Schweizerische Invaliditätstagung Lenzburg, 13. März 2008
Somatoforme Schmerzstörung Dr. med. Barbara Rüttner Götzmann FMH Psychiatrie und Psychotherapie
1
Somatoforme Schmerzstörung: Äusserste Komplexität – medizinisch und juristisch…
2
Somatoforme Schmerzstörung: Programm
Definition Ätiologie: State of the Art Symptome Diagnostik und Differentialdiagnose Aktuelle Behandlungsformen Juristische Aspekte Fazit für die Juristin / den Juristen
3
Somatoforme Schmerzstörung: Definition Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4): Vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problemen auf. Diese sollten schwerwiegend genug sein, um als entscheidende ursächliche Einflüsse zu gelten. Die Folge ist gewöhnlich eine beträchtliche persönliche oder medizinische Betreuung oder Zuwendung.
4
Somatoforme Schmerzstörung: Ätiologie – State of the Art
Neurobiologische Forschung Verhaltens/Kognitionspsychologie Kulturanthropologische Aspekte Psychoanalytische Aspekte (Bindungsforschung) Integriertes Konzept
5
Neurobiologie: Gate Control Theory (modifiziert nach Rief & Barsky, 2005) Verstärkte korticale Schmerzwahrnehmung Signalstärke:
Filterschwäche:
Stress (→ Hyperarousal) Sensibilisierung
Krankheits-Ängste Selektive Aufmerksamkeit Depressiver Affekt
Körpersignale durch Nozizeption
6
Interindividuelle Differenzen in der korticalen Schmerzwahrnehmung !
Neurobiologie: Gate Control Theory (modifiziert nach Rief & Barsky, 2005)
Verstärkte korticale Schmerzwahrnehmung Signalstärke:
Filterschwäche:
Stress (→ Hyperarousal) Sensibilisierung
Krankheitsängste Selektive Aufmerksamkeit Depressiver Affekt
Körpersignale durch Nozizeption
7
Somatoforme Schmerzstörung: Ätiologie – Neurobiologie Individuell unterschiedliche Schmerzwahrnehmung
Bei gleichem nozizeptivem Reiz interindividuell unterschiedliche Aktivierung des anterioren, cingulären, somatosensorischen und präfrontalen Cortex → unterschiedliche Schmerzwahrnehmung (Coghill 2003)!
Schmerzleitung
8
Somatoforme Schmerzstörung: Ätiologie: Verhaltens-/Kognitionspsychologie Lernen durch Vorbild (Barsky & Borus, 1999)
Diskrete körperliche Missempfindung
Krankheitsüberzeugung
Somatosensorische Verstärkung: Selbstbeobachtung
Subjektiver Schmerz
Kognitive Fehlinterpretation: „Kausalattribution“ (Rief et al, 2004)
(Barsky 1992) 9
Somatoforme Schmerzstörung: Ätiologie – Interkulturelle Aspekte
Kulturell geformte Modelle, die in kognitiven Schemata oder sozialen Rollen encodiert sind, können die Wahrnehmung und Interpretation von Körpersensationen beeinflussen.
Sie sind aber nicht für die Entstehung von
somatoformen Störungen verantwortlich (Kirmayer 2007).
10
Somatoforme Schmerzstörung: Ätiologie: Psychoanalytisches Konversionsmodell BW: bewusste Wahrnehmung Schmerz
Verdrängung eines Wunsches
Kompromissbildung
UBW: Wunsch vs. Widerstand (Freud S 1894)11
Somatoforme Schmerzstörung: Ätiologie: Alexithymie-Konzept
Alexithymie = reduzierte Fähigkeit, Affekte zu
erfahren, zu unterscheiden und auszudrücken. Zusammenhang zwischen Alexithymie und chronischem Schmerz bzw. somatoformen Störungen klar belegt (Cox et al 1994, Waller et al 2006).
12
Somatoforme Schmerzstörung: Ätiologie – Bindungstheorie
Kinder verinnerlichen frühe Bindungserfahrungen mit Bezugspersonen und formen so sichere unsichere Bindungsmodelle (Bowlby 1973).
bzw.
Kinder:
Unsichere Bindung geht einher mit Überaktivierung der Stressreaktion (Spangler & Zimmermann 1997).
Patienten mit unsicherer Bindung haben eine deutlich
erhöhte Inzidenz für somatoforme Störungen (Waller et al 2004). 13
Neurobiologie & Psychologie Integriertes Modell Verstärkte korticale Schmerzwahrnehmung Signalstärke:
Filterschwäche:
Stress (→ Hyperarousal) Sensibilisierung Dekonditionierung
Krankheitsängste Selektive Aufmerksamkeit Depressiver Affekt
Lernen durch Vorbild
Kultur Körpersignale durch Nozizeption Alexithymie / Hysterie Unsicherer Bindungsstil
14
Somatoforme Schmerzstörung: Symptome Kardinalsymptom: Schmerzen Im Vergleich zu organischem Schmerz eher vage
Angaben Hohe Schmerzintensität ohne freie Intervalle Schmerzbeschreibung stark emotional gefärbt Wechselnde Lokalisation und Modalität der Schmerzen Keine Einhaltung anatomischer Grenzen der sensiblen Versorgung Tendenz zur Schmerzausweitung (Nickel & Egle, 1999)
15
Somatoforme Schmerzstörung: Diagnostik (ICD-10 F45.4) Komplexe Ätiologie → differenzierte Diagnostik !
Psychosoziale Anamnese: Bindungserfahrungen, Hinweise auf unbewusste Konflikte, Traumatisierungen, Alexithymie. Schmerzanamnese: Krankheitskonzept, Gesundheitsängste, Bewältigungsstrategien. Befunderhebung: Psychische Komorbidtät: affektive Störungen (v.a. Depression und Angst) etc.
16
Somatoforme Schmerzstörung: Differentialdiagnose Psychogene Schmerzen im Rahmen einer
Schizophrenie. Histrionische Verarbeitung organischer Schmerzen Schmerzen aufgrund bekannter psychophysiologischer Mechanismen (z.B. Migräne, (G43)). Simulation (d.h. Beschwerden werden präsentiert, aber nicht erlebt; im Falle einer somatoformen Störung dagegen werden sie präsentiert und erlebt. (nach Schneider et al 2001, Kapfhammer 2006; Morschitzky 2007)
17
Somatoforme Schmerzstörung: Behandlungsformen Kognitive Therapie mit Analyse von Symptomen und Krankheitsverhalten Körperbezogene Therapieformen (Focusing, Körperwahrnehmung, Achtsamkeitstraining) Psychodynamische Therapie (Schwerpunkt Bearbeitung der Disposition zur Somatisierung, frühkindliche Traumatisierungen, unsichere Bindung an Bezugspersonen)
18
Somatoforme Schmerzstörung: Rechtsprechung zur Invalidität Die somatoforme Schmerzstörung hat per se keinen Krankheitswert, denn sie wird aus juristischer Sicht als eine vorwiegend psychosozial (soziokulturell) verursachte Erkrankung gesehen. Bei erheblicher Beteiligung psychosozialer und soziokultureller Faktoren nimmt die Rechtsprechung eine Invalidität nur mit grosser Zurückhaltung an (gemäss BGE 127 V 294). Eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung vermag als solche in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bewirken (gemäss BGE 130 V 352) 19
Somatoforme Schmerzstörung: Rechtsprechung zur Invalidität Schweregrad gemäss BGE 130 V 352: Die Rechtsprechung verlangt bei anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen für die Bejahung einer rentenbegründenden Invalidität das Vorliegen einer mitwirkenden, psychisch ausgewiesenen Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder aber das Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und Konstanz erfüllter Kriterien.
20
Somatoforme Schmerzstörung Rechtsprechung zur Invalidität Juristisch ausschlaggebend ist der Schweregrad der somatoformen Störung! Zusatzkriterien gemäss BGE 130 V 352 für die Unüberwindlichkeit der somatoformen Schmerzstörung: Chronische körperliche Begleiterkrankungen und chronischer Krankheitsverlauf ohne Remissionen. Sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens. Verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer missglückten psychischen Konfliktverarbeitung. Unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequenter Behandlungsbemühungen sowie gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen. 21
Somatoforme Schmerzstörung: Rechtsprechung zur Invalidität
Der Schweregrad der somatoformen Schmerzstörung entscheidet über die – nur in Ausnahmefällen anzunehmende - Unzumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung! (BGE 130 V 352)
22
Somatoforme Schmerzstörung: Rechtsprechung zur Invalidität Kritik an dieser Rechtsprechung aus medizinischer Sicht:
Die komplexe Ätiologie der somatoformen
Schmerzstörung wird auf die Auswirkungen des aktuellen psychosozialen Umfeldes auf die Erkrankung reduziert. Entwicklungspsychologische und neurobiologische Ursachen werden negiert. Die Rechtsprechung negiert somit wissenschaftlich nachgewiesene Krankheitsursachen. Es werden Zusatzkriterien nötig. 23
Somatoforme Schmerzstörung: Fazit für den Juristen / die Juristin I
Komplexes Krankheitsbild, dessen bio-psychischen
Aspekte rechtlich (zu) wenig berücksichtigt werden. Versicherungsmedizinisch ausschlaggebend ist der Schweregrad der somatoformen Schmerzstörung! Unbedingt indiziert ist eine sorgfältige medizinische und psychosoziale (Differential)diagnostik unter Berücksichtigung der komplexen Ätiologie sowie des Schweregrades der Erkrankung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit! 24
Literaturliste Referat „Somatoforme Schmerzstörung“ von Dr. med. Barbara Rüttner Götzmann, 13.03.2008
Barsky A.J., Borus J.F. (1999). Functional somatic syndromes. Annals of Internal Medicine, 130; 910-921.
Barsky
A.J.
(1992).
Amplification,
somatization,
and
the
somatoform
disorders.
Psychosomatics, 33; 28-34.
Bowlby J. (1969). Attachment and loss, Vol. 1: Attachment. New York: Basic Books. Dt. (1975): Bindung. München: Kindler.
Coghill R.C., McHaffie J.G., Yen Y.F. (2003). Neural correlates of interindividual differences in the subjective experience of pain. Proc Nat Acad Sci, 100; 8538-8542.
Cox B.R., Kuch K., Parker J.D.A., Shulman I.D., Evans R.J. (1994). Alexithymia in somatoform disorder patients with chronic pain. J. Psychosom Res, 38 ; 523-527.
Freud S. (1894). Die Abwehrneuropsychosen. In S. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 1 (S. 5774). Frankfurt/M: S. Fischer.
Hausotter W. 2.Aufl. (2004). Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen. Urban & Fischer München, S. 4.
Kapfhammer HP (2006). Somatic symptoms in depression. Dialogues Clin Neurosci, 8; 227239.
Kirmayer L.J., Sartorius N. (2007). Cultural models and somatic syndromes. Psychosomatic Medicine, 69; 832-840.
Morschitzky H. 2.Aufl. (2007). Somatoforme Störungen. Springer Wien New York; S 189-206.
Nickel R., Egle U.T. (1999). Gruppentherapie bei somatoformen Schmerzstörungen. Manual zur psychodynamisch-interaktiven Therapie. Stuttgart: Schattauer.
Rief W., Nanke A., Emmerich J., Bender A., Zech T. (2004). Causal illness attributions in somatoform disorders. Associations with comorbidity and illness behaviour. Journal of Psychosomatic Research, 57; 367-371.
Rief W., Barsky A.J. (2005). Psychobiological perspectives on somatoform disorders. Psychoneuroendocrinology, 30; 996-1002.
Schneider W., Henningsen P., Rüger U. (2001). Sozialmedizinische Begutachtung in Psychosomatik und Psychotherapie. Verlag Hans Huber. S. 45-53.
Spangler G., Zimmermann P. 2. durchg. Aufl. (1997). Die Bindungstheorie. Stuttgart: KlettCotta.
Waller E., Scheidt C.E., Hartmann A. (2004). Attachment representation and illness behavior in somatoform disorders. The Journal of Nervous and Mental Disease, 192; 200-209.
Waller E., Scheidt C.E. (2006). Somatoform disorders as disorders of affect regulation: A development perspective. International Review of Psychiatry, 18 (1); 13-24.