheitssystem, wenn jedes abz¨ahlbare Teilsystem von K, in welchem je endlich viele einen nichtleeren Durchschnitt haben, insgesamt einen nichtleeren Durchschnitt hat. Anders gesagt K ist σ–Kompaktheitssystem ⇐⇒ ∀ (Cn )n def

∞ \

Cn = ∅

!

y

∃N:

N \

Cn = ∅

!

.

Bemerke Wenn K ein σ–Kompaktheitssystem ist, dann auch die Gesamtheit aller abz¨ahlbaren Durchschnitte von K–Mengen. ¨ Beispiel Uber dem Rd ist das System aller beschr¨ankten abgeschlossenen Rechtecke ein σ–Kompaktheitssystem. Das Beispiel hebt hervor, daß zun¨achst nicht gefordert ist, daß K gegen¨ uber (endlicher) Vereinigungsbildung abgeschlossen ist. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

7.2 : Regul¨are Maße

81

Lemma Wenn K ein σ–Kompaktheits–System ist, dann ist auch das System aller endlichen Vereinigungen von K–Mengen ein σ–Kompaktheitssystem. Beweis.

1. Seien K (1) , K (2) , . . . Mengen der Gestalt (1)

(1)

(1)

(2)

(2)

(2)

K (1) = C1 ∪ C2 ∪ . . .∪ Cm(1)

K (2) = C1 ∪ C2 ∪ . . .∪ Cm(2) ...

(n)

mit Cm ∈ K und K (1) ∩ K (2) ∩ . . . ∩ K (n) 6= ∅ f¨ur alle n. ∞ T Wir zeigen K (n) 6= ∅, indem wir zeigen, daß es k1 , k2 , . . . gibt mit (1)

(2)

(n)

Ck1 ∩ Ck2 ∩ . . . ∩ Ckn 6= ∅ f¨ur alle n .

2. Zum Beweis ziehen wir ein Diagramm heran. ◦

4 3 2 1

◦ .. ... .. .. . . .... ◦ ....◦ ◦ ... ◦ ... ..... ... ... .... ... .... . ... ◦... ◦ ..... ◦ ....◦ ◦ ... . . ... ..... ........ ◦ ◦ ◦. ◦ ◦

...

1

...

0 0

2

3

4

5

(n)

(n)

Die m(n) Punkte u ¨ber dem Abszissenpunkt n respr¨asentieren die Mengen C1 , . . . , Cm(n) . (1)

(2)

(n)

Wenn Ck1 ∩ Ck2 ∩ . . . ∩ Ckn 6= ∅, dann verbinden wir die entsprechenden aufeinanderfolgenden Punkte und erhalten ein Pfadst¨uck der L¨ange n. Aus der Annahme K (1) ∩ . . . ∩ K (n) 6= ∅ folgt, daß es mindestens einen Pfad der L¨ange n gibt. (Beweis!). Daraus folgern wir, daß es einen unendlich langen Pfad gibt: Schauen wir uns die Pfadst¨ucke der L¨ange n an, die man unendlich weit verl¨angern kann. Gibt es solche? Es gibt nur endlich viele Pfadst¨ucke der L¨ange n. Wenn man keines unendlich weit verl¨angern k¨onnte, dann k¨ame man u ¨berhaupt nicht ¨uber eine endliche L¨ange hinaus. Mindestens eines dieser Pfadst¨ucke kann man zu solch einem Pfadst¨uck der L¨ange n + 1 fortsetzen, den man beliebig weit fortsetzen kann usw. Diese Fortsetzungsprozedur f¨uhrt zu einem unendlich langen Pfad. Damit ist das Lemma bewiesen. Satz Sei ρ(·) ein endlicher Inhalt auf der Mengenalgebra Af u ¨ber Ω. ρ(·) ist jedenfalls dann ein Pr¨amaß wenn es ein σ–Kompaktheitssystem K ⊆ Af gibt, so daß ρ(A) = sup{ρ(C) : C ⊆ A, C ∈ K} f¨ ur alle A ∈ Af . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

82

Diverse Konstruktionen von Pr¨amaßen

Integrationstheorie

Beweis. Sei A1 ⊇ A2 ⊇ . . . mit lim ↓ ρ(An ) > ε > 0. W¨ahle C1 , C2 , . . . ∈ K mit Wir haben dann

Cn ⊆ An

und

ρ(An ) − ρ(Cn ) <

ε 2n

ρ(A1 ∩ A2 ) − ρ(C1 ∩ C2 ) < ρ(A1 ∩ A2 ∩ . . . ∩ An ) − ρ(C1 ∩ . . . ∩ Cn ) <

.

ε 2

+ 4ε , . . . ε f¨ur alle n .

Dies zeigt ρ(C1 ∩ . . . ∩ Cn ) > 0 f¨ur alle n, C1 ∩ . . . ∩ Cn 6= ∅ f¨ur alle n. Da die Cn Elemente eines σ–Kompaktheitssystems sind, haben wir ∞ ∞ \ \ Cn 6= ∅ . An ⊇ Damit ist gezeigt

A1 ⊇ A2 ⊇ . . . Beispiel

∞ \

An = ∅ =⇒ lim ↓ ρ(An ) = 0 .

Sei F (·) eine rechtsstetige isotone Funktion mit lim (F (T ) − F (−T )) < ∞ .

T →∞

Dem halboffenen Intervall (a, b] ordnen wir zu: ρ((a, b]) = F (b) − F (a) .

1. Jeder endlichen disjunkten Vereinigung von halboffenen Intervallen ordnen wir die Summe der ρ(·)–Werte zu und erhalten damit bekanntlich einen endlichen Inhalt auf der von den halboffenen Intervallen erzeugten Mengenalgebra. 2. Wir erhalten einen Inhalt ρe(·) auf der von allen Intervallen erzeugten Mengenale wenn wir allen Intervallen einen Inhalt zuordnen, wie folgt gebra A,  ρe([a, b]) = F (b) − F (a − 0) = lim ↓ ρ a − n1 , b n→∞  ρe((a, b)) = F (b − 0) − F (a) = lim ↑ ρ a, b − n1 ρ([a, b)) = F (b − 0) − F (a − 0) , und diese Mengenfunktion auf disjunkte Vereinigungen additiv fortsetzen.

3. Die Gesamtheit K aller Mengen, die sich als endliche Vereinigung kompakter Ine ρe(·) hat offenbar tervalle darstellen lassen, ist ein σ–Kompaktheitssystem K ⊆ A. die Approximationseigenschaft bez¨ uglich K. Also ist ρe(·) ein Pr¨amaß.

Man kann also ρe in eindeutiger Weise zu einem Maß µ(·) auf der Borelalgebra u ¨ber R fortsetzen. Dieses Maß heißt das Borelmaß zu der Verteilungsfunktion F (·). In derselben Weise erh¨alt man eine eineindeutige Beziehung zwischen den lokalendlichen Borelmaßen auf R und den (bis auf eine additive Konstante eindeutig bestimmten) Verteilungsfunktionen. Die Verteilungsfunktionen sind die rechtsstetigen isotonen Funktionen. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

7.2 : Regul¨are Maße

83

R R Hinweis Das Integral f 7→ f dµ bezeichnet man traditionellerweise mit f 7→ f dF ; man nennt es das Lebesgue–Stieltjes–Integral zur Verteilungsfunktion F (·). Rb Wenn F (·) totalstetig ist, d.h. wenn p(·) ≥ 0 existiert mit F (b) − F (a) = a p(y) dy f¨ ur alle a < b, dann schreibt man Z Z f dF = f (y) · p(y) dy . Damit ist der Anschluß an die Bezeichnungsweise der Anf¨angervorlesung hergestellt. Definition (Straffheit) Es sei K ein σ–Kompaktheitssystem u uber endlicher ¨ ber der Menge E, K sei gegen¨ Vereinigungsbildung und abz¨ahlbarer Durchschnittsbildung stabil. 1. Ein endliches Maß µ auf einer K umfassenen σ–Algebra A heißt straff (im Englischen tight), wenn µ(E) = sup{µ(K) : K ∈ K} . 2. Eine Menge A ∈ A heißt regul¨ ar f¨ ur µ, wenn (a) µ(A) = sup{µ(K) : K ⊆ A, K ∈ K} .

(b) µ(E − A) = sup{µ(K) : K ⊆ E − A, K ∈ K} . 3. Das Maß µ heißt regul¨ ar, wenn alle A ∈ A regul¨ar sind. Satz Sei K ein σ–Kompaktheitssystem, welches gegen endliche Vereinigungsabbildung und abz¨ahlbare Durchschnittsbildung stabil ist und µ(·) ein straffes Maß auf A ⊇ K. Die Gesamtheit R aller regul¨aren Mengen ist dann eine Teil–σ–Algebra von A. Beweis. 1. E ∈ R wegen der Straffheit. Mit A ∈ R ist auch E − A ∈ R. Wir m¨ussen also nur noch zeigen A1 , A2 , . . . ∈ R =⇒ 2. Zu A1 , A2 , . . . ∈ R und ε > 0 w¨ahlen wir

∞ [

Kn ⊆ An , Kn ∈ K mit

µ

∞ [

An −

∞ [

Kn

ε 2n ε µ((E − An ) − Ln ) < n . 2 µ(An − Kn ) <

Ln ⊆ E − An , Ln ∈ K mit Wir haben

An ∈ R .

!



∞ X

µ(An − Kn ) < ε

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

84

Diverse Konstruktionen von Pr¨amaßen

und f¨ur ein geeignets N Auf der anderen Seite

µ

∞ T

N S

Kn ∈ K und

∞ T

An −

Ln ⊆ E −

µ

Da

∞ S

E−

∞ S

∞ [

Integrationstheorie N S

Kn

An !

An

Ln ∈ K haben wir





≤ 2ε.

∞ \

∞ S

Ln

!

<ε.

An ∈ R.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

7.3 : Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen R¨aumen

7.3

85

Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen R¨ aumen

Ein polnischer Raum ist ein vollst¨andig metrisierbarer Raum mit abz¨ahlbarer Basis. Satz 7.3.1 (Ulam’s Theorem). Jedes endliche Borelmaß auf einem polnischen Raum ist regul¨ar (bzgl. des Systems aller kompakten Mengen). Beweis. Sei d(·, ·) eine Metrisierung, bzgl. welcher E endliches Borelmaß.

vollst¨andig ist. µ sei ein

1. Um zu zeigen, daß µ straff ist, m¨ussen wir zu jedem ε > 0 eine abgeschlossene totalbeschr¨ankte Menge Kε finden, so daß µ(E − Kε ) < ε . Sei {x1 , x2 , . . .} eine u ¨berall dichte Menge und     1 1 = y : d(xn , y) ≤ ( abgeschlossene Kugel“) B xn , ” m m F¨ur jedes feste m gibt es ein n(m), so daß    n(m) [  ε 1  < m . B xi , µ E − m 2 i=1 Die Menge

Kε =

∞ n(m) \ [

m=1 i=1

  1 B xi , m

ist abgeschlossen und totalbeschr¨ankt.

µ(E − Kε ) <

ε ε + + ... = ε . 2 4

2. Das System R aller regul¨aren Mengen ist eine σ–Algebra. Aus der Straffheit folgt trivialerweise, daß zu jeder abgeschlossenen Menge F eine kompakte Teilmenge existiert, deren Maß um h¨ochstens ε kleiner ist. Man nehme F ∩Kε . Um zu zeigen, daß R die gesamte Borelalgebra ist, m¨ussen wir nur zeigen, daß es zu jedem offenen U eine Folge abgeschlossener Teilmengen F1 , F2 , . . . gibt mit µ(F1 ∪F2 ∪. . .∪Fn ) ↑ µ(U).  Sei F = E − U und Fn = x : d(x, F ) ≥ n1 . Die Folge leistet das Verlangte. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

86

Diverse Konstruktionen von Pr¨amaßen

Integrationstheorie

Satz (Metrisierung der schwachen Konvergnz) Bezeichne M1 (E) die Menge aller Wahrscheinlichkeitsmaße auf dem polnischen Raum (E, d(·, ·)). F¨ ur eine Folge µn ∈ M1 (E) und µ ∈ M1 (E) sind die folgenden Eigenschaften ¨aquivalent R R 1. f dµn rightarrow f dµ f¨ ur alle beschr¨ankten stetigen f 2. Der Prohorov–Abstand (siehe oben) konvergiert nach 0 distPr (µn , µ) → 0 3. ∀ α, β > 0 ∃ N : ∀ n ≥ N ∀ B borelsch

(ohne Beweis !)

µ(B α ) ≥ µn (B) − β .

Satz (Gleichm¨aßige Straffheit) Eine Familie {µα : α ∈ I}, µα ∈ M1 (E), ist genau dann bedingt kompakt, wenn ∀ ε > 0 ∃ Kε kompakt ∀α

µα (E \ Kε ) < ε .

(ohne Beweis !)

Satz (Existenz regul¨arer bedingter Wahrscheinlichkeiten) Gegeben seien B, eine abz¨ahlbar erzeugte σ–Algebra u ¨ber dem Grundraum E N ∞ S T und K, ein σ–Kompaktheitssystem, stabil gegen¨ uber µ, ein K–regul¨ares Wahrscheinlichkeitsmaß auf B ˜ eine beliebige Teil–σ–Algebra von B. A, 1. Es existiert dann ein stochastischer Kern ˜ → (E, B) , P (˜ x, dx) : (E, A) so daß f¨ ur alle µ–integrablen f Z ˜ = P (·, dx)f (x) µ–fast¨ E(f | A) uberall . 2. Man kann die Wahrscheinlichkeitsmaße P (˜ x, ·) K–regul¨ar w¨ahlen.

Beweis. 1. Sei Bf eine abz¨ahlbare Mengenalgebra ¨uber E, welche die σ–Algebra B erzeugt. W¨ahle f¨ ur jedes B ∈ Bf eine Folge (Kn )n = (Kn (B))n ∈ K, so daß K1 ⊆ K2 ⊆ . . . ⊆ B und µ(Kn (B)) ր µ(B) . Die Gesamtheit aller dieser Kn (B) und auch die Gesamtheit aller endlichen Durchschnitte dieser Kn (B) ist ein abz¨ahlbares σ–Kompaktheitssystem Kf . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

7.3 : Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen R¨aumen

87

2. F¨ur jedes B ∈ Bf und jedes K ∈ Kf w¨ahlen wir eine Version der bedingten Erwartung ee µ–fastsicher | A) B (·) ggK (·) = = E(1 E(1B K | A) µ–fastsicher Es gilt

g∅ = B1 + B2 =

0 , gE (X) = 1 f¨ur µ–fast alle x B =⇒ gB1 (x) + gB2 (x) = gB (x) f¨ur µ–fast alle x .

F¨ ur jedes B ∈ Bf und die dazu gew¨ahlte Folge (Kn (B))n gK1 (B) (x) ≤ gK2 (B) (x) ≤ . . . lim ↑ gKn(B) (x) = gB (x) f¨ur µ–fast alle x . 3. F¨ur jedes x e, welches zu keiner der abz¨ahlbar vielen Ausnahmemengen geh¨ort, ist Bf ∋ B 7−→ gB (e x) ein normierter Inhalt auf Bf . Es handelt sich sogar um ein Pr¨amaß; denn, wenn

B1 ⊇ B2 ⊇ . . . lim ց gBj (e x) > 0 , j

dann existieren K1 ⊇ K2 ⊇ . . . ∈ Kf mit lim ց gKj (e x) > 0 ,

also

\ j

Kj 6= ∅ .

F¨ ur x e in der Ausnahmemenge w¨ahlen wir irgendein regul¨ares Pr¨amaß auf Bf , in e A–meßbarer Weise (z.B. konstant = µ ).

4. Die eindeutige Fortsetzung des so gewonnenen Pr¨amaßes (f¨ur jedes x e) bezeichnen e wir mit P (e x, ·). F¨ur jedes B ∈ Bf ist P (e x, B) A–meßbar. Die Gesamtheit e aller B, f¨ur welche P (e x, B) A–meßbar ist, ist eine σ–Algebra. Wir haben also tats¨achlich einen stochastischen Kern {P (e x, ·) : x e ∈ E}.

5. Dies ist eine Version des gesuchten stochastischen Kerns der regul¨aren bedingten Wahrscheinlichkeit. Jedes P (e x, ·) ist regul¨ar; denn nach Konstruktion ist jedes B ∈ Bf regul¨ar f¨ur P (e x, ·) bzgl. Kf . Die Gesamtheit der B, f¨ur welche P (e x, ·) regul¨ar ist bzgl. K ist eine σ–Algebra nach dem Satz von oben. Als Anwendung des Existenzsatzes gewinnen wir leicht den @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

88

Diverse Konstruktionen von Pr¨amaßen

Integrationstheorie

Satz (Desintegration von Maßen auf einem polnischen Raum) µ sei ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf dem polnischen Raum (E, B). ϕ sei eine borele µ e A). meßbare Abildung ϕ : (E, B) → (Ω, e bezeichne das Bildmaß µ e = (µ)ϕ∗ . ¨ Es existiert dann ein Ubergangskern ˜ → (E, B) , ˜ A) P (˜ ω, dx) : (Ω,

˜ so daß f¨ ur alle A˜ ∈ A

Z

d˜ µ(˜ ω ) · P (˜ ω , dx) = 1{x:ϕ(x)∈A} ˜ · ν(dx) .

˜ A

˜ = B. ˜ ˜ : A˜ ∈ A} Beweis. Man wende den vorigen Satz an auf die von ϕ erzeugte σ–Algebra {{x : ϕ(x) ∈ A} Man erh¨alt eine meßbare Abbildung ˜ → M1 (E) . Ψ : (E, B) Dies kann man schreiben ( Hebungssatz“) ” Ψ(x) = Φ(ϕ(x)) . Φ(·) ordnet den Punkten ω ˜ Wahrscheinlichkeitsmaße auf (E, B) zu. Φ(·) ist die gesuchte Desintegration. Wir benutzten das Lemma ( Hebungssatz“) ” Sei X : (Ω, A) → (F, C) meßbar mit (F, d(·, ·)) polnisch. ˜ die von ϕ : (Ω, A) → (Ω′ , A′ ) erzeugte σ–Algebra. Genau dann, wenn Bezeichne A ˜ X A–meßbar ist, gibt es eine meßbare Abbildung Y : (Ω′ , A′ ) → (F, C), so daß X(ω) = Y (ϕ(ω)) . ˜ Beweis des Hebungssatzes Jede A–meßbare F –wertige Zufallsgr¨oße X kann man gewinnen als Grenzwert einer Folge von Zufallsgr¨oßen Xn , welche nur abz¨ahlbar viele Werte annehmen. Offenbar existieren Yn mit Xn = Yn (ϕ). Diese Yn konvergieren u ¨berall gegen das gesuchte Y . Beachte, daß der Beweis nicht auf irgendein Maß Bezug nimmt. (F, C) ....... ...... .....

...... ..

X .....................

..... . ..... .

(Ω)

Y

.....

..... .... ..... .....

..... .....

-

ϕ

(Ω′ , A′ )

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

7.3 : Wahrscheinlichkeitsmaße auf polnischen R¨aumen

89

Beispiel Sei ν die Gleichverteilung auf der zweidimensionalen Einheitssp¨are, d.h. das Oberfl¨achenmaß dividiert durch 4π. W¨ahle ein Paar gegen¨ uberliegender Punkte ( Nordpol“ und S¨ udpol“). θ bezeichne den Breitenkreis θ ∈ (−π/2, +π/2), ϕ den ” ” Meridian, gemessen von einem gew¨ahlten Nullmeridian aus, −π < ϕ < +π. Gesucht ist die bedingte Verteilung auf dem Meridian {x : ϕ(x) = ϕ0 }. Die bedingten Verteilungen sind totalstetig bzgl. dθ mit der Dichte 12 cos θ · dθ. In der Tat gilt ν({x : ϕ(x) ∈ (ϕ0 , ϕ0 + ∆ϕ), θ(x) ∈ (θ0 , θ0 + ∆θ)}) =

1 · ∆ϕ · cos θ0 · ∆θ0 . 4π

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

90

Die Integration von Differentialformen

8

Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

R Das Kurvenintegral C f · dg wurde schon fr¨ uher f¨ ur eine recht allgemeine Situation erkl¨art. Damals war C eine rektifizierbare Kurve in einem metrischen Raum; f war stetig und g war Lipschitz-stetig. Wir nun auch mehrdiminsionale ‘Bereichsintegrale’ disR wollen 1 kutieren wie beispielsweise B f · dg ∧ dg 2 . Wir behandeln den Fall, wo B ein gerichteter 1 2 2-dimensionaler Bereich auf einer glatten R Mannigfaltigkeit ist, f stetig und g , g stetig differenzierbar. Ein Beispiel w¨are etwa B f · dr ∧ dφ, wo r, φ die Polarkoordinaten im geschlitzen R2 sind. Bei diesen Integralen ist der Integrationsbereich B ein orientierter Bereich — wir deuten den Unterschied zu den bisher betrachteten Integrationsbereichen B ∈ B (Borelalgebra) durch die Notation B an. Auch das Symbol ∧ f¨ ur das sog. Dach-Produkt nimmt Bezug auf die Idee der Orientierung, den wir zun¨achst im einfachsten Fall diskutieren wollen. Die große Bedeutung der Orientierung wird sich erst sp¨ater zeigen, wenn wir nicht nur u ¨ber gerichtete Bereiche B, sondern auch u ¨ber ihre R¨ander ∂B integrieren.

8.1

Orientierte affine R¨ aume

Definition 8.1 (Orientierte Vektorr¨aume).  Ein n-dimensionaler reellerVektorraum V wird zu einem orientierten Vektorraum V, or , indem man f¨ ur jede Basis vj : j ∈ J festlegt, f¨ ur welche Anordnungen der Indexmenge ur welche Aufz¨ahlungen J die aufgez¨ahlte Basis vj1 , . . . , vjn positiv orientiert ist, und f¨ sie negativ orientiert ist. Bei dieser Festlegung ist zu beachten, dass zwei aufgez¨ahlte Basen genau dann gleichgerichtet sind, wenn die Matrix des Basiswechsels eine positive Determinante besitzt. Es gibt offenbar genau zwei Orientierungen eines endlichdimensionalen reellen Vektorraums. Es gen¨ ugt, f¨ ur eine einzige aufgez¨ahlte Basis festzulegen, ob sie positiv oder negativ orientiert ist. Eine gerade Permutation der Elemente einer positiv aufgez¨ahlten Basis erzeugt eine positiv aufgez¨ahlte Basis. Zur Notation: Wenn Indexmenge J angeordnet (oder ‘aufgez¨ahlt’) ist, dann deuten wir das dadurch an, utzen. F¨ ur eine  dass wir eine kalligraphischen Buchstaben J ben¨ angeordnete Basis vj : j ∈ J eines orientierten Vektorraums (V, or) schreiben wir or(J ) = +1, falls die Anordnung der Basiselemente der Orientierung or entspricht, andernfalls or(J ) = −1. Zur Orientierung des Vektorraums V geh¨ort eine Orientierung ∗ des  Dualraums V . Wir legen n¨amlich fest, dass eine Orientierung die aufgez¨ahlte Basis vj : j ∈ J von V genau dann als eine positiv gerichtete Basis anerkennt, wenn sie die ebenso aufgez¨ahlte duale Basis ℓj : j ∈ J von V ∗ als positiv gerichtet anerkennt. Definition 8.2 (Gerichtete W¨ urfel). Der Einheitsw¨ urfel zur Basis vj : j ∈ J des Vektorraums V ist die Menge X  W = v: v= bj · vj mit 0 ≤ bj ≤ 1 f¨ ur alle j ∈ J ⊂ V. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.1 : Orientierte affine R¨aume

91

Hinweis: In a¨lteren Lehrb¨ uchern nennt man die Einheitsw¨ urfel Parallelotope; von Einheitsw¨ urfeln spricht man da nur, wenn die Basis eine Orthonormalbasis in einem euklidischen Vektorraum ist. Unsere Vektorr¨aume hier haben keine euklidische Struktur. Man k¨onnte unsere Beschreibung eines Einheitsw¨ urfels W als die Beschreibung als ein kartesisches Produkt von Intervallen bezeichnen. Eine  bequeme Beschreibung von W ist auch die mittels der dualen Basis. Die duale Basis ℓj : j ∈ J nennen wir auch die lineare Koordinatisierung zur gegebenen Basis. F¨ ur v ∈ V heisst ℓj (v) die j-te Koordinate des Vektors v. Es gilt \  v : ℓj (v) ∈ [0, 1] . W = v : 0 ≤ ℓj (v) ≤ 1 f¨ ur alle j ∈ J = j∈J

 Das J-Tupel der Linearformen ℓj : j ∈ J deutet man gerne als eine lineare Bijektion von V auf den Vektorraum RJSp . ℓj (v) ist der j-te Eintrag in der Spalte zu v. Der Vektorraum RJ hat die Struktur eines Produktraums. Der Einheitsw¨ urfel ist das volle Urbild des ‘Rechtecks’ [0, 1] × [0, 1] × · · · × [0, 1]. Ein Einheitsw¨ urfel wird zu einem gerichteten Einheitsw¨ urfel, indem man eine Aufz¨ahlung der Kanten vj festlegt, indem man also die Indexmenge J zu einer angeodneten Indexmenge J macht. Wenn der Vektorraum V orientiert ist, dann kann ein gerichteter Einheitsw¨ urfel W entweder gleichgerichtet zur Orientierung des umgebenden Raums V sein, also positiv gerichtet oder aber entgegengesetzt gerichtet. In einem orientierten Vektorraum kann man somit zwischen positiv gerichteten und negativ gerichteten W¨ urfeln unterscheiden. Affine R¨ aume und affine Koordinaten Wir werden auch den Begriff eines gerichteten W¨ urfels in einem reellaffinen Raum ben¨otigen. Zuerst erinnern wir an einige Definitionen und Begriffsbildungen aus der Anf¨angervorlesung. Ein affiner Raum ist, salopp gesprochen, ein reeller Vektorraum ohne einen als Nullpunkt ausgezeichneten Punkt. Eine ordentliche Definition ist die folgende Definition 8.3. Ein reellaffiner Raum ist eine Menge L, auf welcher ein reeller Vektorraum V einfach transitiv wirkt. Die Wirkung des Vektors v ∈ V auf die Punkte P ∈ L nennt man die Translation um v. Das Bild von P verm¨oge der Translation bezeichnet man mit Q = P + v.  Definition 8.4. Eine Funktion a(·) auf dem affinen Raum L, V heisst eine affine Funktion, wenn eine Linearform ℓ ∈ V ∗ existiert, sodass a(P +v)−a(P ) = ℓ(v). Die Linearform ℓ heisst der Zuwachs von a(·). Im Hinblick auf sp¨atere Verallgemeinerungen bezeichnen wir den Zuwachs einer affinen Funktion a(·) mit da. Definition 8.5. Ein affines Koordinatensystem affinen Raum   j auf dem n-dimensionalen L, V ist eine Familie affiner Funktionen x (·) : j ∈ J , f¨ ur welches die Familie der ∗ Zuw¨achse eine Basis von V ist. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

92

Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

Man kann es auch anders ausdr¨ ucken, wenn man bedenkt, dass der Raum aller affinen j Funktionen ein (n+1)-dimensionaler Vektorraum ist. Das J-Tupel x (·) : j ∈ J ist eine affine Koordinatisierung von L, wenn die xj (·) zusammen mit der konstanten Funktion 1 eine Basis dieses (n + 1)-dimensionalen Vektorraums ergeben. Jede affine Funktion a(·) P besitzt genau eine Darstellung a(·) = a0 + j∈J aj · xj (·). F¨ ur die Zuw¨achse ergibt sich P j da = j∈J aj · dx .   Notation. Sind y i(·) : i ∈ I und xj (·) : j ∈ J affine Koordinatensystem, so existiert P eine I × J-Matrix A, welche die Zuw¨achse linear transformiert dy i = j∈J ai j · dxj . Die I × J-Matrix A heisst die Matrix des Koordinatenwechsels. Die Eintr¨age bezeichnet man ∂y i ai j = ∂x j.

Bemerke: Zu einem affinen Koordinatensystem gibt es genau einen Punkt P0 ∈ L, in welchen alle Koordinatenfunktionen verschwinden. Man nennt  ihnden Koordinatenur sprung f¨ ur dieses Koordinatensystem. Es seien xj (·) : j ∈ J und y i(·) : i ∈ I affine Koordinatisierungen und P˜ irgendein Punkt. Wenn xj (P˜ ) = x˜j , y i(P˜ ) = y˜i, dann gilt y i(P ) − y˜i =

X j∈J

ai j · (xj (P ) − x˜j ). f¨ ur alle P ∈ L

 j Sprechweise. affinen Raums   Es sei x (·) : j ∈ J eine affine Koordinatisierung des j L, V , und vj : j ∈ J die duale Basis zum System der Zuw¨achse ℓ = dxj : j ∈ J . Es seien bj > aj . Eine Menge der Gestalt  W = P : aj ≤ xj (P ) ≤ bj f¨ ur alle j ∈ J ⊆ L.

nennen wir einen W¨ urfel mit den Kanten (bj −aj )·vj , oder auch einen x-W¨ urfel der Gr¨oße Q j j ahlung der Indizes liefert einen gerichteten W¨ urfel. j (b − a ). Eine Aufz¨ Die translationsinvariaten Maße Ein ber¨ uhmtes Resultat von A. Haar (1885-1933) besagt: Auf jeder lokalkompakten Gruppe existiert ein translationsinvariantes Borelmaß, welches auf kompakten Mengen endlich ist. Dieses ist bis auf eine multiplikative Konstante eindeutig bestimmt. F¨ ur den d-dimensionalen reellen Vektorraum V liefert dieser Satz eine Kennzeichnung des Lebesgue-Maßes, welche keinen Bezug nimmt auf eine lineare Koordinatisierung von V . Wir werden uns mit denjenigen gerichteten lokalendlichen signierten Maßen n¨aher befas- sen, die eine stetige Dichte bzgl. des invarianten Maßes auf dem reellaffinen Raum L, V besitzen. Dabei interessieren uns vor allem solche, die eine stetige Dichte f besitzen, welche ausserhalb einer kompakten Menge verschwindet. Zun¨achst einmal werden wir sie in der Form f · dx1 ∧ · · · ∧ dxn = f · dxJ pr¨asentieren, wo {xj (·) : j ∈ J } ein aufgez¨ahltes affines Koordinatensystem ist. Sp¨ater werden wir sie auch (lokal) mit ‘krummlinigen’ Koordinaten beschreiben. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.1 : Orientierte affine R¨aume

93

Ein gerichtetes signiertes Maß unterscheidet sich von einem (nichtgerichteten) signierten Maß dadurch, dass es nicht den Mengen sondern den gerichteten Mengen einen Wert zuweist. Welche Art ‘gerichteter’ Mengen wir betrachten wollen, werden wir sp¨ater er¨ortern; zun¨achst sind es vor allem die gerichteten W¨ urfel und die gerichteten Simplexe.  j Notation. Es sei x (·): j ∈ J ein affines Koordinatensystem auf dem n-dimensionalen reellaffinen Raum L, V . Mit dx1 ∧ dx2 ∧ · · · ∧ dxn bezeichnen wir dasjenige translationsinvariante Maß, welche dem gem¨aß der Aufz¨ahlung gerichteten Einheitsw¨ urfel W denn Wert 1 zuordnet. Die invarianten ‘Maße’ zu verschieden aufgez¨ahlten affinen Koordinaten unterscheiden sich um den Faktor ±1. F¨ ur eine Permutation π(·) mit dem Signum σ(π) gilt dxπ(1) ∧ · · · ∧ dxπ(n) = σ(π) · dx1 ∧ · · · ∧ dxn Wenn n¨amlich σ(π) = −1, dann bedeutet das, dass der dazugeh¨orige gerichtete Einheitsw¨ urfel seine Orientierung ¨andert.  i  j Satz 8.1.1. Es seien y (·) : i ∈ I und x (·) : j ∈ J affine Koordinatensystem mit P dy i = j∈J ai j · dxj . F¨ur beliebige Aufz¨ahlungen der Indexmengen I und J gilt dann dy 1 ∧ · · · ∧ dy n = det A · dx1 ∧ · · · ∧ dxn .

Nach dem Satz von Haar unterscheiden sich invariante signierte Maße um einen Faktor. Wir m¨ ussen zeigen, dass dieser Faktor die Determinante der Matrix zum Koordinatenwechsel ist. Wir ben¨ utzen die Gelegenheit, um an wichtige Eigenschaften der Determinantenfunktion (auf der Gruppe der nichtsingul¨aren n × n-Matrizen) zu erinnern. Vor allem sollte man sich erinnern,  dass det(·) multiplikativ ist.Die Determinante der Einheitsmatrix ist 1, und det B · A = det B · det A. Diese Eigenschaft charakterisiert det(·). Ausserdem sollte man wissen, dass es sich (als Funktion des n-Tupels der Zeilen) um eine alternierende Multilinearform handelt. Diese Eigenschaft charakterisiert die Determinantenfunktion bis auf eine Konstante. Wir bemerken 1. Wenn man zwei y i vertauscht, dann werden die entsprechenden Zeilen in der Matrix A des Koordinatenwechsels vertauscht. Die Determinante wechselt ihr Vorzeichen, wie es ja auch sein sollte. Wenn man zwei xj vertauscht, dann bedeutet das f¨ ur A, dass man die entsprechenden Spalten vertauscht; die Determinante wechselt das Vorzeichen, wie es auch sein muss. Die behauptete Formel ist also vertr¨aglich mit den hier erw¨ahnten Eigenschaften der Determinantenfunktion. Q 2. F¨ ur einen gerichteten x-W¨ urfel W der Gr¨oße j (bj − aj ) liefert unser ‘Maß’ dx1 ∧ Q · · · ∧ dxn den Wert ± j (bj − aj ), wobei das negative Vorzeichen auftrit, wenn der W¨ urfel entgegengesetzt gerichtet ist zur Orientierung, die durch die Aufz¨ahlung der j x bestimmt ist. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

3. Bei einem Koordinatenwechsel, der nur den Nullpunkt verschiebt, bleibt das Dachprodukt dx1 ∧ · · · ∧ dxn unver¨andert. Wir betrachten nur noch solche Koordinatenwechsel, die allesamt denselben Nullpunkt haben. Ein solcher Koordinatenwechsel entspricht (in eineindeutiger Weise!) einer linearen Transformation der Zuw¨achse. 4. Ist y 1 = x1 + c2 · x2 + · · · + cn · xn , y 2 = x2 , . . . , y n = xn , so gilt dy 1 ∧· · ·∧dy n = dx1 ∧· · ·∧dxn ; denn die dazugeh¨origen Einheitw¨ urfel gehen auseinander durch eine lineare Transformation hervor, welche offensichtlich das Volumen unver¨andert l¨asst.  5. F¨ ur jedes c ∈ R gilt c dx1 ∧dx2 · · ·∧dxn = c·dx1 ∧· · ·∧dxn ; denn die dazugeh¨origen Einheitsw¨ urfel gehen durch eine Streckung um c bzw. 1c auseinander hervor. Aus diesen Eigenschaften der alternierenden Multilinearit¨at ergibt sich ein erster Beweis. Ein zweiter Beweis ergibt at der Determinantenfunktion:  jsich aus der Multiplikativit¨  k  Seien y i(·) : i ∈ I , x (·) : j ∈ J , z (·) : k ∈ K affine Koordinatensysteme mit X X X ci k · dz k . dy i = ai j · dxj , dxj = bj k · dz k , dy i = j∈J

k∈K

Wir wissen, dass es Zahlen

δ(A), δ(B), δ(C) gibt, sodass (abgek¨ urzt geschrieben) gilt

dy = δ(A) · dx,

dx = δ(B) · dz,

dy = δ(C) · dz,

Wegen C = A · B haben wir δ(A · B) = δ(A) · δ(B). Die Multiplikativit¨at gilt f¨ ur alle A, B und das beweist, dass δ(·) die Determinantenfunktion ist. Die Transfomationsformel, die wir abgeleitet haben, soll im n¨achsten Kapitel auf ‘krummlinige’ lokale Koordinatensysteme (auf einer offenen Menge U erweitert werden:  i ∂y 1 n · dx1 ∧ · · · ∧ dxn auf U dy ∧ · · · ∧ dy = det ∂xj Bevor wir das in Angriff nehmen, wollen wir wollen noch erl¨autern, inwiefern Ausdr¨ ucke der Form f ·dx1 ∧· · ·∧dxn passable Integranden sind, wenn es gilt, u ¨ber gerichtete Bereiche zu integrieren. Integration bzgl. der translationsinvaranten Maße im affinen Raum. Es sei (L, or) ein orientierter n-dimensionaler affiner Raum und {xj (·) : j ∈ J } ein aufgez¨ahltes affines Koordinatensystem. Ein Integral der Form Z Z 1 n f · dx ∧ · · · ∧ dx = f · dxJ (L,or)

(L,or)

mit einem Lebegue-integrablen f auf L kann man als das Integral der Funktion f bez¨ uglich 1 n J dx ∧ · · · ∧ dx bezeichnen oder (besser!) als das Integral der n-Form f · dx u ¨ber den @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.1 : Orientierte affine R¨aume

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orientierten affinen Raum. Hier interessiert man sich allerdings meistens nur f¨ ur stetige f . Die Fortsetzung des Funktionals auf allgemeinere f spielt im Folgenden keine Rolle. Wenn die Aufz¨ahlung der xj mit der gegebenen Orientierung u ¨bereinstimmen, dann handelt es sich um das Integral von f bzgl. eines wirklichen Maßes; nichtnegative f liefern ein positives Funktional; wenn dagegen die Aufz¨ahlung der xj nicht zur vorgegebene Orientierung von L passt, dann erhalten wir negative Integralwerte f¨ ur nichtnegative f . Zu jeder Lebegue-integrablen Funktion f auf L existiert genau eine Darstellung in den Koordinaten xj : f (P ) = F (x1 (P ), . . . , xn (P )) mit einer wohlbestimmten Funktion F (·) auf dem Rn . Wenn die Orientierung des Raums L mit der Aufz¨ahlung der xj konform ist, dann gilt Z Z (L,or)

f · dx1 ∧ · · · ∧ dxn =

F (x1 , . . . , xn ) dλn (x).

wo λn das Lebesgue- Maß auf dem Rn ist, welches in dem Sinn normiert ist, dass es dem Einheitsw¨ urfel [0, 1] × [0, 1] × · · · × [0, 1] den Wert 1 zuweist. Dieses Maß ist ein Produktn Maß: λ = λ1 ⊗ λ1 ⊗ · · · ⊗ λ1 , wo λ1 das eindimensionale normierte Lebesgue-Maß ist.— Im Fall n = 2 haben wir u ¨ brigens das Maß auf welches sich der klassische Satz von Fubini bezieht; man kann die Integration schrittweise ausf¨ uhren Z Z Z 1 2 2 1 dx2 F (x1 , x2 ). F (x , x ) dλ = dx Ausblick und Ru ¨ckblick Wir haben gesehen, dass der Koordinatenwechsel von einem affinen Koordinatensystem zu einem anderen f¨ ur die Integrationstheorie eine einfache Sache ist, wenn man den Determinantenkalk¨ ul verstanden hat. In den folgenden Abschnitten werden wir die Konstruktion verallgemeinern; wir werden zuerst den Wechsel von einem krummlinigen (lokalen) Koordinatensystem zu einem anderen studieren, und uns dann mit orientierten Integrationsbereichen befassen. Im eindimensionalen Fall kennt man das Resultat unter dem Namen Substitutionsregel. Diese Regel wird u ¨blicherweise im Anf¨angerunterricht folgendermaßen formuliert: Satz 8.1.2 (Die elementare Substituionsregel). Es sei ϕ eine stetig differenzierbare Abbildung eines Intervalls auf ein Intervall ϕ:

[t′ , t′′ ] ∋ t −→ x = ϕ(t) ∈ [x′ , x′′ ] mit ϕ(t′ ) = x′ , ϕ(t′′ ) = x′′

dann gilt f¨ur jede stetige Funktion f (x) auf [x′ , x′′ ] Z

x′′

x′

f (x) dx =

Z

t′′

f (ϕ(t)) ϕ(t) ˙ dt.

t′

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

Die Sache ist relativ leicht einzusahen, wenn ϕ(·) eine monoton wachsende Abbildung ist. Man kann das Resultat auch leicht memorieren: x = ϕ(t) ⇒ dx = ϕ(t) ˙ dt. Etwas schwieriger wird die Sache, wenn ϕ(·) nicht monoton wachsend ist; dann muß man sich tats¨achlich mit orientierten Bereichen auf der reellen Achse auseinandersetzen. RIm Schulunterricht wird gesagt, dass f¨ ur eine nichtnegative Funktion f das Integral [a,b] f (x) dx die Fl¨ache unter der Kurve ist. Dabei ist a < b. Weiter definiert man R R f (x) dx = − f (x) dx. Aus unserem Blickwinkel, welcher schon auch die mehrdi[b,a] [a,b] mensionale Integration im Auge hat, stellt sich die Lage so dar: Man geht davon aus, dass die reelle Achse L als ein eindimensionaler affiner Raum gem¨aß der ‘Abszissenfunktion’ x(·) orientiert ist. F¨ ur a < b wird [a, b] als ein positiv gerichteter Bereich verstanden, [b, a] als ein negativ gerichteter Bereich. R t′′ ˙ dt hat die Regel um die Orientierung die Konsequenz, F¨ ur das Integral t′ f (ϕ(t)) ϕ(t) dass Integrationsintervalle [t1 , t2 ] mit ϕ(t1 ) = ϕ(t2 ) keinen Beitrag zum Integral liefern.— Im mehrdimensionalen Fall ist die Situation zun¨achst nicht ganz so durchsichtig. Wir haben uns schon fr¨ uher mit Kurvenintegralen besch¨aftigt. Es wurde f · dg entlang einer Kurve C integriert, die man ganz verschieden parametrisieren kann. Es zeigte sich, dass das Integral der ‘zur¨ uckgenommen’ Form f¨ ur jede Parametrisierung denselben Wert liefert. Die Sache erwies sich als recht durchsichtig, weil es bei der Integration der zur¨ uckgenommenen Form um eine einfache Integration u ¨ber ein Intervall handelt. Die Idee der Parametrisierung des (orientierten!) Integrationsbereichs RB wird sich auch bei kdimensionalen Bereichsintegralen bew¨ahren. Das Bereichsintegral B f ·dg 1 ∧· · ·∧dg k wird (lokal) auf ein Integral u ¨ber eine einfache Teilmenge eines (orientierten!) k-dimensionalen affinen Raum zur¨ uckgef¨ uhrt.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.2 : Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel

8.2

97

Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel

In der Differentialrechung ordnet man jeder stetig differenzierbaren Funktion f auf einer offenen Teilmenge U eines affinen Raums L ihr Differential zu: f 7→ df . Die Abbildung ist linear, und es gilt die Produktregel d(f · g) = f · dg + g · df. Weiter gilt die Kettenregel: Lemma. Ist {g k : k ∈ K} ein m-Tupel stetig differenzierbarer Funktionen auf U, und h = H(g) mit einem stetig diffbaren H(·) auf dem Bildbereich g(U) ⊆ RK , so gilt X dh = dH(g) = hk · dg k , k∈K

wo die hk die partiellen Ableitungen der Funktion H(·) sind. Das Differential von f im Punkte P ∈ L wird mit df |P bezeichnet. Es handelt sich um eine Linearform auf dem Tangentialraum im Punkte P , den man meistens mit TP

bezeichnet. df |P wird manchmal als der Anstieg von f im Punkte P bezeichnet. Die Zahl df |P , v gibt an, mit welcher Geschwindigkeit sich f ver¨andert, wenn man den Punkt P mit der durch v gegebenen Richtung und Geschwindigkeit durchl¨auft; man nennt die Zahl auch die Richtungsableitung von f in der Richtung v. Hinweis: Leute, die es gew¨ohnt sind, jeden Vektorraum (also auch den Tangentialraum TP ) als einen Euklidischen Raum zu sehen, machen keinen Unterschied zwischen Vektoren und Covektoren. F¨ ur sie ist eine Linearform (oder ein Covektor) nichts anderes als das innere Produkt mit einem Vektor. Der Vektor zu df |P heisst in dieser Denkweise der Gradient der Funktion im Punkt P ; der Anstieg in Richtung v ∈ TP ist das innere Produkt mit dem Gradienten in P . In dieser Sichtweise erscheint das Differential von f als ein spezielles Vektorfeld, eben das ‘Gradientenfeld’. Wir wollen hier nicht von Gradienten und Gradientenfeldern reden. Das Differential df , (welches nach Definition) jedem Punkt P einen Covektor zuordnet, ist ein Covektorfeld. Zu seiner Definition ben¨otigt man keine euklidische Struktur in den R¨aumen TP . P Definition 8.6. Einen Ausdruck der Form ω 1 = m cm · dg m nennt man eine glatte 1Form (oder Pfaffsche Form), wenn die g m stetig differenzierbar und die cm stetig P sind. Zwei solche Ausdr¨ ucke heissen gleich, wenn sie in jedem P dieselben Covektoren cm (P )·dg m|P liefern.  Definition 8.7. Es sei U eine offene Teilmenge des affinen Raums L und g i : i ∈ I ein I-Tupel stetig differenzierbare Funktionen. Das I-Tupel heisst ein lokales Koordinatensystem auf U, wenn, wenn die dg i in jedem Punkt P ∈ L linear unabh¨angig sind, und die Abbildung g(·) : U ∋ P 7−→ {g i (P ) : i ∈ I} ∈ RISp eine Bijektion ist. Bemerkungen:  1. Es sei xj : j ∈ J ein affines Koordinatensystem. Zu jeder glatten Funktion h auf U existiert genau eine stetig differenzierbare Funktion H(·) von n Variablen, sodass h(P ) = H(x1 (P ), . . . , xn (P )) f¨ ur P ∈ U. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

 2. Es sei g i : i ∈ I ein lokales Koordinatensystem und g i(P ) = Gi (x1 (P ), . . . , xn (P )). Die Gi (·) liefern dann eine bijektive Abbildung einer offenen Teilmenge des RJSp auf eine offene Teilmenge des RISp mit einer u ¨berall nichtsingul¨aren Jacobi-Matrix A=



∂G ∂x



,

i



aj =



∂Gi ∂xj



mit det A|P 6= 0 f¨ ur alle P ∈ U

P 3. Die Eintr¨age in der i−ten Zeile ergeben sich aus dem Differential dg i = j ai j dxj . Die ai j verstehen wir hier nicht als Funktionen der Variablen x, sondern als stetige Funktionen auf U. 4. A ist in jedem Punkt P eine Matrix P vom Format I × j. Es sei B = A−1 die Inverse j (vom Format J ×I). Es gilt dx = i bj i dg i. die Matrizen A und B = A−1 heissen die Matrizen des Koordinatenwechsels. 5. Nach dem (aus der Anf¨angervorlesung bekannten) Satz von der glatten Umkehrbarkeit von stetig differenzierbaren Bijektionen (von offene Teilmengen eines Rn ) exisn tieren stetig differenzierbare Funktionen X J sodass xj (P ) = X j (g 1 (P ),  . . .j ,x (P )). . Die Jacobi-Matrix ist offenbar die Matrix B mit den Eintr¨agen bj i = ∂X ∂g i

Beispiel 8.2.1. Auf einen offenen Teilbereich der geschlitzten Ebene seien die Funktionen x, y, r, φ wie u ¨blich definiert: x = r · cos φ,

y = r · sin φ.

Die cartesischen Koordinaten (x, y) und die Polarkoordinaten (r, φ) sind gleichgerichtete lokale Koordinatensysteme. Es gilt n¨amlich dx = cos φ · dr + (− sin φ) · r dφ, dy = sin φ · dr + (+ cos φ) · r dφ,      dr dx cos φ − sin φ = sin φ cos φ r dφ dy

dr = + cos φ · dx + sin φ · dy r dφ = − sin φ · dx + cos φ dy      dx dr cos φ sin φ = − sin φ cos φ dy r dφ

 i i i Sprechweise. Wenn g : i ∈ I  ein lokales Korrdinatensystem auf U ist, und a < b , i i i sodass urfel der Gr¨oße  P : a ≤ g (P ) ≤ b ⊆ U, dann nennen wir W einen g-W¨ Q i W i= i b −a . Aus einem g-W¨ urfel W gewinnt man einen gerichteten g-W¨ urfel W, indem man eine Aufz¨ahlung der Indexmenge spezifiziert. Aus einem lokalen Koordinatensystem auf U gewinnt man ein gerichtetes lokales Koordinatensystem, indem man eine Aufz¨ahlung der Koordinatenfunktionen festlegt. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.2 : Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel

99

Definition 8.8. Sei {g i : i ∈ I} ein aufgez¨ahltes lokales Koordinatensystem auf U. Mit dg 1 ∧ · · · ∧ dg n

oder kurz dg I

bezeichnet man dasQgerichtete Maß auf U, welches jedem entsprechend gerichteten gW¨ urfel seine Gr¨oße i bi − ai zuordnet. Offenbar ist durch diese Festlegung dg I eindeutig festgelegt. Wenn W entsprechend der ist, dann ist f¨ ur jedes nichtnegative Borel-messbare f auf U R Aufz¨a1 hlung I gerichtet n f · dg ∧ · · · ∧ dg eine wohlbestimmte nichtnegative Zahl. W Man k¨onnte folgendermaßen argumentieren: Die Abbildung g(·) bildet die offenen Teilmengen von U diffeomorph auf die offenen Teilmenge von g(U) ⊆ RI ab. Wenn man das Lebesgue-Maß auf dem RI durch die Umkehrabbildung g −1 auf U abbildet, dann ist dg 1 ∧ · · · ∧ dg n (bis auf die Spezifikation der Ausrichtung) das Bildmaß. Satz 8.2.1 (Satz von Jacobi).  Sind xj : j ∈ J und g i : i ∈ I lokale Koordinatensysteme auf U, so gilt  i ∂g 1 n 1 n . dg ∧ · · · ∧ dg = δ · dx ∧ · · · ∧ dx auf U mit δ = det ∂xj Beweis. Nach all unseren Vorbereitungen d¨urfte die Formel offensichtlich sein. Wir wollen sie aber doch noch weiter kommentieren. 1. Die Orientierung ist hier unproblematisch; wir k¨onnen von den gerichteten Maßen zu den ‘echten’ Maßen dµ(P ) (zu dxJ ), und dν(P ) (zu dg I ) u ¨bergehen. Die Koordinatentransformation kann auch als ein Diffeomorphismus zwischen offenen Teilmengen der R¨aume RJ und RI verstanden werden. Das Bild eines bzgl. des Lebesgue-Maßes totalstetigen Maßes ist offenbar totalstetig bzgl. des Lebesgue-Maßes. Es existiert aldν so eine Radon-Nikodym-Dichte dµ . Wenn man man den affinen Koordinatenwechseln vergleicht, ist klar, dass diese Dichte nichts anderes sein kann als die JacobiDeterminante. 2. Das folgende untermauert nochmals diese Feststellung.  j Approximationsargument Es sei x : j ∈ J ein affines Koordinatensystem auf dem affinen Raum L, und  g i : i ∈ I ein lokales Koordinatensystem auf U ⊆ L Wir bestimmen das Lebesgue  Maß eines kleinen g-W¨urfels W = P : ai ≤ g i(P ) ≤ bi = P : |g i(P )−g i(P˜ )| ≤ 1 i i (b − a ) . Es sei g˜(·) die affine Approximation bei P˜ : 2 g(P˜ + ∆x) = g(P˜ ) + G′ (P˜ ) · ∆x + o(k∆xk) = g˜(P˜ + ∆x) + o(k∆xk)

i Wenn die Seitenl¨angen (bi − ugend klein sind, dann gilt W− ⊂ W ⊂ W+ f¨ ur  a ) gen¨ 1 i i i ˜ i die affinen W¨urfel W± = P : |˜ g (P ) − g˜ (P )| ≤ (1 ± η) 2 (b − a ) Die Volumina ¨ der approximierenden affinen W¨urfel ergeben sich aus den obigen Uberlegungen uber ¨ affine Koordinatenwechsel.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

¨ Unsere Uberlegungen sind  j (nach der Tradition der elementaren Analysis) davon ausgegangen, dass x : j ∈ J ein affines Koordinatensystem sind auf einem Teil U eines affinen Raums L, m¨oglicherweise die ‘nat¨ urlichen’ Koordinaten auf dem Raum L = Rn . Die affine Struktur ist hier aber v¨ollig irrelevant, m¨oglicherweise sogar st¨orend. Jedes lokale Koordinatensystem auf einer offenen Menge U einer Mannigfaltigkeit M dient denselben Zwecken. Es gibt keinen Anlass, irgendein lokales Koordinatensystem ein ‘krummliniges’ und ein anderes ein affines Koordinatensystem zu nennen. Alle lokale Gleichungssysteme sind gleichberechtigt. Man sieht das an der folgenden Definition einer C 1 -Mannigfaltigkeit: Definition 8.9. Ein Hausdorff-Raum mit abz¨ahlbarer Basis (HRaB) M wird zu einer n-dimensionalen C 1 -Mannigfaltigkeit, indem man ein Funktionensystem Ω0 (M) als das System der glatten Funktionen auszeichnet. Vom Funktionensystem Ω0 (M) ist zu fordern: 1. (‘Lokalit¨at’) Wenn f eine Funktion ist mit der Eigenschaft, dass f¨ ur jeden Punkt P eine Umgebung U existiert, auf welcher f mit einer glatten Funktion u ¨bereinstimmt. dann ist f selbst eine glatte Funktion. f ∈ Ω0 (M). 2. ( ‘Abgeschlossenheit gegen¨ uber glatten Operationen’) Ist H(· , . . . , ·) eine stetig differenzierbare Funktion von m reellen Variablen, so gilt H(g 1, . . . , g m ) ∈ Ω0 (M)|U f¨ ur jedes m-Tupel glatter Funktionen g i auf U mit Werten im Definitionsbereich von H. (Hier bezeichnet Ω0 (M)|U die Menge der auf U eingeschr¨ankten glatten Funktionen.) 3. (‘Lokale Koordinatisierbarkeit’) Zu jedem Punkt P ∈ M existiert eine Umgebung U und ein n-Tupel glatter Funktionen xj : j ∈ J , sodass x(·) eine bijektive Abbildung auf eine offene Teilmenge des RJSp ist und f¨ ur ein g auf U mit g(P ) = 1 n G(x (P ), . . . , x (P )) gilt g(·) ∈ Ω0 (M)|U ⇐⇒ G(·) ist stetig differenzierbar. Beispiel 8.2.2 (Kugelkoordinaten). Auf dem geeignet geschlitzten R3 identifiziert man die Punkte P durch die sog. Kugelkoordinaten r ∈ R+ , −π/2 < θ < π/2, 0 ≤ φ < 2π.

Man rechnet leicht nach

x = r · cos θ · cos φ y = r · cos θ · sin φ z = r · sin φ.   ∂(r,θ,φ) det ∂(x,y,z) = −r 2 · cos θ.

dr ∧ dθ ∧ dφ = −r 2 · cos θ

Es gilt also

dx ∧ dy ∧ dz.

Beispiel 8.2.3. Auf dem geschlitzten R2 sind die cartesischen Koordinaten (x, y) und die Polarkoordinaten (r, φ) gleichsinnig aufgez¨ahlte lokale Koordinatensysteme. Es gilt @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.2 : Lokale Koordinatensysteme und die Jacobi-Formel

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dx ∧ dy = r · dr ∧ φ. Um die Orientierung m¨ ussen wir uns hier nicht sorgen; positive ‘Dichten’ u ¨ ber positiv orientierte Bereiche integriert, ergeben nichtnegative Werte. Wir wollen mittels Koordinatenwechsel und dem Satz von Fubini einige Differentialformen explizit integrieren. Z ∞ 2 Z Z 2 −1/2 x2 −1/2(x2 +y 2 ) dx = e e dx ∧ dy = e−1/2 r r dr ∧ dφ −∞ R2 R2 Z ∞ Z 2π 2 = e−1/2 r r dr · dφ = 2π. 0

0

Wir integrieren jetzt u ¨ber die positiv gerichtete rechte Halbebene U Z Z x 2 −1/2(x2 +y 2 ) p ·e dx ∧ dy = cos φ · e−1/2 r r dr ∧ dφ x2 + y 2 U U Z ∞ Z 2π 2 = e−1/2 r r dr · cos φ dφ = 2. 0

0

Beispiel 8.2.4 (Erstes und zweites Euler’sches Integral). Die Gamma-Funktion kann bekanntlich f¨ ur Argumente α ∈ R+ durch einen Integralausdruck gegeben werden, das sog. zweite Euler’sche Integral Z ∞ Γ(α) = xα−1 · e−x dx. f¨ ur 0 < α < ∞. 0

Das erste Euler’sche Integral liefert die sog. Betafunktion Z 1 B(α, β) = xα−1 · (1 − x)β−1 dx. f¨ ur 0 < α, β < ∞. 0

Ein Zusammenhang dieser Funktionen ergibt sich folgendermaßen Z ∞ Z ∞ α−1 −x Γ(α) · Γ(β) = x · e dx · y β−1 · e−y dy 0 Z0 Z = xα−1 · y β−1 · e−(x+y) dx ∧ dy Z ZB α−1  β−1  y α+β−1 −(x+y) 1 x dx ∧ dy · x+y · x+y = (x + y) ·e · x+y B Z ∞Z 1 = (x + y)α+β−1 · e−z · (1 − t)α−1 · tβ−1 · dz ∧ dt 0

0

= Γ(α + β) · B(α, β).

Beim Koordinatenwechsel y = z · t, x = z · (1 − t) gilt n¨amlich dx ∧ dy = z · dz ∧ dt. Und als Beschreibung des Integrationgebiets haben wir {(x, y) : 0 < x < ∞, 0 < y < ∞} = B = {(z, t) : 0 < z < ∞, 0 < t < 1} @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

Die Beispiele zeigen die Bedeutung der Jacobi-Formel f¨ ur die Technik des Integrierens. Wir wollen jetzt noch einige begrifliche Aspekte ansprechen, die f¨ ur die Verallgemeine1 rungen wichtig sind. Es ist uns gelungen, den Ausdruck dg ∧ · · · ∧ dg n maßtheoretisch zu interpretieren als das Bild einer (auf eine Menge U ′ ⊂ RISp eingeschr¨ankte) Gleichverurfel’ ⊂ U teilung; das Maß der affinen W¨ urfel ⊂ U ′ wurde auf die entsprechenden ‘g-W¨ gelegt (im Sinne des Push-Forward zur Abbildung ψ : U ′ → U ⊂ M, welche die Umkehrabbildung ist zur Koordinatenabbildung g : P 7→ (g 1 (P ), . . . , g n (P ))T . Die klassische 1 n Jacobi-Formel zeigt,  j wie man dg ∧ · · · ∧ dg in einem beliebig gew¨ahlten lokalen Koordinatensystem x : j ∈ J beschreiben kann; man ben¨otigt die Jacobi-Determinante  ∂g δ(P ) = det ∂x als Faktor. Es geht hier allerdings nicht wirklich um Bildmaße (im Sinne der Maßtheorie) sondern vielmehr um die Bilder gerichteter Maße. F¨ ur gerichtete W¨ urfel W ist Z Z dg 1 ∧ · · · ∧ dg n = δ · dx1 ∧ · · · ∧ dxn W

W

k eine wohldefinierte Zahl. Wenn z : k ∈ K ein weiteres lokales Koordinatensystem R  1 n ist, dann liefert W δ · det ∂x · dz ∧ · · · ∧ dz denselben Wert. In der Tat gilt n¨amlich ∂z    ∂g ∂g ∂x det ∂z = det ∂x · det ∂z Wir bemerken: Wenn wir von einer gerichteten Koordinatenumgebung U ausgehen, dann schreibt man f¨ ur die damit gleich gerichteten W¨ urfel W Z Z dg 1 ∧ · · · ∧ dg n = 1W · dg 1 ∧ · · · ∧ dg n . R

W



U

Damit wird klar, was U h · dg 1 ∧ · · · ∧ dg n f¨ ur weitere ‘Testfunktionen’ h bedeutet. Eine bequeme Klasse von Testfunktionen ist beispielsweise die Menge KU der stetigen h mit einem kompakten Tr¨ager ⊂ U. (Mit der Lebesgue’schen Fortsetzungstheorie k¨onnte man nat¨ urlich auch noch weiter gehen; doch ist das f¨ ur die Integration von Differentialformen ohne Bedeutung.) In der Theorie der Mannigfaltigkeiten arbeitet man auch mit Ausdr¨ ucken f · dg 1 ∧· · ·∧ n i dg , wo die g glatte Funktionen sind, die nicht notwendigerweise ein lokales Koordinatensystem bilden. Solche Ausdr¨ ucke treten nat¨ urlicherweise auf, wenn man mit Differentialformen nach den Regeln der multilinearen Algebra rechnet; eine direkte Interpretation (im Sinne der Maßtheorie) gibt es hier nicht. Das Integral solcher Differentialformen u ¨ber gerichtete Bereiche B wird definiert, indem man auch die verallgemeinerte Jacobi-Formel zur¨ uckgeht:   Z Z ∂g 1 n f · dg ∧ · · · ∧ dg = f · det · dx1 ∧ · · · ∧ dxn . ∂x B B Im n¨achsten Abschnitt besch¨aftigen wir uns mit der Frage, u ¨ber welche gerichteten Bereiche B wir solche Differentialformen integrieren wollen. Es geht also um die Verallgemeinerung des Begriffs der glatten Kurve auf h¨ohere Dimensionen. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.3 : Die Integration von k-Formen u ¨ ber glatte Zellen

8.3

103

Die Integration von k-Formen u ¨ ber glatte Zellen

In der Theorie der C 1 -Mannigfaltigkeiten arbeitet man nicht nur mit Differentialformen vom maximalen Grad n (lokal von der Form f · dg 1 ∧ · · · ∧ dg n ), wie wir sie oben im Zusammenhang mit der Jacobi-Formel studiert und interpretiert haben. Man betrachtet auch Differentialformen vom Grad k mit 0 ≤ k ≤ n. Die Menge der 0-Formen ist die Menge Ω0 (M) der glatten Funktionen. Die Menge der 1-Formen wird mit Ω1 (M) bezeichnet. Die Einsformen gewinnt man als Summen von Ausdr¨ ucken der Form mit f, g ∈ Ω0 (M). 1-Formen ω 1 kann man entlang von glatten R f dg Kurven integrieren; C ω 1 ist eine reelle Zahl. (Wenn es nur um die Integrale von f dg entlang von glatten Kurven geht, dann gen¨ ugen auch schw¨achere Voraussetzungen an die Funktion f . Die Glattheit von f braucht man, wenn df ∧ dg u ¨ber zweidimensionale glatte orientierte Bereiche integriert werden soll.) Die k-Formen gewinnt man als Summen von Ausdr¨ ucken der Form f dg 1 ∧ · · · ∧ dg k . Die geometrische Interpretation der k-Formen ω k und die Idee der Integration einer kForm sind nicht so einfach. Die k-Formen wollen wir daher hier zun¨achst einmal nur als Rechengr¨oßen behandeln. Die algebraischen Umformungsregeln sind die aus der multilinearen Algebra bekannten Regeln mit dem alternierenden Produkt ∧. L Die direkte Summe Ω(M) = n0 Ωk (M) hat nicht nur die Struktur eines Vektorraums. Man kann die ω k auch mit glatten Funktionen multiplizieren (Modulstruktur). (Ω0 (M) ist ein kommutativer Ring mit Eiselement). Ausserdem kann man Differentialformen mittels des Dach-Produkts ∧ miteinander multiplizieren (Algebra-Struktur). Das Produkt einer k-Form ω k mit einer r-Form η r ergibt eine (k + r)-Form ω r ∧ η r ∈ Ωk+r (M). (Struktur einer gradierten Algebra). F¨ ur k > n besteht Ωk (M) nur aus der Null. Und schliesslich gibt es eine ausgezeichnete lineare Abbildung d, welche eine Produktregel erf¨ ullt. Sie heisst die Cartan-Ableitung oder auch die ‘¨aussere’ Differentiation. F¨ ur k k k k+1 ω ∈ Ω (M) ist dω (im Wesentlichen, d. h. mit  Abstrichen bei der Glattheit)) in Ω (M) und d ◦ d(ω k ) = 0. Es gilt d f dg 1 ∧ · · · ∧ dg k = df ∧ dg 1 ∧ · · · ∧ dg k . Die Gesamtheit aller Differentialformen mit allen diesen Strukturen nennt man den de Rham-Komplex der Mannigfaltigkeit M. Es ist hier nicht der Ort. um diese Struktur systematisch zu entwickeln. Wir wollen aber einige Andeutungen machen. Beispiel 8.3.1. Die Regeln des Umrechnens von k-Formen auf einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit erl¨autern  wir im Beispiel  j k = 2, n = 3. Es sei (x, y, z) = x : j ∈ (1, 2, 3) ein lokales Koordinatensystem auf der offenen Menge U. g 1 , g 2 seien glatte Funktionen. Wir wollen die auf U eingeschr¨ankte 2-Form ω 2 = dg 1 ∧ dg 2 im gegebenen Koordinatensystem darstellen. Wir werden Funktionen c1 , c2 , c3 finden, sodass ω 2 = dg 1 ∧ dg 2 = c1 dy ∧ dz + c2 dz ∧ dx + c3 dx ∧ dy auf U . Wir gehen von den ‘Anstiegen’ der Funktionen g 1 , g 2 aus, d. h. von den 1-Formen dg i =

X

ai j dxj

mit ai j =

∂g i ∂xj

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

104

Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

Das Distributivgesetz f¨ ur das ∧-Produkt liefert wegen ( −dxk ∧ dxj f¨ ur j = 6 k dxj ∧ dxk = 0 f¨ ur j = k dg 1 ∧ dg 2 = mit

1

c1 = a

X

jk 2 2a 3

a1 j a2 k dxj ∧ dxk = c1 dy ∧ dz + c2 dz ∧ dx + c3 dx ∧ dy − a1 3 a2 2 ;

c2 = a1 3 a2 1 − a1 1 a2 3 ;

c3 = a1 1 a2 2 − a1 2 a2 1

Diese Koeffizienten sind die 2 × 2-Unterdeterminanten der Jacobimatrix   1 ∂g i a 1 a1 2 a1 3 A= j = . a2 1 a2 2 a2 3 . ∂x   Es seien (x1 , x2 , x3 ) und (y 1, y 2 , y 3) lokale Koordinatensysteme Wenn eine 2-Form ω 2 , welche in der Gestalt ω 2 = b1 dy 2 ∧ dy 3 + b2 dy 3 ∧ dy 1 + b3 dy 1 ∧ dy 2 gegeben ist, umgerechnet werden soll in die Form ω 2 = c1 dx2 ∧ dx3 + c2 dx3 ∧ dx1 + c3 dx1 ∧ dx2 , dann ben¨otigt man die 3 × 3-Matrix, deren Eintr¨age als die 2 × 2-Unterdeterminanten der Jacobi-Matrix gewonnen werden. Ebenso verh¨alt es sich mit den k-Formen auf einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit. Wenn man die k-Form X ωk = bi1 ...ik dy i1 ∧ · · · ∧ dy ik i1 <···
 umrechnen will auf das lokale Koordinatensystem (x1 , . . . xn ) X ωk = cj1 ...jk dxj1 ∧ · · · ∧ dxjk , j1 <···
  dann ben¨otigt man die Matrix vom Format nk × nk , deren Eintr¨age als die k × kUnterdeterminanten der Jacobi-Matrix gewonnen werden.   Definition 8.10. Es seien K, Ω0 (K) und N, Ω0 (N) C 1 -Mannigfaltigkeiten. Eine Abbildung α(·) : K −→ N heisst eine glatte (oder stetig differenzierbare) Abbildung, wenn f¨ ur jede glatte Funktion h auf M die zur¨ uckgenommene Funktion α∗ (h) glatt ist. Bemerke: Es sei α(·) eine glatte Abbildung der Mannigfaltigkeit K in  i k-dimensionalen die n-dimensionale Mannigfaltigkeit N. Es sei t : i ∈ I ein lokales Koordinatensystem  ˜ ∈ K und xj : j ∈ J ein lokales Koordinatensystem beim Bildpunkt P˜ = bei Q ˜ Die Abbildung wird dann lokal dargestellt durch ein n-Tupel stetig differenzierbarer α(Q).  Funktionen von k Variablen X j (·) : j ∈ J   α∗ (xj ).(Q) = xj α(Q) = X j t1 (Q), . . . , tk (Q) @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.3 : Die Integration von k-Formen u ¨ ber glatte Zellen

105

Fortsetzung der Pullback-Abbildung auf den Raum der Formen Ω(M): Der Anstieg der zur¨ uckgenommenen Funktion α∗ (g) im Punkt Q h¨angt nur vom Anstieg dg im Bildpunkt P = α(Q) ab. Es ist also sinnvoll, die Pullback-Abbildung auf die Pfaff’schen Formen auszudehnen: α∗ (f dg) = α∗ (f ) d α∗ (g) . Entsprechend wird α∗ (ω k ) definiert f¨ ur alle k-Formen auf der Ziel-Mannigfaltigkeit.   Die Pullback-Abbildung ist vertr¨aglich mit dem ∧-Produkt α∗ ω ∧ η = α∗ ω ∧ α∗ η . Wenn wir uns sp¨ater mit der Cartan-Ableitung (auf K und auf N) befassen, dann werden wir sehen, dass sie mit der  Pullback-Abbildung vertr¨aglich ist: f¨ ur jede k-Form ω k auf M gilt α∗ (dω k ) = d α∗ (ω k ) . (Man verwendet das Symbol d“ f¨ ur die Cartan-Ableitung auf jeder Mannigfaltigkeit.) ” Integrationsbereiche: M¨ogliche Integrationsbereiche f¨ ur eine k-Form ω k sind die gerichteten glatten k-Zellen. Das Schema der Definition ist dasselbe wie das f¨ ur glatte Kurven mit Durchlaufungssinn. Eine glatte k-Zelle auf einer Mannigfaltigkeit ist ei¨ ne Aquivalenzklasse parametrisierter glatter k-Zellen. Gerichtete parametrisierte k-Zellen liefern dieselbe gerichtete k-Zelle, wenn eine Umparametrisierung mit positiver JacobiDeterminante existiert. Bevor wir die Definitionen pr¨azise machen k¨onnen, m¨ ussen wir uns mit gerichteten affinen k-Zellen befassen. Definition 8.11 (Affine Zellen). Ein kompaktes konvexes Polyeder der Dimension k in irgendeinem affinen Raum L heisst eine affine k-Zelle. Besonders wichtige (gerichtete) affine k-Zellen sind einerseits die (gerichteten) affinen W¨ urfel und andererseits die gerichteten affinen Simplexe. Der Rand einer affinen k-Zelle ist (mengentheoretisch) die Vereinigung von affinen (k − 1)-Zellen. Algebraisch gesehen, sind diese affinen (k −1)-Randzellen noch mit einer Orientierung zu versehen. Anschaulich gesprochen geschieht das so: Die Basis auf einem Randst¨ uck ist so zu orientieren, dass sie durch einen nach aussen zeigenden Vektor an erster Stelle zu einer die k-Zelle richtig orientierenden Basis wird. Wir ben¨ utzen bevorzugt den Buchstaben W f¨ ur gerichteten affine k-Zellen. Den Randoperator ∂(·) : W 7−→ ∂W werden wir im n¨achsten Unterabschnitt genauer studieren. Definition 8.12 (Parametrisierte glatte Zellen). Eine parametrisierte glatte k-Zelle in einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit N ist gegeben durch eine Abbildung β(·) einer affinen k-Zelle W nach N, welche in eine Umgebung von W stetig differenzierbar fortsetzbar ist. Wenn W ein gerichteter Zelle ist, dann liefert β(·) eine gerichtete parametrisierte glatte Zelle. Zur sprachlichen Verschlankung unterdr¨ ucken wir im Folgenden den Zusatz glatt‘. ’ Bemerkungen  1. F¨ ur jede k-Form ω k kann die zur¨ uckgenommene Form β ∗ ω k u ¨ber jede orientierte R  ∗ k affine k-Zelle W integriert werden: W β ω ist eine wohldefinierte reelle Zahl. P 2. Wenn W in affine Zellen zerlegt ist W = Wk (alle mit derselben Ausrichtung), dann addieren sich die Integrale. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

106

Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

3. Jede glatte Abbildung liefert eine Pushforward-Abbildung f¨ ur parametrisierte Zellen. Ist n¨amlich β(·) eine parametrisierte k-Zelle auf der Mannigfaltigkeit N und ϕ(·) : N → M eine glatte Abbildung, dann liefert ϕ ◦ β(·) eine parametrisierte k-Zelle. Definition 8.13 (Glatte orientierte Zellen auf einer Mannigfaltigkeit). Zwei parametrisierte gerichtete k-Zellen in der Mannigfaltigkeit N β ′ (·) : W ′ → N,

und β ′′ (·) : W ′′ → N

nennen wir ¨aquivalent, wenn ein die Orientierung respektierender Diffeomorphismus α : W ′ → W ′′

existiert, sodass auf W ′ gilt

β ′ (·) = β ′′ (α(·)).

Sprechweise. Wir sagen in diesem Falle auch, dass die Abbildungen β ′ und β ′′ dieselbe ¨ gerichtete k-Zelle Bk bestimmen. Die Repr¨asentanten der Aquivalenzklasse nennen wir ¨ die Parametrisierungen der gerichteten Zelle Bk . Den Ubergang von von einem Repr¨asentanten zu einem weiteren nennen wir eine Umparametrisierung. (Genauer gesagt geht es hier immer darum, dass ein Diffeomorphismus einer Umgebung von W ′ (im aufgespannten k-dimensionalen affinen Raum) auf eine Umgebung von W ′′ (. . . ) existiert, sodass . . . .) Satz 8.3.1. Gegeben seien ¨aquivalente parametrisierte gerichtete k-Zellen β ′ (·) : W ′ → N,

β ′′ (·) : W ′′ → N.

und

F¨ur jede k-Form ω k gilt dann Z

β W′

′∗

ω

k



=

Z

W ′′

 β ′′∗ ω k .

F¨ur jede gerichtete k-Zelle in N und jede k-Form ist also

R

Bk

ω k eine wohlbestimmte Zahl,

Bemerke: Der Satz verallgemeinert die Aussage u uher ¨ ber Kurvenintegrale, die wir fr¨ (sogar unter schw¨acheren Regularit¨atsannahmen) bewiesen haben: F¨ ur jede orientierte R Kurve C in der Mannigfaltigkeit und jede Pfaff’sche Form ω 1 ist das Kurvenintegral C ω 1 eine wohldefinierte Zahl. Das gilt insbesondere f¨ urdie ‘elementaren’ 1-Formen ω 1 = f dg; f¨ ur jede Parametrisierung der gerichteten Kurve γ(t) : a ≤ t ≤ b liefert das Stieltjes  Rb R Integral a f γ(t) dG(t) mit G(t) = g γ(t) denselben Wert C f dg. Beweis. Es sei ω k eine k-Form auf der Mannigfaltigkeit und η k = β ′′∗ (ω k ) die auf eine k-dimensionale Umgebung U ′′ des W¨urfels W ′′ zur¨uckgenommene k-Form. Wegen β ′ (·) = β ′′ (α(·)) (und daher α∗ ◦ β ′′∗ (·) = β ′∗ (·)) ergibtsich β ′∗ (ω k ) = α∗ (η k ) auf einer kdimensionalen Umgebung U ′ des W¨urfels W ′ = Q : Q ∈ W ′ . @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.3 : Die Integration von k-Formen u ¨ ber glatte Zellen

107

Es gen¨ugt somit, zu zeigen: Wenn α(·) eine Umgebung U ′ ⊂ W ′ diffeomorph auf U ′′ ⊆ W ′′ = α(W ′ ) abbildet und dabei die Richtung respektiert, dann gilt Z Z ∗ k α (η ) = ηk . W′

W ′′

Die Aussage des Satzs ist hiermit auf einen Spezialfall zur¨uckgef¨uhrt: Es sei z 1 , . . . , z k ein affines Koordinatensystem auf W ′′ in einer Aufz¨ahlung, die zur ′′ Orientierung von W passt, Mit einer wohlbestimmten Funktion f auf W ′′ , f (P ) =  F z 1 (P ), . . . , z k (P ) , gilt Z Z k 1 k k η = f dz ∧ · · · ∧ dz und η = 1W ′′ · F (z 1 , . . . , z k ) dz 1 ∧ · · · ∧ dz k , W ′′

Die zur¨ uckgenommenen Funktionen hl = α∗ (z l ) bilden ein krummliniges Koordinatensystem auf U ′′ . Die Aufz¨ahlung passt (nach Annahme) zur Orientierung von W ′ . Wir stellen die zur¨uckgenommene Form α∗ (η k ) in den h-Koordinaten dar.  α∗ dz 1 ∧ · · · ∧ dz k = d(α∗ z 1 ) ∧ · · · ∧ d(α∗ z k ) = dh1 ∧ · · · ∧ dhk ,   Wenn f (P ) = F z 1 (P ), . . . , z k (P ) , dann gilt α∗ (f ) = F h1 , . . . , hk , α∗ (1W ′′ ) = 1W ′ R R Wir haben daher α∗ (η k ) = 1W ′ · F (h1 , . . . , hk ) dh1 ∧ · · · ∧ dhk und damit ist alles W′ bewiesen. Ru ¨ckschau und Vorausschau Als wir am Anfang dieser Veranstaltung von Umlaufsintegralen sprachen, wurde klar, dass die Integrationsbereiche f¨ ur 1-Formen die ‘Summen’ von gerichteten (einigermaßen glatten) Kurven sind. Im gleichen Sinn kann man sagen, dass die Integrationsbereiche f¨ ur k-Formen die Summen von gerichteten k-Zellen sind. Solche Summen, die sog. k-Ketten werden im n¨achsten Unterabschnitt diskutiert. Summen von Zellen kommen beispielsweise da ins Spiel, wo wir eine k-Form u ¨ ber den Rand einer (k + 1)-dimensionalen gerichteten Zelle integrieren. Von solchen Randintegralen handelt ein zentraler Satz der Integration auf Mannigfaltigkeiten, der Satz von Stokes Z Z k dω = ωk. B

∂B

In Worten: Wenn es gilt, eine (k + 1)-Form der Gestalt ω k+1 = dω k u ¨ ber einen gerichteten Bereich B zu integrieren, dann kann man das Ergebnis auch so gewinnen, dass man die Form ω k u ¨ ber den Rand integriert. Diese Formel wollen wir nach und nach begreifen. Eben haben wir gelernt, was es heisst, eine k-Form u ¨ber eine gerichtete Zelle zu integrieren. Es ging so, dass man die Form ω k zur¨ uckzieht auf eine gerichtete affine Zelle und das Resultat β ∗ (ω k ) = f dz 1 ∧ · · · ∧ dz k im Sinne von Lebesgue integriert. Zum Verst¨andnis des Satzes von Stokes fehlt noch der Begriff des Rands. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

108

Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

Beispiel 8.3.2. Im Falle k = 1 k¨onnte man (etwas laienhaft) sagen, dass der Rand einer gerichteten Kurve C auf einer Mannigfaltigkeit aus zwei Punkten ‘besteht’, wo der Endpunkt positiv und der Anfangspunkt negativ zu z¨ahlen ist, R∂C = PeR−Pa . Wenn die 1-Form ω 1 der ‘Anstieg’ einer Funktion h ist, ω 1 = dh, dann gilt C ω 1 = C dh = h(Pe ) − h(Pa ). Die Situation ist m¨oglicherweise aus der Elektrostatik bekannt. Das elektrische Feld entsteht aus einem Potential; die Arbeit, die man leisten muss, um eine Probeladung entlang einer Kurve C gegen das Kraftfeld von Pa nach Pe zu transportieren, ergibt sich aus der Potentialdifferenz U(Pe ) − U(Pa ); sie ist unabh¨angig von der Kurve. Beispiel 8.3.3. F¨ ur ein Beispiel im Fall k = 2 betrachten wir einen besonders einfachen 2 Bereich im R , (der durch die Aufz¨ahlung der Koordinaten (x, y) orientiert wird,) n¨amlich  B = P : a ≤ x(P ) ≤ b, h(x) ≤ y(P ) ≤ k(x) , wo h, k Funktionen auf [a, b] sind mit h(x) ≤ k(x) f¨ ur alle x ∈ [a, b]. Der Rand ist die Summe von 4 Kurven ∂B = Cl +Cu +Cr +Co , wo die linke Randkurve parallel zur y-Achse von k(a) nach h(a) zu durchlaufen ist, die untere Kurve Cu entlang des Graphen der Funktion h(·) von h(a) nach h(b), usw. Das Randintegral der Form ω 1 = f dx ist R=

Z

b

a

  f (x, h(x)) − f (x, k(x)) dx =

Z bZ a

k(x) h(x)

  Z ∂f dy dx = dω 1. − ∂y ∂B

Wir haben oben den Spezialfall behandelt, wo k(·) = 0 und ω 1 = −y dx. Es ergibt sich R Rb R = ∂B ω 1 = a h(x) dx, also (wie man im Schulunterricht sagt) die ‘Fl¨ache R unter der 1 Kurve h(·)’. Wegen dω = dx ∧ dy sagt das auch der Satz von Stokes: R = B dx ∧ dy. Beispiel 8.3.4. Wir betrachten nun den Fall ω 1 = g(x, y) dy, also dω 1 = p(x, y) dx ∧ dy ∂g . Das Randintegral liefert auf den ‘senkrechten’ Kurvenst¨ ucken mit p = ∂x Z

k(b) h(b)

g(b, y) dy −

Z

k(a)

g(a, y) dy

h(a)

und entlang der beiden anderen Kurvenst¨ ucken wegen dy = h′ (x) dx bzw. dy = k ′ (x) dx Z

b

a



g(x, h(x))h (x) dx −

Z

b

g(x, k(x))k ′ (x) dx

a

Auf der anderen Seite berechnen wir das Bereichsintegral Z

∂B

p(x, y)) dx ∧ dy =

Z bZ a

k(x)

p(x, y) dy dx.

h(x)

Die behauptete Gleichheit ergibt sich aus d dx

Z

k(x)

g(x, y) dy = h(x)

Z

k(x)

h(x)

p(x, y) dy + g(x, k(x))k ′ (x) − g(x, h(x))h′ (x).

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.3 : Die Integration von k-Formen u ¨ ber glatte Zellen

109

Beispiel 8.3.5. Besonders einfach ist wenn  die jRechnung, der Integrationsbereich wirklich k j j ein affiner W¨ urfel im R ist, B = P : a ≤ x (P ) ≤ b . F¨ ur die (k − 1)-Form

ω k−1 = g · dx1 ∧ · · · ∧ dxj ∧ · · · ∧ dxk ,   liefern nur die Randw¨ urfel Rj+ = B ∩ P : xj (P ) = bj und Rj− = B ∩ P : xj (P ) = aj einen Beitrag zum Randintegral. Wie im obigen zweidimensionalen Beispiel schreiben wir j

j

g(· · · b · · · ) − g(· · · a · · · ) =

Z

bj aj

∂g j dxj . dxj

So wird aus der Differenz der (k − 1)-dimensionalen Integralen von ω k−1 u ¨ ber die gegen¨ uberliegenden W¨ urfel das k-dimensionale Integral von dω k−1 u urfel. Der ¨ber den W¨ Satz von Stokes kann so f¨ ur W¨ urfel bewiesen werden, da Pman jede k − 1-Form als Summe Formen der betrachteten Art darstellen kann: ω k−1 = g j · dx1 ∧ · · · ∧ dxj ∧ · · · ∧ dxk .

Hinweis: Die Fragen der Orientierung des Randes sollen im anschliessenden Unterabschnitt etwas genauer in Augenschein genommen werden. Von den glatten W¨ urfeln kann man schliesslich zu Summen von glatten Zellen, den sog. glatten Ketten weitergehen. Wie das geht, werden wir ebenfalls andeuten. Didaktischer Hinweis: Die Integrationsbereiche f¨ ur Formen sind in Anwendungen nicht immer von vorneherein durch Parametrisierungen gegeben; man muss geeignete Parametrisierungen finden. Nicht in allen F¨allen ist es leicht, sich von den als Integrationbereiche in Frage kommenden Kurven, Fl¨achen, Raumbereichen . . . eine deutliche Vorstellung zu machen ohne auf irgendwelche Parametrisierungen zur¨ uckzugreifen. Manchmal sind Integrationsbereiche als L¨osungsmengen von Gleichungssystemen gegeben. Denken wir zuerst an ‘F¨achenst¨ ucke’ im R3 . Wenn man zun¨achst von der Ausrichtung absieht, dann sieht eine solche Menge m¨oglicherweise aus wie das gemeinsame Nullstellengebilde eines Paars von Funktionen {P : f 1 (P ) = 0, f 2 (P ) = 0}, wo df 1 und df 2 linear unabh¨angig sind. Die Grundlage f¨ ur solche Vorstellungen ist der Satz von der implizit gegebenen Funktion. Die Sache ist aber mit Vorsicht zu betrachten. Der Weg von den sog. Untermannigfaltigkeiten zu den gerichteten Bereichen Bk ist einigermaßen diffizil. Wenn man die Zusammenh¨ange pr¨azise kn¨ upfen will, ben¨otigt man einen Begriffsapparat, der die M¨oglichkeiten einer Veranstaltung u ¨ber Integration bei weitem u ¨bersteigt.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

110

Die Integration von Differentialformen

8.4

Der Randoperator

Integrationstheorie

Ein affines Simplex der Dimension m ist die konvexe H¨ ulle von m + 1 Punkten in allgemeiner Lage. Je l + 1 Extremalpunkte bestimmen eine l-dimensionale Seite. Das Simplex selbst ist die einzige m-dimensionale Seite. Es gibt genau m + 1 Randsimplizes der Dimension m − 1. Die Extremalpunkte sind die 0-dimensionalen Seiten. Durch eine Aufz¨ahlung seiner Extremalpunkte P0 , P1 , . . . , Pm erh¨alt ein m-dimensionales Simplex eine Ausrichtung. Zwei Aufz¨ahlungen, die durch eine gerade Permutation auseinander hervorgehen, definieren dieselbe Ausrichtung. Die entgegengesetzte Ausrichtung erh¨alt man, wenn man das Tupel der Extremalpunkte einer ungeraden Permutation unterwirft. Wir erl¨autern die Beziehungen zu den gerichteten affinen W¨ urfeln W: Eine simpliziale Zerlegung eines Wu rfels. ¨ Es sei [P0 , P1 , . . . , Pm ] ein affines Simplex mit aufgez¨ahlten Ecken. P1 = P0 + v1 , P2 = P0 + v1 + v2 , . . . , Pm = P0 + v1 + · · · + vm . Jeder Punkt P im Simplex hat genau eine Darstellung P = λ0 P0 + λ1 P1 + · · · + λm Pm = P0 + λj ≥ 0,

1=

m X 0

λj ,

c1 =

m X 1

λj ,

...

Xm 1

cj · vj

ck =

m X

mit

λj . . . .

k

 P Der W¨ urfel W = P : P = P0 + cj · vj , ∀j 0 ≤ λj ≤ 1 ist die Vereinigung der m!Simplexe Sπ , wenn ur jede Aufz¨ahlung der Indizes π = (j1 , . . . , jm ) definieren P wir f¨ Sπ = P : P = P 0 + cj · vj , 1 ≥ cj1 ≥ cj2 ≥ · · · ≥ cjm ≥ 0 . Die Schnittmengen urfels besteht aus 2m Randw¨ urfeln Sπ′ ∩ Sπ′′ sind (m − 1)-Simplexe. Der Rand des W¨ der Dimension m − 1; seine Punkte sind die Punkte mit cj = ±1. Er ist die Vereinigung der aussen gelegenen Rand-Simplexe der Sπ . Die innen gelegenen (m − 1)-dimensionalen Randsimplexe der Sπ treten jeweils zweimal auf. Ausrichtung der Randsimplexe bzw. Randwu ¨rfel Eine Ausrichtung eines m-dimensionalen Simplex (m ≥ 1) induziert eine Ausrichtung auf jedem (m − 1)-dimensionalen Randsimplex.Wie das funktioniert, erl¨autern wir zuerst f¨ ur die Dimension m = 2.   [P1 , P2 ] [P0 , P1 , P2 ] ; [P2 , P0 ] .   [P0 , P1 ]

Man notiert ∂[P0 , P1 , P2 ] = [P1 , P2 ] + [P2 , P0 ] + [P0 , P1 ] P = [P1 , P2 ] − [P0 , P1 ] + [P0 , P1 ]. m k F¨ ur ein m-Simplex definiert man ∂[P0 , P1 , . . . , Pm ] = 0 (−1) · [P0 , . . . , Pk , . . . , Pm ]. ¨ Die Uberstreichung bedeutet, dass der u ¨ berstrichene Punkt wegzulassen ist. Das MinusZeichen zeigt an, dass die nachfolgende Punktfolge einer ungeraden Permutation zu unterziehen ist. In Worten beschreibt man die Ausrichtung der Randsimplexe folgendermaßen: @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

8.4 : Der Randoperator

111

Es sei [P0 , P1 , . . . , Pm ] ein gerichtetes Simplex mit positiv aufgez¨ahlten Eckpunkten. Das Randsimplex, welches man erh¨alt, indem man den k-ten Eckpunkt wegl¨asst, ist positiv auszurichten, wenn das m-Simplex, welches man erh¨alt, indem man den weggelassenen Eckpunkt an der Stelle 0 wieder einf¨ ugt, das gegebene m-Simplex mit der richtigen Ausrichtung ergibt. Das ist offenbar genau dann der Fall, wenn k gerade ist. Man u ur ein ausgerichtetes Simplex S wohl¨berzeugt sich, dass der Randoperator ∂ f¨ definiert ist; d. h. wenn man die Folge [P0 , P1 , . . . , Pm ] einer ungeraden Permutation unterzieht, dann ¨andern alle Summanden das Vorzeichen. Einem ausgerichteten Simplex ordnen wir das algebraische Symbol S zu, dem entgegengesetzt Simplex  ausgerichteten   das algebraische Symbol − S . Offenbar gilt ∂ − S = −∂ S .

Simpliziale Ketten Es sei nun {Sα : α ∈ I} eine Familie von ausgerichteten Simplizes mit der Eigenschaft, dass auch alle Randsimplizes der Sα (in der einen oder anderen Ausrichtung) zur Familie geh¨oren. Der Randoperator wird Summen ausgedehnt. Die formalen ganzzahP auf formale ligen Summen bezeichnen wir cα · Sα , wo {cα : α ∈ I} eine Familie ganzer Zahlen ist mit nur endlich vielen 6= 0. Diese algebraischen Objekte heissen die ganzzahligen Kettten, Man definiert den Randoperator auf dieser abelschen Gruppe C X  X ∂ c α · Sα = cα · ∂(Sα ).

Der Rand eines 0-dimensionalen Simplex ist = 0. Mit den formalen ¨ blich gerechnet: P Summen der Simplizes Sα wird wie u P dα · Sα = (cα + dα ) · Sα .

P

cα · Sα +

Definition 8.14. Wenn in einer Kette nur Simplizes mit der Dimension ≤ q nichtverschwindende Koeffizienten haben, dann sagen wir, es handle sich um eine Kette von der Dimension ≤ q. Die Gruppe dieser Ketten heisst die Kettengruppe zum q-dimensionalen Ger¨ ust und wird mit C≤q bezeichnet. Eine Kette, in welcher nur Simplizes der Dimension q mit einem Koeffizienten 6= 0 vorkommen, heisst eine Kette der Dimension q. (Man beachte, dass die Null eine Kette von jeder Dimension ist.) Die Gruppe der Ketten von der Dimension q wird mit Cq bezeichnet. C ist die direkte Summe dieser Untergruppen: M C = C0 ⊕ C1 ⊕ C2 ⊕ · · · = Cq . q=0

Der Randoperator bildet Cq in Cq−1 ab; ∂q bezeichnet seine Einschr¨ankung auf Cq . ∂





1 2 3 0← − C0 ←− C1 ←− C2 ←−

Satz 8.4.1. Der Rand eines Rands verschwindet;

··· ∂◦∂ =0

Beweis. Es gen¨ugt, das f¨ur Simplizes der Dimension m ≥ 2 nachzuweisen. Sei S = [P0 , P1 , . . . , Pm ] ein Simplex mit aufgez¨ahlten Ecken. In ∂S tauchen nur solche Tupel auf, @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

die einen Extremalpunkt weniger haben; in ∂ ◦ ∂(S) kommen diejenigen mit zwei Extremalpunkten weniger vor, jedoch mit dem Koeffizienten = 0, weil die Reihenfolge des Weglassens verschiedene Vorzeichen ergibt. Die Ketten der Dimension q, deren Rand verschwindet, heissen die q-dimensionalen Zyklen. Zq bezeichnet die Gruppe der q-dimensionalen Zyklen: Zq = {c : ∂q c = 0}. Die Untergruppe der q-dimensionalen R¨ander wird mit Bq bezeichnet: Bq = ∂q+1 Cq+1 . Die Faktorgruppe Hq = Zq /Bq = ker ∂q /im ∂q+1 . heisst die q-te ganzzahlige Homologiegruppe der Familie {Sα : α ∈ I}. Ged¨achtnishilfe: Die Buchstaben C, Z, B erkl¨aren sich durch die englischen W¨orter: Kette = chain, Rand = boundary, Jeder Rand ist ein Zyklus. Hinweis auf die Orientierungen einer Mannigfaltigkeit: Wenn P0 , P1 , . . . , Pm ein affines Simplex mit aufgez¨ahlten Ecken ist, dessen Ausrichtung als positiv festgelegt wurde, dann induziert das eine Orientierung des aufgespannten affinen Raums. Eine Mannigfaltigkeit wird zu einer orientierten Mannigfaltigkeit, indem man f¨ ur jede Aufz¨ahlung der Elemente einer lokalen Basis festlegt, ob sie als positiv und als negativ gelten soll. Dabei ist Vertr¨aglichkeit gefordert: Wenn zwei Kartengebiete einen nichtleeren Durchschnitt haben, dann haben die Aufz¨ahlungen der lokalen Koordinatensysteme genau dann dasselbe Vorzeichen, wenn die Jacobimatrix u ¨berall im Durchschnitt positives Vorzeichen hat. Man u ¨ berlegt sich leicht: Wenn eine zusammenh¨angende Mannigfaltigkeit u ¨berhaupt eine Orientierung besitzt, dann besitzt sie genau zwei Orientierungen, Die einfachste Mannigfaltigkeit, die keine Orientierung besitzt ist das ber¨ uhmte M¨obiusband. Affine Kettenkomplexe Der Rand wurde oben rein kombinatorisch konstruiert. Wir denken nun aber auch kurz (zur Unterst¨ utzung der Anschaulichkeit) an Simplizes (oder Zellen), die als kompakte konvexe Mengen in einem hochdimensionalen affinen Raum liegen. Definition. Es sei S eine Menge von affinen Simplizes (in irgendeinem affinen Raum) mit den Eigenschaften (i) Geh¨ort das Simplex S zu S, so geh¨ort auch jede Seite zu S (ii) F¨ ur je zwei Simplizes in S ist der Durchschnitt entweder leer oder eine gemeinsame Seite. Die Vereinigung dieser Simplizes heisst dann ein simplizialer Komplex oder auch ein simplizial zerlegter affiner Komplex. Die Topologen definieren: Ist ein topologischer Raum X zu einem simplizialen Komplex hom¨oomorph, so heisst er triangulierbar oder auch ein topologisches Polyeder. Eine Triangulation oder simpliziale Zerlegung des topologischen Raums X liegt vor, wenn eine topologische Abbildung eines simplizialen Komplexes auf X fixiert ist. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Wichtig ist die Verallgemeinerung, die man einen affinen Zellenkomplex nennt. Statt der Simplizes hat man kompakte konvexe Polyeder mit den obigen Eigenschaften. Jede m-dimensionale gerichtete Zelle K induziert eine Ausrichtung f¨ ur jede der (m − 1)dimensionalen Randzellen, wie oben beschrieben : Es sei [P1 , . . . , Pm ] ein Simplex mit aufgez¨ahlten Ecken in einer Randfl¨ache und [P0 , P1 , . . . , Pm ] ein Simplex in K; der Randoperator u ¨bertr¨agt dann die Orientierung der Eckenaufz¨ahlung. Die weiteren Begrifflichkeiten um die ‘topologischen Polyeder’ m¨ ussen wir hier noch nicht entwickeln; wir interessieren uns vorerst nur f¨ ur die kombinatorischen Gegebenheiten. Wir diskutieren zun¨achst einmal das eindimensionale Ger¨ ust eines simplizialen Komplexes; denn hier k¨onnen wir an die Vorstellungsweisen der Graphentheorie ankn¨ upfen. Der Kettenkomplex zu einem Graphen Gegeben sei ein ungerichteter Graph ohne Schleifen und Doppelkanten u ¨ber der Scheitel0 1 menge S . Die Kantenmenge sei mit S bezeichnet. Wir spezifizieren eine Orientierung der Kanten, d. h. wir spezifizieren f¨ ur jede Kante k ∈ S 1 , welchen ihrer Randpunkte wir als den Anfangspunkt α(k) ansehen wollen (und welchen als den Endpunkt β(k)). Die KanteP k mit α(k) = P,β(k) = Q notieren wir auch k = [P, Q]. Eine formale Summe P ck ·k = ck · α(k), β(k) mit ganzzahligen ‘Gewichtungen’ ck nennen wir eine 1-Kette. Die Gruppe der 1-Ketten bezeichnen wir mit C1 . Die Menge der ganzzahligen Gewichtungen der Scheitel des Graphen bezeichnen wir mit C0 . Der Randoperator ∂ bildet C1 in additiver Weise in C0 ab mit ∂k = β(k) − α(k). Bemerke: Wenn k die Kante von P nach Q ist, dann entspricht −k einer Kante von Q nach P . Wir notieren auch −k = [Q, P ]. ˜ = Pn vorstelWas man sich nat¨ urlicherweise als einen Weg von P˜ = P0 nach Q len m¨ochte (ohne scharfe mathematische Definition!) liefert eine 1- Kette c = [P0 , P1 ] + ˜ − P˜ . Man spricht bekanntlich von einem [P1 , P2 ] + · · · + [Pn−1 , Pn ] mit ∂c = Pn − P0 = Q doppelpunktfreien Weg, wenn die Pk paarweise verschieden sind. Einen doppelpunktfreien geschlossenen Weg nennt man eine Masche. Zu den geschlossenen Wegen und speziell zu den Maschen gewinnt man P1-dimensionale Zyklen. Die Zyklen sind diejenigen formalen Linearkombinationen c = n [Pn , Qn ], in welchen jeder Scheitel (wenn u ¨berhaupt) genau so oft an erster wie an zweiter Stelle vorkommt. Mit dem Begriff des aufspannenden Baums kann man sich ein sehr einfaches Bild von der Gruppe der 1-Zyklen Z1 machen. Man beweist n¨amlich leicht den Satz. In einem ungerichteten Graphen ohne Schleifen und Doppelkanten existiert eine Menge von Maschen, sodass jeder Zyklus in eindeutiger Weise als ganzzahlige Linearkombination der Maschen darstellbar ist. Der Satz impliziert offenbar, dass Z1 isomorph ist zur Gruppe Zn f¨ ur eine gewisses n. Wir bemerken: Das zweidimensionale Ger¨ ust eines kombinatorischen Komplexes entsteht aus dem eindimensionalen dadurch, dass man erkl¨art, welche Tripel von Ecken die Ecken eines Dreiecks im Komplex sind und welche nicht. Besonders u ¨bersichtlich ist die Lage bei den sog. planaren Graphen. Das sind diejenigen Graphen, deren Scheitel man so in die Ebene legen kann, dass sich die durch Kurvenst¨ ucke realisierten Kanten des Graphen nur in Scheiteln treffen. @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

Warnung Wir haben das alles recht ausf¨ uhrlich geschildert, um Verst¨andnisschwierigkeiten vorzubeugen, die beim Anf¨anger manchmal entstehen, wenn sp¨ater den Gruppen Cq , Zq , Bq die reellen Vektorr¨aume der Coketten, Cozyklen und Cor¨ander Cq , Zq , Bq gegen¨ ubergestellt werden. Die Coketten sind ganz andere Objekte als die Ketten. Man darf sich vorstellen, dass der Vektorraum der q-Coketten Cq der Dualraum des Raums der q-Ketten Cq ist. Streng genommen gilt das aber nur, wenn man zuerst von den ganzzahligen Gewichtungen auf der Menge der q-Simplizes zu den reellen Gewichtungen auf der Menge der q-Simplizes u ¨bergegangen ist. — Das werden wir auch tun, wenn wir im Beispiel unten elektrische Netzwerke diskutieren. Die 0-Coketten kann man in jedem Fall als die reellwertige Funktionen auf der Scheitelmenge S 0 verstehen; die 1-Coketten sind die ‘Funktionen’ auf der Kantenmenge; in der Theorie der Mannigfaltigkeiten erscheinen sie als die 1-Formen. Der Corand-Operator d ist der zum Randoperator ∂ duale Operator. d

d

d

0− → C0 − → C1 − → C2 − →

···

In der Dimension 0 haben wir eine lineare Abbildung C0 −→ C1 . Sie macht aus der Funktion f auf der Scheitelmenge die 1-Cokette df , welche der Kante den Anstieg der Funktion entlang dieser Kante zuordnet: Wir notieren



df, k = f (β(k)) − f (α(k)) = f, ∂k f¨ ur f ∈ C0 , k ∈ C1 .

In der Dimension 1 haben wir eine lineare Abbildung der Kantenfunktionen ω 1 7→ ω 2 = dω 1. Eine 1-Form ω 1 ∈ C1 liefert f¨ ur jedes 2-Simplex [P0 , P1 , P2 ] eine Zahl, n¨amlich

1





dω , [P0 , P1 , P2 ] = ω 1 , [P1 , P2 ] + ω 1 , [P2 , P0 ] + ω 1 , [P0 , P1 ] . Diese Zahl nennt man manchmal die Rotation von ω 1 u ¨ber dem Simplex. Es kann empfohlen werden, dass man sich die Elemente aus Cq immer als ’Gewichtungen’ oder Vielfachheiten vorstellt (es ist u ¨blich, nur ganzzahlige Gewichtungen zuzulassen) q und die Elemente C (mit hochgestelltem q) als ‘Funktionen’. Die Operatoren ∂ (‘Rand’) und d (‘Corand’) sind zueinander dual. Der Rand erniedrigt die Dimension, der Corand erh¨oht sie.

Beispiel 8.4.1 (Elektrische Netzwerke). S 0 sei eine Menge von L¨otstellen und S 1 eine Menge von leitenden Verbindungen. Wenn wir die L¨otstellen auf ein Potential f bringen, dann bringt das auf die leitenden Verbindungen einen Potentialabfall (‘Spannung‘) df . Wenn wir Str¨ome in den Leitungen haben, dann beschreiben wir diese durch 1-Ketten. Ein beliebiger Strom kann durch Abf¨ usse nach und Zufl¨ usse von draussen in Gang ge˜ ¨ halten werden; im Knoten P muss der Uberschuss der von den Nachbarknoten zu- und abfliessenden Stromst¨arken ab- oder zugeleitet werden. Der Rand ∂c beschreibt den von den L¨otstellen nach aussen fließenden Strom. F¨ ur c = [P0 , P1 ] + [P1 , P2 ] + · · · + [Pn−1 , Pn ] ˜ − g · [P˜ , dann haben wir ∂c = [Pn ] − [P0 ]. Beispiel: Wenn f¨ ur einen Strom c gilt ∂c = g · [Q] @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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˜ nach P˜ fliesst. Die interpretieren wir das so, dass ein Strom von g Amp`ere fliesst von Q Zyklen sind die station¨aren Str¨ome ohne Ein- und Abfluss. Zweidimensionale Simplizes gibt es hier nicht. Hinweis: Die Theorie der elektrischen Schaltkreise ist eine Approximation an die Theorie des Elektromagnetismus. In dieser Approximation wird angenommen, dass die Ph¨anomene dadurch beschrieben werden k¨onnen, dass man sagt, was in endlich vielen Schaltelementen vorgeht, dass also der umgebende Raum mit seinen Feldern keine Rolle spielt. (Siehe z. B. Feynman’s Lecture Notes, Bd. II, Kap. 22 ff.) Ein Schaltkreis setzt sich aus passiven und aktiven Komponenten k zusammen, welche irgendwie in Knoten P verbunden sind. Es geht um den Spannungsabfall V k und den Strom Ik in allen Komponenten k, wenn in gewissen ‘aktiven ’ Komponenten elektromotorische Kr¨afte E k bzw. Str¨ome eingespeist werden. Die elementaren Schaltelemente sind Induktoren (‘Spulen’), Kondensatoren und Ohm’sche Widerst¨ande. (In Wirklichkeit kann nat¨ urlich die Trennung des Gesamtsystems in elementare Komponenten nicht vollkommen sein.) Der einfachste Schaltkreis, in welchem alle drei Typen sowie ein Generator vorkommen, ist durch den harmonischen Oszillator gegeben; dort sind alle Elemente ‘in Reihe’ geschaltet. Die Schaltelemente kann man auch ‘parallel’ schalten. Die Theorie der Schaltkreise befasst sich mit komplizierteren ‘Verl¨otungen’. Das Beispiel wird uns noch weiter besch¨aftigen. Bei schwachen Str¨omen kann man mit linearen Zusammenh¨angen zwischen den Str¨omen und den Spannungen rechnen. Die elektrische Energie auf den Kondensatoren und die in der Zeiteinheit dissipierte Energie in den Widerst¨anden sind durch quadratische Formen beschrieben. Eine f¨ ur Mathematiker gut lesbare Beschreibung der Theorie findet sich in dem hervorragenden Lehrbuch von Paul Bamberg und Shlomo Sternberg: A course of mathematics for students of physics in the second year, Chap. 12 -14, p. 407-526. Auch in den Szenarien der n¨achsten ‘Beispiele’ werden wir keine substantiellen S¨atze beweisen. Es kann nur darum gehen, erste Ideen vom algebraischen Umgang mit dem Randoperator ∂ zu vermitteln. Beispiel 8.4.2 (Nullhomologe Wege in Gebieten G ⊆ C). Bei der Diskussion holomorpher Differentiale f (z) dz u ¨ber Gebieten G in der komplexen Ebene haben wir polygonale Kurvenz¨ uge homotop deformiert. Ein zentrales Ergebnis war der Cauchy’sche Integralsatz in der Homotopieversion: Das Integral einer holomorphen Form u ¨ber eine geschlossene Kurve ergibt jedenfalls dann den Wert 0, wenn man die Kurve in G auf einen Punkt zusammenziehen kann. (Die Kurven dieser Art heissen die nullhomotopen Kurven.) Eine Verallgemeinerung dieses Satzes ist die Homologieversion des Cauchy’schen Integralsatzes; sie besagt, dass auch das Integral u ¨ ber nullhomologe Kurven verschwindet. Die nullhomogen Polygonz¨ uge sind die R¨ander der zweidimensionalen affinen Komplexe im Gebiet G. In den Lehrb¨ uchern der Funktionentheorie findet man einfache Beispiele von geschlossenen Kurven in der zweifach punktierten komplexen Ebene G = C \ {+1, −1}, die nullhomolog sind, aber nicht auf einen Punkt zusammengezogen werden k¨onnen. Man kann zeigen, dass eine geschlossene Kurve im Gebiet G genau @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Die Integration von Differentialformen

Integrationstheorie

dann nullhomolog ist, wenn f¨ ur jeden Punkt z˜ ausserhalb G die Umlaufszahl der Kurve in Bezug auf z˜ verschwindet, wenn also, salopp gesprochen, jedes z˜ ∈ / G von der Kurve genauso oft im positiven wie im negativen Sinn umlaufen wird. Wir haben fr¨ uher definiert: Ein parametrisiertes glattes Kurvenst¨ uck auf einer Mannigfaltigkeit ist eine stetig  differenzierbare Abbildung eines Intervalls in die Mannigfaltigkeit ′ ′′ γ(t) : t ≤ t ≤ t . Solche parametrisierten Kurvenst¨ ucke liefern dieselbe Kurve, wenn sie durch eine stetig differenzierbare richtungserhaltende Umparametrisierung aus einander hervorgehen. Verabredung: Stetige Differenzierbarkeit einer Abbildung β der Menge S soll bei uns hier immer heissen, dass β die Einschr¨ankung einer auf einer Umgebung von S stetig differenzierbatren Abbildung ist. Definition (Glatte gerichtete Simplizes in einer Mannigfaltigkeit). Ein parametrisiertes glattes gerichtetes m-Simplex auf einer Mannigfaltigkeit ist eine stetig differenzierbare Abbildung eines affinen m-Simplexes mit  ′  ′′aufgez¨ahlten Ecken. Zwei sol che Abbildungen γ (t) : t ∈ [P0 , P1 , . . . , Pm ] und γ (s) : s ∈ [Q0 , Q1 , . . . , Qm ] beschreiben (definitionsgem¨aß!) dasselbe gerichtete glatte Simplex γ(·) auf der Mannigfaltigkeit, wenn stetig differenzierbare (mit den Ausrichtungen vertr¨agliche) Umparametrisierungen T (·), S(·) existieren, wenn also γ ′ (T (s)) = γ ′′ (s), γ ′′ (S(t)) = γ(t) mit Diffeomorphismen S(·), T (·) T (S(t)) = t f¨ ur t ∈ [P0 , . . . , Pm ],

und S(T (s)) = s f¨ ur s ∈ [Q0 , . . . , Qm ]

Man beachte: Es ist nicht gefordert, dass γ(·) eine Immersion ist. Es ist eine sehr spezielle Situation, wenn das Bild des offenen affinen Simplexes eine Untermannigfaltigkeit ist; in diesem Fall nennt man das Bild eine glatt parametrisierbare Untermannigfaltigkeit. Das Bezeichnung ‘singul¨ar’ hat keine gute Begr¨ undung; es dient traditionell der Unterscheidung von anderen Typen von Simplizes. Die formalen Summen von gerichteten Simplizes heissen die ganzzahligen singul¨aren Ketten. Der Rand eines m-dimensionalen gerichteten singul¨aren Simplexes γ(·) ist eine (m − 1)-dimensionale singul¨are Kette, die in offensichtlicher Weise als Summe von m + 1 gerichteten Simplizes geschrieben werden kann. Man betrachtet einfach die Einschr¨ankungen von γ(·) auf die Randsimplizes (mit ihren Orientierungen): γk (·) : k = 0, 1, . . . , m und summiert m E X ∂γ = (−1)k · γk . k=0

Der Rand eines Rands ist 0. Eine singul¨are Kette mit verschwindendem Rand heisst ein singul¨arer Zyklus. Die Menge der q-dimensionalen Zyklen ist eine kommutative Gruppe, die Menge der q-dimensionalen R¨ander ist eine Untergruppe; die Faktorgruppe heisst die q-te singul¨are Homologiegruppe der Mannigfaltigkeit.— Die singul¨aren Homologiegruppen sind ein reichlich kompliziertes Thema der algebraischen Topologie. Es zeigt sich, dass die Theorie der Cohomologie-Gruppen weniger kompliziert ist. Es gibt also gute Gr¨ unde, sich mit den Coketten, Cozyklen und Cor¨andern anzufreunden, auch wenn diese auf den ersten @ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012

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Blick weniger anschaulich sein m¨ogen. In diesem Sinne sollte man gr¨ undlich mit den kFormen befassen. Dazu braucht man aber Kenntnisse aus der Linearen Algebra; zentral ist der Begriff der alternierenden Multilinearform.

@ Prof. Dr. H. Dinges, Integrationstheorie (SS 2012), 16. Juli 2012