Einführung in die Philosophie - Uni Oldenburg

Ulrich Ruschig Einführung in die Philosophie Zur Vorlesung ‘Einführung in die Philosophie’ möchte ich Sie begrüßen, und damit möchte ich...

241 downloads 353 Views 314KB Size
Ulrich Ruschig

Einführung in die Philosophie

Zur Vorlesung ‘Einführung in die Philosophie’ möchte ich Sie begrüßen, und damit möchte ich Sie in der Philosophie begrüßen. Für manche von Ihnen wird es wohl die erste Berührung mit Philosophie sein. Ich kann Ihnen versprechen, daß das, worauf Sie sich da eingelassen haben, auch etwas von Abenteuer an sich hat. An eine Vorlesung zur Einführung lassen sich drei Anforderungen stellen: 1) eine vernünftige Anforderung, nämlich: eine solche Vorlesung solle nichts von dem, was erst Fortgeschrittenen zugänglich ist, als bekannt voraussetzen (ich hoffe, daß ich mich daran halten werde), 2) eine problematische Anforderung, nämlich: eine Einführungsvorlesung solle elementar, d.i. mit einfachen Sachverhalten, beginnen - problematisch wegen dieser Fragen: Was sind elementare Bausteine oder Grundbestandteile der Philosophie? Lassen diese sich einfach darstellen und dann auch einfach verstehen? Oder ist es so, daß die Elemente, die Grundbegriffe, die Grundfragen der Philosophie gerade nicht einfach sind, d.i. gerade nicht unmittelbar gegeben und zugänglich sind? 3) eine falsche Anforderung, nämlich: die Vorlesung zur Einführung solle durchgehend elementar bleiben und einen ‘Überblick’ über die Philosophie liefern. Einen wirklichen Überblick über die Philosophie gewinnen Sie erst, wenn Sie die Gegenstände der Philosophie kennen und begriffen haben und dann den systematischen Zusammenhang dieser Gegenstände zu begreifen versuchen, also eher am Ende Ihres Studiums. Der wohlfeile Ruf nach ‘Überblick’ unterstellt eine große Distanz zu dem zu Überblickenden, und so mancher, der meinte, er könnte den Anfang in der Philosophie mit dem vermeintlich elementaren Überblick machen, landete bei philosophy light und näherte sich niemals demjenigen, was er eigentlich anfangen wollte. Das bedeutet: Eine Einführungsvorlesung, die nicht über die Philosophie reden, sondern die mit dem Philosophieren anfangen will, kann nicht immer elementar bleiben. - Soweit die Vorbemerkung oder das “Vorspiel auf dem Theater”. Will Philosophie Wissenschaft sein, muß sie einen Begriff von sich entwickeln: Was ist Philosophie? Eine erste Antwort: Philosophie ist Vernunfterkenntnis. In dieser vorläufigen Bestimmung dessen, was Philosophie ist, sind zu erläutern ‘Vernunft’ und ‘Erkenntnis’, also: Was ist Vernunft? und : Was ist Erkenntnis? und: Ist die Zusammenziehung ‘Vernunfterkenntnis’ überhaupt ein sinnvoller Ausdruck? Also: Kann die Vernunft überhaupt etwas erkennen? Und wenn ja: Wie geht das? Jede Wissenschaft hat es mit Erkennen zu tun. Erkennen ist vom bloßen Meinen unterschieden. Erkenntnisse sind solche Urteile, die allgemeine und notwendige Geltung beanspruchen. Was heißt: allgemeine Geltung? Ein bloßes Meinen ist lediglich auf den Einzelnen bezogen, der da meint. Die Meinung ist nicht weiter überprüfbar, man glaubt dem Einzelnen, der eine Meinung vorträgt, oder glaubt eben nicht. Beispiel: Hans erzählt am Morgen, er habe in der Nacht von einem Flügelroß geträumt, das mit seinen goldenen Hufen über ihn hinweggesprungen sei. Flügelrösser gibt es nicht. Vielleicht schwindelt Hans, vielleicht belügt er sich selbst. Vermutlich bedeutet das goldbehufte Flügelroß etwas ganz anderes als dieses unmittelbare Traumbild. Man kann Hans das glauben, überprüfbar ist es nicht. Diese Erzählung ist keine Erkenntnis. Erkenntnisse sind allgemein, d.h. für alle vernünftigen Subjekte gültig. Man spricht auch von objektiver Erkenntnis, um sie von subjektiver Willkür, Beliebigkeit und auch von Wahnvorstellungen zu unterscheiden.

Neben der allgemeinen Geltung kommt der Erkenntnis die notwendige Geltung zu (was nicht mit der allgemeinen Geltung zusammenfällt). Wenn gewisse Prämissen bestimmt worden sind, dann wird eine notwendige Verknüpfung behauptet; am mathematischen Modell demonstriert: 2 + 2 = 4, die Verknüpfung der Summe 2 + 2 mit dem Resultat 4 ist notwendig, ob es einem paßt oder nicht (so der Musiker Arnold Schönberg); am Modell ‘Naturerkenntnisse’: Steine fallen gemäß dem Fallgesetz s = 0,5·g·t2 , wobei s für den Fallweg, t für die Fallzeit, g für die Erdbeschleunigung steht. Dieser gesetzmäßige Zusammenhang trifft nur dann zu, wenn bestimmte Randbedingungen erfüllt sind, als da sind: die eine anziehende Masse, nämlich die Erde, ist eine sehr große im Vergleich zur anderen, so daß die Anziehung der Erde durch den fallenden Stein vernachlässigt werden kann; der Fall findet im Vakuum statt, keine Reibung durch die Luft etc. Sind die Randbedingungen gegeben, dann ist die Verknüpfung von Fallstrecke und Fallzeit notwendig durch die genannte Formel bestimmt. Soweit zur Erläuterung dessen, was Erkenntnis ist: Erkenntnisse sind solche Urteile, die allgemeine und notwendige Geltung beanspruchen. Philosophie, so die erste vorläufige Bestimmung, war als Vernunfterkenntnis bestimmt. Was aber heißt Vernunfterkenntnis? Vernunfterkenntnis sagt etwas über den Ursprung der Erkenntnis. Aus Vernunft soll erkannt werden. Unterschieden ist Vernunfterkenntnis von empirischer Erkenntnis, also von solchen Erkenntnissen, für die Erfahrung nötig ist. Naturwissenschaften sind ohne Erfahrung nicht möglich; es bedarf einer Versuchsanordnung und es bedarf experimenteller Arbeit, um standardisierte Randbedingungen zu gewährleisten bzw. erst herzustellen. Ohne Erfahrung ist keine Erkenntnis der Natur möglich, logisch bedeutet das: Erfahrung ist eine notwendige Bedingung, nicht aber der zureichende Grund der Erkenntnis. Zureichender Grund wäre Erfahrung dann, wenn aus Erfahrung sich von selbst die Naturwissenschaft ergäbe, also wenn durch eine Art von Gärungsprozeß oder auch durch trial and error Erfahrung in Wissenschaft von der Natur sich transformieren könnte. Das ist jedoch nicht der Fall. Angenommen, es wäre so, dann gäbe es zunächst einen partikularen Naturvorgang. Die Beobachtung desselben könnte wiederum auf einen partikularen Naturvorgang gebracht werden, nämlich daß Nerven durch Licht gereizt werden, was dann neuronale Folgeprozesse nach sich zieht. Es bleibt bei partikularen Naturvorgängen, die (von) selbst nicht zu notwendigen und allgemeinen Zusammenhängen werden, welche die Grundlage jeder Wissenschaft sind. Also: Einzelne Naturprozesse können nicht aus sich selbst ihre Wissenschaft, nämlich die sie bestimmenden Gesetze hervorbringen. Daraus folgt: Für die Naturwissenschaften bedarf es eines Nicht-Partikularen, Nicht-Empirischen. Positiv formuliert: Vernunft oder vernünftige Prinzipien, die ihren Ursprung in der Vernunft haben, sind gleichermaßen notwendig und konstitutiv für die Naturwissenschaften. Gleichermaßen bedeutet: Ohne Erkenntnis, genauer: ohne experimentelle Arbeit, die eine ganz bestimmte Erkenntnis möglich macht, gibt es auch keine Erkenntnis der Natur. Die Philosophie ist davon abgegrenzt: Der Ursprung für die Erkenntnis ist die Vernunft selbst. Synthetische Urteile aus Vernunft An dieser Stelle kann man einhalten und einen Einwand formulieren: Ist philosophische Erkenntnis nicht Phantasterei? Kann es überhaupt Erkenntnisse geben, die ihren Ursprung nicht in der Erfahrung haben? Um die Antwort auf diese Frage zu geben - oder genauer - um überhaupt erst einmal die Frage präzise zu formulieren, wird eine Unterscheidung eingeführt, nämlich die zwischen analytischen und synthetischen Urteilen. Beim analytischen Urteil wird von einem Subjekt der Prädikation das, was in dem Begriff dieses Subjekts enthalten ist, ausgesagt, Beispiel: Alle Körper sind ausgedehnt. Im Begriff des Körpers ist die Bestimmung ‘Ausdehnung’ schon enthalten; ‘Ausdehnung’ wird dann von ‘Körper’ ausgesagt; durch Analyse ist herauszufinden, was im Begriff des Subjekts schon enthalten ist. Insofern kommt durch das Urteilen nichts hinzu, was nicht implizit schon vorhanden ist. Negativ gegen analytische Urteile sind die synthetischen Urteile bestimmt. Beispiel: Alle Körper sind schwer. Der Begriff der Schwere ist nicht schon im Begriff des Körpers enthalten. Es bedarf der Erfahrung, um festzustellen: Da sind zwei Massen, die sich anziehen. (Ein Körper allein ist an sich nicht schwer, in der Raumstation ist ein Körper “schwerelos”, auf dem Mond sehr viel weniger schwer als auf der Erde.) Beim synthetischen Urteil kommt etwas hinzu zum

Begriff des Körpers. Die Frage ist nun: Kommt die Legitimation dafür, daß synthetische Urteile möglich sind, allein aus der Erfahrung oder kann die Vernunft selbst synthetische Urteile begründen? Hat man eine Geringschätzung für die Philosophie, dann gesteht man der Vernunft lediglich analytische Urteile zu. Was schon an Begriffen da ist, werde eben bloß umformuliert, logisch liefe alles auf A = A, also eine Tautologie, hinaus, es werde dies nur hochtrabend ausgedrückt. Das bedeutet: Denken - die Vernunft - bekomme aus sich selbst nichts heraus. Und Sie werden innerhalb derjenigen, die im akademischen Betrieb “Philosophen” sich nennen, solche finden, die sagen, qua philosophischer Reflexion bekomme man gar nichts heraus, synthetische Urteile aus Vernunft seien nicht möglich. In der Philosophie, und das macht ein Faszinosum dieser Disziplin aus, sind Sie frei, erst einmal alles, was möglich ist, zu denken. Sie müssen dann Argumente für Ihre Thesen ersinnen, diese vor den Richterstuhl der Vernunft bringen und dann prüfen. Das Durchdenken solcher Thesen, auch die Einsicht, daß eine bestimmte These, konsequent durchdacht, auf absurde Konsequenzen führt, das bringt Sie weiter. Aus der Behandlung der gerade erörterten Frage: Ist philosophische Erkenntnis nicht Phantasterei? können Sie zweierlei über die Philosophie herausbekommen: 1) Philosophie bezieht sich auf sich selbst und prüft z.B., ob sie denn überhaupt Wissenschaft sei oder ob sie nicht vielmehr eine hochtrabende Tautologien-Produktionsstätte sei. Philosophie produziert diese Beziehung auf sich selbst (Fremdwort: Reflexion, Zurückbeugung auf sich) und macht diese Reflexion zu ihrem Gegenstand - ‘Selbstbewußtsein’ ist ein Grundbegriff der Philosophie, und dies ‘Selbstbewußtsein’ ist konstitutiv für ‘Vernunft’. 2) Innerhalb dessen, was als ‘Philosophie’ bezeichnet wird, gibt es solche, die sagen, Philosophie sei gegenstandslos, sei Nichts oder die Bewegung im Nichts, die Bewegung in Tautologien. Mathematisch formuliert: Das A in A = A sei irgendwoher gegeben, dieses A sei nicht Gegenstand der Philosophie, sondern vielmehr, daß, was immer dieses A sei, man von A sagen könne: A = A. Nehmen wir zur Illustration der beiden Aussagen über die Philosophie, wie es im Unterschied zu ihr bei einer ‘gewöhnlichen Einzelwissenschaft’ sich verhält: a) Chemie macht nicht die Beziehung auf sich selbst zu einem Gegenstand der Wissenschaft Chemie. Indem Gegenstände und Vorgehensweise definiert werden, ist klar, was Chemie ist und was nicht. b) Es gibt innerhalb der Chemie keine Chemiker, die sagen, Chemie habe gar keinen Gegenstand und Chemie bekomme nicht mehr heraus als das, was sie schon hineingesteckt habe. Soweit zu dem Einwand: Ist das, was Philosophie herausbekommt oder herauszubekommen meint, triftig oder eben schlicht tautologisch? Dieser Einwand ist zulässig und notwendig. Die Philosophie muß sich diesem kritischen Einwand stellen. “Schädelstätte des absoluten Geistes” - Aufsammeln und/oder Durchdenken Bislang bleibt die erste Bestimmung: ‘Philosophie ist Vernunfterkenntnis’ eine These: Es ist möglich, aus Prinzipien (und nicht aus in der Erfahrung gegebenen Daten) Erkenntnisse zu gewinnen. Über diese Prinzipien verfügt die Vernunft, wobei gewissen Prinzipien der Vernunft selbst entstammen, andere Prinzipien noch andere Quellen haben können. Die Vernunft - so die These - wird in der Beziehung auf eigene Prinzipien - ihre Reflexion - ‘klüger’, d.h. in der Reflexion kommt synthetisch etwas hinzu. Gehen wir von der These aus: Philosophie ist Vernunfterkenntnis. Man kann den Ursprung der Erkenntnis in der Vernunft einmal objektiv fassen. Also: Was ist objektiv Vernunft? Was sind vernünftige Prinzipien, aus denen Erkenntnisse entspringen? Man kann nun zweitens den Ursprung subjektiv fassen. Dann ist ein vernünftiges Vermögen, das immer vernünftiges Vermögen eines Einzelnen ist, Ursprung der Erkenntnis. Wie ist dies möglich? Für dieses einzelne subjektive Vermögen gibt es wiederum die Alternative: Erkennen aus Erfahrung oder Erkennen aus Vernunft, wobei ‘Vernunft’ jetzt dieses einzelne subjektive Vermögen ist. Was macht dieses Vermögen - es ist ja eine Möglichkeit, ihm ist unmittelbar und aktuell eben nicht die objektive Vernunft gegenwärtig? Diese einzelne Vermögen wird sich zur Tradition - zur “Schädelstätte des absoluten Geistes”, wie

Hegel am Ende der Phänomenologie des Geistes formuliert - verhalten. Und wie? Nun: Der Einzelne kann gegenüber den in der Geschichte der Philosophie angesammelten Vernunfterkenntnissen (und nehmen wir mal an, objektiv seien es solche, von Platon bis Adorno waren die Philosophen nicht alle uns heutige mit Tautologien betrügende Scharlatane) sich wie ein Empiriker verhalten, nämlich diese Vernunfterkenntnisse als in der Erfahrung gegebene Daten auffassen. Er lernt dann: Platon hat das gesagt, Aristoteles anderes, da gibt es Verschiedenheiten, Gegensätze, Widersprüche. Der Empiriker sammelt und sammelt. Und da es so viele Philosophen mit dicken Büchern gibt, ersäuft er im Material. Die Erkenntnis dort bei Platon oder Aristoteles mag objektiv der Vernunft entstammen, der Empiriker nimmt sie zunächst als gegebenes Datum, er reproduziert es und lernt auswendig. Auf ein Gegenargument, das nicht bei Platon behandelt wird, ist er hilflos. Ein solch empirisches Vorgehen bildet sich nach fremder und fremd bleibender Vernunft. Das nachahmende Vermögen ist kein erzeugendes. Wiewohl es sich also objektiv um Vernunfterkenntnisse handeln kann, verhält der Nachahmende sich wie ein Empiriker. Erkenntnisse werden als gegebene Data genommen, sind nicht aus seinem subjektiven Vernunftvermögen entsprungen. “Er hat gut gefaßt und behalten, d.i. gelernt, und ist ein Gipsabdruck von einem lebenden Menschen” (Kant, Kritik der reinen Vernunft B 864). Also mein Rat an Sie: Machen Sie keine Gipsabdrücke von Platon bis Adorno - manche Philologen der Philosophie sind selbst zu einem Gipsabdruck desjenigen geworden, wo sie gerade hängen geblieben sind. Vielmehr: Machen Sie die in der Geschichte der Philosophie angesammelten Daten zum Gegenstand der Reflexion! Durchdenken Sie sie erneut! Sie werden einiges als wahr, anderes als falsch erkennen, einiges werden Sie als belanglos verwerfen, anderes in neue Zusammenhänge stellen. Die Quelle der Erkenntnis ist - subjektiv - Ihre Vernunft, die allerdings ohne das nachahmende Vermögen nicht auskommt. Das zunächst empirische ZurKenntnis-Nehmen der bisher entwickelten philosophischen Systeme ist notwendige Bedingung, denn das subjektive Vermögen der Vernunft in einem Einzelnen ist nicht derart zu überschätzen, daß es das in der Geschichte akkumulierte Potential aus sich selbst schöpfen könnte. Es ist vielmehr die kritische Instanz, vor die das Material gebracht wird. Das eine also ist die Museumspflege - ich sage das nicht in einem abschätzigen Sinn. Philosophie hat immer auch etwas von Museumspflege nur: Es ist nicht möglich, heute so zu tun, als befände man sich im 4. Jahrhundert vor Christus und wandelte wie Aristoteles durch Athener Olivenhaine. Philosophisches Denken hat sich entwickelt. Wir müssen als Heutige nochmals die Tradition durchdenken. Von diesem Zugriff vom Ende der Geschichte her läßt nicht sich abstrahieren. Würde Aristoteles so, wie er damals war, restauriert, produzierte man lediglich den Gipsabdruck eines Toten. Und doch, die Museumspflege ist ein notwendiges Moment für heutiges Philosophieren. Die Reflexion auf die Grundbegriffe ist nicht möglich, ohne die Geschichte, also die Entwicklung dieser Begriffe zu verstehen. Ich fasse zusammen in dem Satz: Philosophie zu studieren bedeutet weniger, Philosophie zu lernen, als vielmehr, philosophieren zu lernen. Auch darin unterscheidet die Philosophie sich von anderen Wissenschaften, z. B. der Mathematik oder der Chemie. Dort kommen Sie mit dem nachahmenden Vermögen sehr weit. Am Anfang des Studiums empfehlen Hochschullehrer ein Lehrbuch, das die systematische Fassung der Erkenntnisse darstellt. Da gehen Sie dann Seite für Seite vor. Wenn Sie ein solches Lehrbuch durchgearbeitet haben, sind Sie schon sehr weit in der Wissenschaft. In der Philosophie finden Sie nun nicht: Lehrbuch der Philosophie oder Lehrbuch einer Teildisziplin, z. B. der Praktischen Philosophie. Sie finden vielmehr philosophische Systeme, an denen Sie philosophieren lernen können. Wenn es nun nicht das Lehrbuch der Philosophie gibt, heißt das nicht - um diesem möglichen Mißverständnis gleich entgegenzutreten -, daß Philosophie nicht systematisch wäre oder keinen inneren Aufbau hätte. Soweit zunächst zur Bestimmung: ‘Philosophie ist Vernunfterkenntnis aus Prinzipien’. Diese Philosophie hat es nun nicht nur mit dem Denken, mit dem Erkennen, sondern auch mit dem Willen und vermittels des Willens mit dem Handeln zu tun. Vernunft ist ihrem Begriffe nach weiter gefaßt als bloß Methodologie zu sein. Methodologie ist die Wissenschaft vom “Wie”: Wie wird gedacht? Welche formalen Regeln gibt es für das Denken? Wie wird erkannt? Welche Methode des Erkennens gibt es? methodos - der Weg. Das “Wie” ist jedoch nicht abzutrennen vom “Was”: Was wird gedacht? Was wird erkannt? Der Weg (die Methode) ist selbst nicht zu denken ohne das Ziel des Weges. Der Philosophie geht es nun wesentlich um das “Was” des Denkens, das “Was” des Erkennens.Und eben noch weiter: Über das “Was” des Denkens und des Erkennens hinaus handelt

Philosophie vom “Wohin” und damit von Zwecken und vom Willen. Auch darin, mit der Beziehung auf den Willen, der durch Vernunftprinzipien bestimmbar zu sein scheint, unterscheidet Philosophie sich von anderen Wissenschaften. Bisher haben wir folgende Unterschiede herausbekommen: Es gibt kein Lehrbuch der Philosophie, wo man entlang eines systematischen Leitfadens durcharbeiten könnte, was Philosophie denn sei. Philosophieren soll man lernen, aber Sie werden sofort fragen: Wie geht das? Eine Didaktik der Philosophie, also daß man unabhängig vom Philosophieren lernen könnte, wie zu philosophieren sei, gibt es auch nicht. Und wenn es kein geronnenes System der Philosophie gibt, ist damit auch ein anderes Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte gesetzt - ein anderes als andere Disziplinen zu ihrer Geschichte haben. Bei anderen Disziplinen, nehmen Sie als Beispiel wieder die Chemie, dient die Geschichte als Fußnote oder als Ornament für Feierstunden, ist aber weder für das akademische Studium noch für die Praxis der Forschung wesentlich. In der Philosophie ist das anders - ohne die Geschichte der Philosophie können Sie nicht philosophieren, nicht Philosophie studieren und nicht in der Philosophie forschen. Die Geschichte der Philosophie ist für die Disziplin wesentlich. Die Liebe zur Weisheit Stehen geblieben war ich bei der These, daß der Wille und die Bestimmung desselben durch Vernunftprinzipien Gegenstand der Philosophie sei. (Sie werden diesen Gegenstand unter Praktische Philosophie abgehandelt finden.) Zunächst eine Worterklärung: In dem Wort ‘Philosophie’ steckt philia (Freundschaft, Zuneigung, Liebe) und sophia (Weisheit); philosophia ist die Liebe zur Weisheit - und das ist die zweite Bestimmung der Philosophie nach ‘Philosophie ist Vernunfterkenntnis’. Doch was ist ‘Weisheit’? Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich eine allgemeine Vorbemerkung über die Zerstörung der Sprache machen. Am Begriff ‘Weisheit’ kann erläutert werden, was in neuester Zeit mit Begriffen aus der philosophischen Tradition angestellt wurde und wird. Manchmal gelingt es, den Inhalt des Begriffs in das Gegenteil dessen zu verkehren, was er in der philosophischen Tradition ausdrückte. Als Übungsaufgabe zum Hinhören auf heutige Sprache empfehle ich: Suchen Sie philosophische Begriffe, die in den heutigen Sprachgebrauch eingegangen sind und die Ihnen ‘spanisch’ vorkommen, d.h. daß Sie, auch wenn Sie am Anfang des Studiums die philosophische Tradition nicht kennen können, ein Mißtrauen verspüren. Zum einen gibt es Begriffe, die vollkommen entleert worden sind und die dennoch als aufgeplusterte Füllwörter herumgeistern: ‘an sich’, ‘an und für sich’, ‘absolut’ .... Zum anderen gibt es Begriffe, die so ziemlich in das Gegenteil dessen verkehrt wurden, was sie in der philosophischen Tradition bedeuteten: ‘subjektiv’, ‘Freiheit’, ‘metaphysisch’, ‘mystisch’ ... Welche Gründe solcherart Sprachverwirrung resp. Sprachzerstörung hat, will ich hier offen lassen - es hat mit dem schwierigen Verhältnis von Philosophie und Gesellschaft zu tun. Nun also zu der Sprachverwirrung, der der philosophische Terminus ‘Weisheit’ ausgesetzt worden ist. Zunächst wird ein Plural daraus gemacht: Weisheiten. Der sich als gesund fühlende Menschenverstand kennt viele Weisheiten (Plural). Insbesondere fernöstliche Weisheiten haben Konjunktur. Einerseits gibt dieser gesunde Menschenverstand preis, daß solche Weisheiten den Menschen angedreht werden. Andererseits erscheint es dem gesunden Menschenverstand als nötig, Weisheiten zu bekommen. Sinn sei notwendig, je tiefer der Sinn, desto besser. Wenn man das Einerseits und das Andererseits zusammenbringt, plaudert der gesunde Menschenverstand doch einiges aus: Wenn die Menschen im Arbeitsleben nicht durch sie bestimmte Zwecke verwirklichen können, muß gegen drohende ‘Leere’ Sinn verordnet und verabreicht werden, je jenseitiger, dunkler, tiefer oder höher, je besser. Greifbares, also bestimmte Forderungen dürfen daraus nicht resultieren. Nur der sich in dunkle Tiefen entziehende Sinn wäre dann wahrer Sinn. Fazit: Seien Sie kritisch all denen gegenüber, die Ihnen ‘Weisheiten’ andrehen wollen! Ich werde nun versuchen, Ihnen zu zeigen, daß philosophisch an ‘Weisheit’ etwas dran ist. (Die Verdrehung der Begriffe funktioniert nämlich nicht mit nichts und nur sehr selten mit künstlichen Begriffen. In der Regel zehrt diese Verdrehung von dem Gehalt der verdrehten Begriffe, den sie in

der philosophischen Tradition haben.) Weise zu sein ist etwas anderes als zu wissen. Weisheit kann nicht sein ohne Wissen, aber Wissen allein ist keine Weisheit. Bei ‘Weisheit’ kommt etwas hinzu. Wissen ist lediglich notwendige Bedingung, nicht zureichender Grund. Beispiel: Fritz Haber, er war ein brillanter Physikochemiker (viele werden das Haber-BoschVerfahren zur Ammoniak-Synthese kennen). Fritz Haber wußte viel, aber weise war er nicht, denn er war Nationalist. Er sortierte die Menschen in solche, denen das Merkmal ‘deutsch’ zukäme, und solche, denen es nicht zukäme (darunter waren die bösen Franzmänner). Als die politischen Führer seines Deutschlands anderen politischen Führern den Krieg erklärten, wurde der famose Wissenschaftler Haber zum Kriegsberater der politischen Führung und ging dann gegen die als nicht-deutsch sortierten Menschen mit Giftgas vor. An diesem Beispiel ‘Fritz Haber’ kann die Unterscheidung von Wissen und Weisheit demonstriert werden: Die Resultate der Naturwissenschaften sind Wissen. Diese Resultate (und damit Wissen) können Mittel sein für davon verschiedene Zwecke. Weise ist erst derjenige, der die Zwecke reflektiert. Die Reflexion der Zwecke ist die vornehmste Aufgabe der Vernunft. Nun sind die Mittel geschieden von den Zwecken und von der Reflexion der Zwecke. Also ist das Wissen um die Mittel nicht Reflexion der Zwecke (Weisheit). Mit den Zwecken sind wir systematisch beim Willen. Wille und Verstand sind verschieden. Der Wille zielt auf das Handeln, es gibt Gründe, die den Willen bestimmen, und diese Gründe können Gegenstand der Reflexion sein. Der Wille findet, wenn er Zwecke realisieren will und auf Handeln zielt, Bedingungen für die Realisation vor. Diese Bedingungen sind außerhalb des Willens. Im Unterschied dazu das Denken: Das Denken kann über das Denken, also sich selbst, nachdenken. Das Denken findet, indem es sich auf sich selbst bezieht, seine Gesetze heraus. Das ist dann die Logik. Doch Denken ist nur Denken, wenn es sich auf Gegenstände, und zwar auf bestimmte Gegenständen bezieht. Denken von Nichts ist kein Denken und also nichtig. Also ist Denken, wenn es Denken von etwas ist, auf Gegenstände bezogen. Oder: Die Beziehung auf Gegenstände ist für das Denken konstitutiv. So kann das Denken, indem es sich auf sich selbst bezieht, etwas über Gegenstände herausfinden. Denken ist nicht ohne die Relation von Denken und Gegenstand. Nun hat das Denken genau dies erschlossen, seine Beziehung auf etwas, was nicht Denken ist. Und das Denken bekommt so etwas heraus über die Gegenstände, und das nennen wir Erkenntnis. Der nächste Schritt des Denkens: Es denkt darüber nach, daß es etwas herausbekommen hat und warum es etwas herausbekommen hat. Es macht die erschlossene Relation Denken -Gegenstand erneut zum Gegenstand des Denkens. Das kann man dann die Theorie des Erkennens nennen. Bei diesem Nachdenken über die Relation Denken - Gegenstand kommt das Denken darauf, daß es einen Unterschied gibt zwischen den Gegenständen, nämlich: es gibt solche, die denken, und solche, die nicht denken. Damit muß es eine Theorie der ‘denkenden Gegenstände’ geben. Diese ‘denkenden Gegenstände’ können sich selbst denken, ihnen kommt Reflexivität zu. Also ist das eine Theorie des Selbstbewußtseins. Und dieses Selbstbewußtsein ist bezogen auf äußere Gegenstände und, da es selbst nicht aus sich selbst und in sich selbst ist, bezogen auf materiale Voraussetzungen, die selbst nicht Denken sind (zunächst auf den eigenen Körper, dann auf die notwendigen Konsumtionsmittel und Produktionsmittel). Schulmäßig formuliert: Das Selbstbewußtsein subsistiert nicht in sich, ist wesentlich bezogen auf das, was nicht Selbstbewußtsein ist und von dem es sich aber wesentlich unterscheidet. - Soweit erst einmal im Siebenmeilenschritt durch das Feld der Theoretischen Philosophie, soweit zum Nachdenken über Denken und Erkennen. Das alles ist aber noch nicht Weisheit. Vom Verstand ist der Wille unterschieden. Manche denken nicht nur über ihr Denken nach, sondern sie verfolgen unterschiedliche und vor allen Dingen partikulare Zwecke. (Die Bestimmungen über Denken und Selbstbewußtsein, die ich Ihnen vorgeführt habe, sind allgemein und notwendig, dagegen die besonderen Zwecke, die bestimmte Menschen verfolgen, sind das nicht. Die einen trinken Bordeaux-Weine, die anderen mögen diese nicht, sondern nur Burgunder, die dritten trinken Bier; was für wen besser sei, darüber läßt sich notwendig und allgemein nichts ausmachen.) Also: Menschen verfolgen unterschiedliche und partikulare Zwecke. Dies kann ich wieder zum Gegenstand des Denkens machen, d.h. reflektieren, wörtlich: zurückbeugen. Reflexion der Zwecke heißt: 1) Ich stelle fest: ‘Es gibt verschiedene Zwecke’ und ‘Verschiedene Menschen setzen sich

verschiedene Zwecke’. Daraus ergibt sich 2) die Frage: Kann ich beurteilen, welche Zwecke vor der Vernunft standhalten und welche nicht? 3) Muß jemand, weil er seine Zwecke nur in einer Gesellschaft verfolgen kann, nicht berücksichtigen, daß er mit der Verfolgung seiner Zwecke nicht andere bei deren Zweckverfolgung hindert? Was heißt:“System der Zwecke”? Wenn nun Reflexion der Zwecke, wie diese drei Punkte zeigen, möglich ist, dann muß es eine Einheit geben, in die diese verschiedenen Zwecke, Zwecke verschiedener Subjekte, fallen. Es ist die (allgemeine) Vernunft, die herausbekommen kann, was an den Zwecken und an der Verfolgung der Zwecke in einer Gesellschaft wahr oder falsch, was gut oder böse ist. Weisheit, so kann man kurz sagen, liegt dann vor, wenn die Vernunft herausbekommt, was gut und was böse ist. Das kann nun nicht so sein: Was für den einen gut ist, ist für den anderen böse. Dann könnte man nämlich nichts Allgemeines sagen. Daß man etwas Allgemeines sagen können muß, steckte schon darin: Die Reflexion der Zwecke fällt in eine Einheit. Die Zwecke sind nicht vollständig disparat. Und materialistisch: Es ist ja eine Gesellschaft, in der die Zweckverfolgung möglich sein muß. Die Zweckverfolgung eines Einzelnen ist nicht möglich, ohne daß andere ihre Zwecke verfolgen. Damit ist ein allgemeiner Begriff der Weisheit erschlossen. (Es kann nicht sein, daß jeder seine Zwecke verfolgt ohne Reflexion eines Allgemeinen und seine Zweckverfolgung dann als seine Weisheit ausgibt.) Und dieser Begriff der Weisheit ist notwendig. Vernunft kommt bei konsequentem Nachdenken darauf, daß es notwendig so etwas geben muß wie die Reflexion der Zwecke. Weltbegriff der Philosophie Mit dem Begriff der Weisheit ist Philosophie nicht nur eine Lehre der Geschicklichkeit. Das ist Philosophie auch, aber eben nicht nur und auch nicht wesentlich. Geschicklichkeit bedeutet, die intellektuellen Mittel für die Bedürfnisbefriedigung herzustellen und zu verfeinern. Wie jemand seinen Körper trainieren kann, um dann die erworbene Geschicklichkeit für alle möglichen Zwecke einzusetzen, so könnte man den Verstand trainieren, um ihn für alle möglichen Zwecke einzusetzen. Was man da trainierte: die Kenntnis der Regeln für den Verstand zu beliebigen Zwecken. Die Zwecke wären dann in die Willkür des Einzelnen gestellt. Damit wäre philosophisches Wissen selbst Mittel. Philosophen wären dann Vernunftartisten, die eine gewisse Kunstfertigkeit im Argumentieren erworben hätten und diese dann denjenigen, die schlagfertige Argumente (im wörtlichen Sinne) brauchen, zur Verfügung stellen, also Politikern, Managern, Fernsehmoderatoren. Philosophie ist jedoch nicht nur eine Lehre der intellektuellen Geschicklichkeit, sondern eben wesentlich Reflexion der Zwecke. Philosophie ist - so Kant - “die Idee einer vollkommenen Weisheit, die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt”. (Logik, Einleitung, Weischedel-Ausgabe Bd. 5, S. 447) Angemerkt sei: Das mit der intellektuellen Geschicklichkeit ist gar nicht pejorativ gemeint. (Was ist denn dagegen einzuwenden?) Kant hat dies den ‘Schulbegriff der Philosophie’ genannt (Kritik der reinen Vernunft B 866), Reflexion über das Denken, über das Verhältnis Denken - Gegenstand, über das Subjekt des Denkens, über die durch das Denken zu erschließenden Bedingungen des Denkens etc., all dies sind Vernunfterkenntnisse. Der Versuch, diese Vernunfterkenntnisse zu einem System zu schließen und darin logische Einheit und logische Vollkommenheit dieser Vernunfterkenntnisse zu finden, dieser Versuch ist also der ‘Schulbegriff der Philosophie’. Davon unterschieden ist dasjenige, was Kant ‘Weltbegriff der Philosophie’ nennt, nämlich die Beziehung dieser Vernunfterkenntnisse auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft. Kant: “Philosophie [...] ist [...] die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft”(Logik, S. 447) - Frage: Was ist der Endzweck der menschlichen Vernunft? Zuvor: “die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft”, jetzt: “der Endzweck der menschlichen Vernunft” ist/sind eben nicht nur die Beschäftigung dieser Vernunft mit sich selbst, also das, was in den ‘Schulbegriff der Philosophie’ fällt. Dieser Endzweck der menschlichen Vernunft bezieht sich auf etwas Materiales, Partikuläres, nämlich die jeweils besonderen Zwecke jeweils besonderer Subjekte, also auf deren Bedürfnisse. Der ‘Weltbegriff der Philosophie’ ist damit etwas, was jedermann notwendig interessiert. Bestimmt man dagegen Philosophie nach ihrem Schulbegriff, kann sie als intellektuelle

Geschicklichkeit angesehen und verwendet werden, als die kunstfertige Handhabung der Regeln für den Gebrauch des Verstandes für Einzelne zu beliebigen Zwecken. Also: Philosophie ist Reflexion der menschlichen Zwecke. Sie will herausfinden, was gut und was böse ist. Da es nun verschiedenerlei Zwecke gibt, muß man fragen: Was sind die wesentlichen Zwecke? Oder gar: Was sind die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft? Was ist die Idee einer vollkommenen Weisheit? Zunächst: Eine Wissenschaft ist dafür zuständig, das herauszufinden; es ist nicht in das Belieben eines Einzelnen gestellt, darüber dies oder das zu meinen oder zu glauben. Für den Endzweck der menschlichen Vernunft, das höchste Gut, ist eine Wissenschaft zuständig, eben die Philosophie, die durch Reflexion, durch Vernunft allein, herausbekommen will, was denn das ist: das höchste Gut. Lateinisch heißt es summum bonum. Sie finden in der Geschichte der Philosophie verschiedenerlei Antworten, worin das summum bonum liege, bei Aristoteles in der Glückseligkeit, die das gemeinsame Philosophieren verschaffe, bei Thomas von Aquin in Gott, bei Kant in der Idee, daß das Glück aller Menschen durch eine vernünftige Bestimmung menschlichen Handelns, also insbesondere durch eine vernünftige Organisation der gesellschaftlichen Verhältnisse, erreicht werden könnte. Philosophie als Wissenschaft ist so Weisheitslehre, herauszufinden, worin das höchste Gut zu setzen ist (insoweit ist sie theoretisch) und das Verhalten zu bestimmen, wodurch das höchste Gut für die Menschen zu verwirklichen wäre (insoweit ist Philosophie Praxis, unterhalb dieser Aufgabe ist Praxis für die Philosophie oder philosophische Praxis nicht zu begründen). Es wäre gut, wenn Philosophen - und das sage ich insbesondere auch zu meinen Kollegen - auf die Wortbedeutung philosophia Obacht gäben: Die Lehre vom höchsten Gut, insofern die Vernunft bestrebt ist, es darin zur Wissenschaft zu bringen (Kritik der praktischen Vernunft A 194). (Hier können Sie Philosophie gegen Religion bzw. gegen das, was heutzutage von Religion übrig geblieben ist, abgrenzen. Dort wird das höchste Gut zu einer Glaubensfrage, letztlich zu einer, die zu schwer sei für die als armselig eingeschätzte menschliche Vernunft, so daß man einerseits vermeintlich jenseitige Botschaften nachplappert und andererseits damit rechnet, daß alles noch viel geheimnisvoller sei, als man es sowieso schon darstellt.) Dagegen steht die philosophia, die Lehre vom höchsten Gut, insofern die Vernunft bestrebt ist, es darin zur Wissenschaft zu bringen. Objektiv bedeutet das die Beziehung systematischen Wissens auf Weisheit. Subjektiv bedeutet das, den bei Philosophen nicht gerade seltenen Eigendünkel herabzudrücken. Wenn für Philosophen der Maßstab ist, Weisheitslehrer zu sein, dann wird Weisheit Ideal bleiben, das Ziel der Anstrengung sein muß, in dessen Besitz sich aber nur derjenige wähnt, der sich selbst überschätzt. Gerade die dem Philosophen gestellte Aufgabe, das Nachdenken über die vernünftige Einrichtung gesellschaftlicher Verhältnisse, setzt der als deformation professionelle vorkommenden persönlichen Überheblichkeit Schranken. Soweit zum Weltbegriff der Philosophie oder zu ihrem politischen Impetus. Wozu noch Philosophie? Nun wird von vielen, in jüngster Zeit häufig, die Frage gestellt: Wozu noch Philosophie? (vgl. dazu Adorno: Gesammelte Schriften. Band 10.2, S. 459) Ich kann diese Frage einfach parieren, indem ich sie kritisiere: ‘Wozu’ fragt nach einem der Philosophie äußeren Zweck. Die Philosophie beansprucht, Reflexion menschlicher Zwecke (der wesentlichen, wie Kant sagt) zu sein. Also fällt die Behandlung des Zwecks der Philosophie in die Philosophie. Somit bekommt man erst durch das Studium der Philosophie den Zweck der Philosophie heraus und kann ihn nicht als einen der Philosophie äußerlichen zu Anfang und vor jeder philosophischen Reflexion vorab bestimmen. Ich will dennoch dieser so kritisierten Frage: Wozu noch Philosophie? nachgehen. Der Zeitgeist hat diese Frage längst entschieden. Philosophie gilt ihm als veraltet, überflüssig. Er begründet das zunächst damit, daß Philosophie zu nichts tauge. Was wäre ein etwas, das dem Zeitgeist als ein Taugliches erschiene? Ein bürgerlicher Beruf z.B. Jedoch: Philosophie per se taugt nicht zu einem bürgerlichen Beruf. Philosophie verbessert auch nicht den Standort Deutschland. Für die Produktion und die Entwicklung neuer Technologien ist Philosophie auch nicht nötig. Eine Technik zur Lebenshilfe ist sie gleichfalls nicht. Ein Medium der Bildung jenseits prosaischer Technik oder Naturwissenschaft ist Philosophie auch nicht mehr. Sie war das wohl noch am Anfang des 19. Jahrhunderts. Doch mittlerweile zerfiel das, was mal humanistische Bildung war. Warum wird humanistische Bildung heute als wertlos angesehen? Objektiv taugt sie nicht für das Fit-Machen des Standorts Deutschland. Doch auch die Humanisten selbst haben Entscheidendes zum Zerfall der

humanistischen Bildung beigetragen. Nehmen Sie die Erklärung der Professoren der Berliner Humboldt-Universität von 1914. Darunter waren alle, die in der Deutschen Geistesgeschichte Rang und Namen hatten. Altphilologen, die in Heraklits Tiefsinn versunken waren und die eben 1914 plötzlich auftauchten, um den deutschen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Oder nehmen Sie das Verhalten deutscher Geisteswissenschaftler gegenüber dem Faschismus. Deutsche Universitäten haben lange vor 1933 mit fliegenden Fahnen sich der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen. All dies hatte irreparable Folgen für die Substanz dessen, was humanistische Bildung mal intendierte. Vom Zerfall humanistischer Bildung ist Philosophie wohl zuallererst berührt. Und die Philosophie hat zu ihrer heutigen prekären Lage auch selbst beigetragen, und zwar durch mehrere Punkte: 1) Durch ihr Mißverhältnis zu den Naturwissenschaften. Das begann im Deutschen Idealismus, insbesondere bei Schelling, wo eine alternative Naturphilosophie den Naturwissenschaften gegenübergestellt wurde. Damit - und mit den folgenden philosophischen Gegenentwürfen, Ergänzungen und vermeintlichen Vervollständigungen zu den Naturwissenschaften - hat Philosophie sich grandios blamiert und - mehr noch als blamiert - verdächtig gemacht. Welche Alternativentwürfe zu den Naturwissenschaften die Philosophie auch probierte, die Naturwissenschaften können es besser. Unternähme die Philosophie es, mit den Naturwissenschaften um deren Gegenstände zu konkurrieren oder dieselben Gegenstände unter einem anderen ‘Blickwinkel’ zu betrachten, welcher ‘Blickwinkel’ eo ipso der ‘höhere’ wäre - das Ganze nennt sich dann Überhöhung oder Überstieg über die Naturwissenschaften hinaus -, so tappte sie in Wahrheit nur den Naturwissenschaften hinterdrein. Resultierend aus diesen vergeblichen Konkurrenzversuchen finden Sie bei heutigen Philosophen (und Geisteswissenschaftlern insgesamt) ein ambivalentes und ausgesprochen irrationales Verhältnis zu den Naturwissenschaften, das von tiefgründigem Mißtrauen, hochmütiger Geringschätzung und intuitiver Ablehnung bis hin zu blinder Affirmation und dem verzweifelten Versuch pendelt, Verfahren der Naturwissenschaften in die Geisteswissenschaften zu implantieren. 2) Die Wissenschaften spezialisieren sich mehr und mehr. Beispiel: Disziplin Chemie, Teildisziplin Biochemie, Teildisziplin dieser Teildisziplin: Physikalische Biochemie. Die Disziplin Chemie übersieht heute keiner mehr. Weitgehender noch als die Spezialisierung ist das, was ich Departementalisierung in diesen spezialisierten Einzelwissenschaften nenne. Jede solche Einzelwissenschaft ist für einen immer engeren Teilbereich zuständig und schließt zugleich selbst nahestehende Wissenschaftler als inkompetent aus. Für die Philosophie fällt kein solches Departement zwischen - sagen wir - Physik und Mathematik oder Mathematik und Psychologie etc. ab. Es scheint so zu sein, als ob alle möglichen Gegenstände von Wissenschaft aufgeteilt wären und in die zuständigen Departemente fallen würden und als ob Philosophie ihre vormaligen Gegenstände an die Einzeldisziplinen verloren hätte und nun ganz ohne bestimmten Gegenstand dastünde. Der Ausweg, eine ‘Ganzheitswissenschaft’ über den Einzeldisziplinen zu postulieren und darin die Aufgabe der Philosophie zu sehen, führt in den Mystizismus und in dasjenige, was ich als Andrehen von Weisheiten (Plural) bezeichnete. Die Departementalisierung würde nämlich so belassen, wie sie ist, und ihr würde lediglich Sinn verschafft, ein Sinn, der auf nichts Bestimmtes abzielt, aber zur Befriedigung des ‘metaphysischen Bedürfnisses’ notwendig erschiene. Doch bloß mit dem ‘metaphysischen Bedürfnis’ und ohne bestimmte Gegenstände läßt sich keine Wissenschaft machen. Wenn Philosophie es als Wissenschaft ernst meint, muß sie sich einerseits vom Mystizismus einer angeblichen ‘Ganzheitswissenschaft’ distanzieren, andererseits jedoch wissen, daß die Departementalisierung zu einander ausschließenden, das Feld der möglichen zu bearbeitenden Gegenstände dem Anspruch nach vollständig erfassenden und aufteilenden Einzelwissenschaften der Reflexion auf die allgemeinen Prinzipien von Wissenschaft abträglich ist. Also der zweite Punkt: Es gibt eine fortschreitende Tendenz zur Spezialisierung und Departementalisierung der Wissenschaften. Die Philosophie, die doch für die allgemeinen Prinzipien zuständig ist, scheint vor die Alternative gestellt zu sein: Seite A: Entweder würde die Philosophie selbst zur Spezialdisziplin und damit Teil des departementalisierten Geistes. Philosophie widerstritte dann dem, was sie immer beanspruchte zu sein, eben keine partikulare Einzelwissenschaft, denn sie ist ja zuständig für die in allen Disziplinen

nötigen allgemeinen Prinzipien. Ein solcher innerer Widerspruch, was Begriff und Selbstverständnis der Philosophie betrifft, beförderte ihren Zerfall. Seite B der Alternative: Oder die Philosophie räumte das Feld für die Einzeldisziplinen, verlöre damit jeglichen bestimmten Gegenstand. Ohne ihre bestimmten Gegenstände verlöre die Philosophie den Anspruch, Wissenschaft zu sein, und entschwände in ein unverbindliches Gerede über den oder jenseits der Einzelwissenschaften. Beide Seiten der Alternative bedeuten in der Konsequenz das Ende der Philosophie. Die Frage bleibt, ob es sich bei der Alternative um eine vollständige Einteilung handelt. Historische Anmerkung: Läßt man die Geschichte der Philosophie Revue passieren, so sind im Verlaufe der Zeit in der Tat der Philosophie Bereiche entrissen und zu Einzelwissenschaften gemacht worden. Beispiele: die Physik im 17. Jahrhundert, die Soziologie im 19. Jahrhundert. Dem äußerlichen Blick könnte es so erscheinen, als sei Philosophie heute eine mittlerweile arg gerupfte Restenklave, die wohl noch lediglich aus Pietät vor der altehrwürdigen Geschichte toleriert, aber nicht mehr respektiert werde, für die aber gewiß sei, daß sie weitere Teile z.B. an die Neurowissenschaften verlieren werde. Es gibt Hochschullehrer in philosophischen Instituten, die, mehr oder weniger in blinder Panik, den Begriff ‘Philosophie’ für überholt erklären und die von ihnen als Restenklave verstandene Disziplin kurzerhand in Kognitionswissenschaft umgetauft haben, um nur die Anerkennung als wissenschaftliche Spezialdisziplin zu bekommen (man studiert dann nicht mehr Philosophie, sondern Kognitionswissenschaft). Doch mit solchem Umtaufen wird die Selbstpreisgabe vollzogen: Die Kognitionswissenschaft wird durch naturwissenschaftlich orientierte Psychologie und Neurowissenschaften ersetzt werden. 3) Auf das durch die Departementalisierung der Einzeldisziplinen für die Philosophie erzeugte Dilemma gibt es nun innerhalb der Philosophie eine Reaktion: die Formalisierung. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts begann man von allem materialen Inhalt zu abstrahieren und abgetrennt vom materialen Inhalt sich mit der Form oder mit der Methode zu beschäftigen. Den materialen Inhalt überlassen solche Philosophen den Einzelwissenschaften, die davon abgetrennte Form konstruieren sie oder hypostasieren sie zum (neuen) Gegenstand der Philosophie. Damit wird die formale Logik die Regeln des Denkens in formalen Zeichen ohne Beziehung auf den Inhalt, der damit gedacht wird - zu einer Schlüsseldisziplin für die Philosophie gemacht; analoges gilt für die Wissenschaftstheorie. Diese geht nicht auf die Gegenstände der einzelnen Wissenschaften, sondern auf die Methode, von der man unterstellt, sie sei unabhängig von den Gegenständen und für sich in einer eigenen Disziplin zu behandeln - so wie die formale Logik unterstellt, die formalen Regeln des Denkens seien unabhängig vom Inhalt, der gedacht wird. Philosophie verkommt so zur Methodologie - methodos griech.: der Weg -, zur Untersuchung des Weges, wobei jedes mögliche Ziel des Weges ausgeklammert wird. Die Abstraktion von den Gegenständen hat insbesondere in der Wissenschaftstheorie zu absonderlichen Konstrukten geführt. Diese passen nämlich überhaupt nicht mehr auf die besonderen Wissenschaften mit den besonderen Gegenstandsbereichen, deren Theorie Wissenschaftstheorie ursprünglich sein wollte. Der Tendenz zur Formalisierung und zur Methodologie in der Philosophie eignet ein eigentümliches Entrückt-Sein von allem materialen Gehalt. Darüber hinaus signalisiert sie eine Bankrotterklärung der Philosophie gegenüber realen gesellschaftlichen Zwecken - drastisch formuliert: Sie ist eine Art Selbst-Kastration der Philosophie, weil gerade die Reflexion auf die Zwecke, worauf menschliche Vernunft letztlich abzielt, Wesensmerkmal von Philosophie war und ist. (Ich erinnere an Kants Endzweck der menschlichen Vernunft.) Bei positivistischen Philosophen erscheint ein Begriff wie ‘Endzweck der menschlichen Vernunft’ als nicht mehr zeitgemäße Metaphysik. Soweit zum 3. Punkt: Mit der Transformation in Methodologie, die eo ipso von materialen Gehalten und vernünftigen Zwecken abstrahiert, zerstört Philosophie ihren Begriff. 4) Die Formalisierung innerhalb der Philosophie habe ich als Reaktion auf die Departementalisierung der Einzeldisziplinen dargestellt. Es gibt dazu eine auf den ersten Blick gegensätzliche, aber zugleich auch komplementäre Reaktion: die Flucht aus der Gegenwart und die Proklamation einer angeblich besseren Vergangenheit und gar die Beschwörung reiner Ursprünge. Diese Flucht manifestiert sich entweder in dem Zurückwurzeln in dunkle Vorzeiten oder - die

gemäßigtere Variante - in dem Aufmachen eines Museums für die Heroen der denkenden Vernunft. In beiden Varianten sind Wirkungslosigkeit und Selbstpreisgabe programmiert. In der ersten radikaleren Variante wird das Frühere als das Eigentlichere, Unverdorbenere präpariert; nur verliert sich das eben in dunkler Vorzeit und ist dann entsprechend dunkel, was bei solchen philosophischen Richtungen auch mit unverständlicher Sprache einhergeht. Das ist die Reaktion der Beschwörung der Vergangenheit. Bei dieser Variante befindet man sich von vorneherein vor jeder geschichtlichen Entwicklung oder gar jenseits derselben, so daß man dem Resultat der Geschichte mit gehöriger, wenn nicht gar unüberbrückbarer Distanz gegenübersteht. Bei der Museumsvariante - dies ist die Reaktion des Hütens und Pflegens der Vergangenheit, hier sind die Philologen tätig trottet der die Heroen der Geschichte hütende Philosoph der stattgefundenen Geschichte der Philosophie immer hinterdrein und ist zugleich von dieser Geschichte überrollt, weil er sich selbst zum Museumsstück macht. Indem vergangene philosophische Systeme zu musealen Exponaten in der Galerie großer Geister präpariert werden, wird die Entwicklung des Begriffs, durch die gegenwärtiges Philosophieren erst möglich wird, getötet. Die beiden Varianten - Beschwören oder philologisches Pflegen - sind also keine Auswege. Sie bestärken nur den Eindruck, daß Philosophie veraltet, überflüssig zu sein scheint. Sie selbst hat dazu beigetragen. Immanente Kritik Was bleibt? Die Reflexion auf die Geschichte, das Verfahren der Kritik. Kant sagte, allein der kritische Weg sei noch offen. Und genau dies finden Sie in der Philosophie selbst wieder, nämlich wenn Sie die Entwicklung des Begriffs nochmals durchdenken, wenn Sie als Heutige, nach abgelaufener Geschichte, quasi von hinten her den Gang der Entwicklung der Philosophie nochmals durchdenken. Platon war der Kritiker der Vorsokratiker, und erst in dieser Beziehung verstehen Sie Platon - und die Vorsokratiker, und Sie verstehen Platon nicht, wenn Sie ihn für sich nehmen, als Besonderheit sui generis; Aristoteles war der Kritiker Platons; Descartes kritisierte die Scholastik; Leibniz kritisierte den Empirismus und Descartes; Kant kritisierte Leibniz und Hume; Hegel kritisierte Kant; Marx kritisierte Hegel usw. Und daran können Sie erkennen, daß Sie in der Philosophie einen Begriff (und ein System) nicht abtrennen können von der Geschichte dieses Begriffs. Dies ist ein zweiter Einwand gegen Methodologie, gegen die Reduktion des Philosophierens auf formale Regeln. Der erste Einwand war: Das ‘Wie’ des Denkens ist nicht abzutrennen vom ‘Was’, vom Inhalt, was gedacht wird. Und jetzt der zweite: Der Inhalt ist nicht stillzustellen, zu isolieren oder abzutrennen von seiner Geschichte. Deswegen kann Philosophie nicht zeitlose Methodologie sein, so als könnte man zeitlose formale Regeln des Denkens, der Wissenschaft, der Gesellschaft, der Sprache und alles möglichen abgetrennt von jeglichem Inhalt des Denkens, von den besonderen Gegenständen der Wissenschaft und von den besonderen Herrschaftsverhältnissen in der Gesellschaft isolieren und als zeitlose Methode stillstellen. Die Form ist nicht abtrennbar vom Inhalt, und dieser ist nicht stillzustellen, abzutrennen von seiner Geschichte. Philosophie kann aber auch nicht Restauration eines vergangenen Systems sein, so als lebten wir im Jahre 360 vor Christus und sagten: Ich bin Platoniker. Restauration, Wiederherstellung eines Systems, so wie es war, stellte die Entwicklung des Begriffs still. Wenn Sie nun Philosophie trotz meiner Einwände durch ein Verfahren charakterisieren wollen ‘Methode’ ist ja so modern -, dann kann ich Ihnen eine einzige Methode anempfehlen, nämlich die immanente Kritik. Immanente Kritik ist Selbstkritik, die auf die eigenen, die inneren Widersprüche geht. Diese inneren Widersprüche sind Movens (Antrieb) für die Bewegung des Gedankens, Movens für die Entwicklung der Philosophie. Und damit ist Philosphie auf die Geschichte bezogen, eine Beziehung, die der Philosophie nicht äußerlich ist. Die Widersprüche eines Philosophen sind in aller Regel nicht schlichte Denkfehler, sondern gerade das Interessante. Einmal, weil, wie gesagt, die Entwicklung durch diese Widersprüche vorangetrieben wird, zum anderen, weil es objektive Gründe - und nicht subjektive Unzulänglichkeit - für diese Widersprüche gibt. Und diese Gründe lassen sich herausfinden. Philosophie kann in der Reflexion auf den eigenen Zustand (die Selbstkritik, die auf die inneren Widersprüche geht) etwas über den Zustand der Gesellschaft erfahren, innerhalb derer Philosophie ist. Damit bin ich bei dem, was das Politische der Philosophie ist. Und mit dem politischen Gehalt der Philosophie hängt zusammen, daß sie als irgendwie veraltet, unzeitgemäß erscheint. Wenn Sie -

Kantisch formuliert - den Weltbegriff der Philosophie einmal ernst nehmen, die Idee des höchsten Gutes resp. den Endzweck menschlicher Vernunft, welcher zu verwirklichen sei, und wenn Sie diesen Weltbegriff der Philosophie konfrontieren mit dem tatsächlichen Zustand dieser Welt, dann drängt sich der Eindruck auf, daß Philosophie angesichts dieses Zustandes der Welt zu spät komme und immer hinter den sich verschlimmernden Verhältnissen zurückbleibe. So sprechen die Verhältnisse das Urteil über die Philosophie: Philosophie sei unzeitgemäß, obsolet, insgesamt ein Luxus der Kontemplation. Als solcher Luxus sei sie eben nicht an der Zeit; angesichts der Zustände hätte man gar nicht die Zeit für komplizierte Reflexionen, sollte vielmehr die Energien auf Praxis verlegen. Von Marx stammt der Satz: “Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern” (11. These über Feuerbach). Dort ist die Abschaffung der Philosophie gedacht - oder besser die Aufhebung der Philosophie, und zwar Aufhebung der Philosophie in einer durch Theorie geleiteten Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Marx zog damit nur die Konsequenz des Deutschen Idealismus, nämlich die Verhältnisse, in denen Menschen gezwungen sind zu leben, auf den Kopf, das ist auf den Gedanken zu stellen, gemeint: die Produktion nach vernünftigen Prinzipien zu organisieren. Ich will Ihnen vorlesen, wie Hegel das Verhältnis von Philosophie und Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmte, und zwar anhand der politischen Veränderungen, die zu seinen Lebzeiten gerade geschehen waren, nämlich anhand der Französischen Revolution. Es geht Hegel um das Verhältnis von Kants Philosophie und der Französischen Revolution: “Man hat gesagt, die französische Revolution sey von der Philosophie ausgegangen, und nicht ohne Grund hat man die Philosophie Weltweisheit [und eben nicht bloß Schulweisheit; U.R.] genannt, denn sie ist nicht nur die Wahrheit an und für sich, als reine Wesenheit, sondern auch die Wahrheit, insofern sie in der Wirklichkeit lebendig wird [...] So lange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt, und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der nous die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sey es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.” (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Glockner-Ausgabe Band 11. S. 556f) Hegel wußte, daß Autonomie der Vernunft und Elend in den bürgerlichen Verhältnissen nicht zusammenpassen. Doch deswegen erklärte er nicht die Philosophie für obsolet, sondern jene Verhältnisse für unangemessen. Er sah den zu bewahrenden Anspruch der Philosophie erst eingelöst durch die Verwirklichung der Philosophie. So feierte er die Französische Revolution, weil dort die gesellschaftlichen Verhältnisse vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht wurden. Sie wurden auf den Kopf, das ist auf den Gedanken gestellt; die Wirklichkeit sollte danach eingerichtet werden, was vernünftig ist. Also: Es geht um Verwirklichung, und zwar um gesellschaftliche Verwirklichung dessen, was Autonomie der Vernunft ist, das heißt eben, die Produktion nach vernünftigen Prinzipien zu organisieren und nicht nach dem Prinzip, aus Geld mehr Geld zu machen. nous solle die Welt regieren, gar ein Enthusiasmus des Geistes, wodurch die wirkliche Versöhnung des Göttlichen mit der Welt gelänge. Der Konjunktiv im Zitat zeigt an: Hegel ist skeptisch, ob die in der Französischen Revolution erstrebte Versöhnung des göttlichen Geistes mit der Welt gelungen sei. Doch an dem Hegel-Zitat sehen Sie: Die philosophische Spekulation selbst forderte die Aufhebung der Philosophie durch die Verwirklichung der Philosophie. Für die Deutschen Idealisten war Philosophie nicht passive Kontemplation jenseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern Philosophie implizierte das tätige Selbstbewußtsein. Falls dieses tätige Moment unterbunden werde, verkümmere die Theorie. Angesichts dieses so erreichten Standes der Reflexion (Reflexion des Verhältnisses von Philosophie und gesellschaftlicher Wirklichkeit) steht zur Disposition, ob und wie man weiterphilosophieren könne und ob man schlicht nicht zur Kenntnis nehmen müßte, daß jene Versöhnung ( = die Verwirklichung der Philosophie) nicht geklappt habe. Doch die Reflexion dieses Nicht-Klappens wird gerade zum Hauptgegenstand für das Weiterphilosophieren. Das, was der Deutsche Idealismus intendierte und was durch Abschaffung, genauer: Aufhebung der Philosophie eingelöst werden sollte, wurde nicht eingelöst. Der Gegenstand philosophischer Kritik - und dieser Gegenstand ist zumindest seit Hegel das reale Elend bürgerlicher Verhältnisse - dieser Gegenstand besteht fort.

Wenn einige Aufhebungsversuche nun in der Empirie als Fehlversuche sich herausstellten, ist deswegen der Gedanke, der Autonomie der Vernunft verwirklichen wollte und darin die Aufhebung der Philosophie sah, noch nicht falsch geworden. Solange es dieses Elend gibt, wird es ein Bewußtsein des Elends geben. Dieses Bewußtsein des Elends kann sich nicht gegen die Erkenntnis abschotten, daß angesichts der objektiven Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik dieses Elend nicht mehr notwendig wäre. Ein solches Bewußtsein ist Philosophie. Damit gründet Philosophie nicht in sich selbst, sondern erfährt einen wesentlichen Impuls aus den Widersprüchen der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse, deren Veränderung gemäß vernünftiger Prinzipien bis jetzt nicht gelungen ist. Und deswegen bleibt die einstmals propagierte Abschaffung resp. Aufhebung der Philosophie storniert. Aktualität der Philosophie Es soll damit nicht einer Restauration des Deutschen Idealismus das Wort geredet werden, einer Restauration dergestalt, daß der Philosoph Verkünder des Absoluten und der Verwirklichung des Absoluten in der Welt sei, wobei diese Welt für solche Philosophen schon immer die beste aller möglichen Welten ist. Die Kritik an solcherart Restauration ist berechtigt. Es ist nicht Aufgabe der Philosophie, die Welt mit einem philosophischen Zuckerguß zu versehen und den Menschen einen Sinn zu fabrizieren, den sie aufgrund der materiellen Lebensbedingungen nicht haben können. Wenn nun die Restauration des Deutschen Idealismus verstellt ist, so ist dies nicht gleichbedeutend damit, ihn für nichtig zu erklären und stattdessen dem Positivismus sich anzuvertrauen und damit zu sagen: Geist sei nichts anderes als die Anpassung an das, was der Fall ist. Denn Geist kann überhaupt nur erkennen, wenn er sich selbst nicht durchstreicht. Für affirmative Philosophie wird alles funktional, auch das erkennende Subjekt, der Geist. Anpassung an die Verhältnisse, so wie sie sind, heißt dann: Unterwerfung des Geistes. Unterwerfung des Geistes zielt auf jenes Potential des Deutschen Idealismus, nämlich Autonomie der Vernunft, die auf die Verwirklichung einer vernünftig organisierten Produktion abzielt. Ein solches Potential erscheint der funktionalen Zurichtung auf das, was vorherrschend ist, überflüssig. Von daher rührt die Rede: ‘Philosophie sei zu nichts gut’. Wissen wir jedoch um den Standpunkt, von dem aus Philosophie als funktional und überflüssig abgestempelt wird, so ergibt sich gerade ein Grund, warum Philosophie nötig ist. Gerade in ihrer Abstempelung als funktionslos kann Philosophie erkennen, von welcher Art die Funktionalität ist, für die sie nicht taugt. Dadurch gewinnt Philosophie eine neue Aufgabe und hebt ihr Überflüssig-Sein auf. Mit dieser neuen Funktionsbestimmung von Philosophie, nämlich durch ihre von den gegenwärtigen Verhältnissen produzierte Funktionslosigkeit hindurch zu erkennen, von welcher Art solche Verhältnisse sind, an denen sie scheitern muß, mit dieser ihrer neuen Funktionsbestimmung nimmt Philosophie etwas in sich auf, was geschichtlich ist, was Reflex eines in der Zeit ablaufenden Prozesses ist. Von daher leitet sich ein Argument her gegen die Bestimmung der Philosophie als philosophia perennis, als Philosophie, die in sich zeitlos ewige Wahrheiten hütet. Hegel setzte gegen die Idee einer philosophia perennis den bemerkenswerten Satz: Die Philosophie ist “ihre Zeit in Gedanken erfaßt” (Vorrede zur Philosophie des Rechts, Glockner-Ausgabe. Band 7. S. 35). Hegel ging davon aus, daß die wirkliche Geschichte ein Bildungsprozeß sei, der neben der Herausbildung der Gesellschaft auch die Herausbildung des Begriffs dieser Gesellschaft umfasse. Ist Philosophie notwendiges Moment des Ganzen, kann sie, da das Moment das Ganzen auch das Ganze ausdrückt, aus der Reflexion auf sich etwas über die Gesellschaft herausfinden. Jemand, der Aristoteles versteht, gewinnt einen Begriff der antiken Sklavenhaltergesellschaft, und jemand, der Kant und Hegel versteht, begreift die bürgerliche Gesellschaft. Mit Hegels Diktum, das den Gehalt der Philosophie auf die gesellschaftliche Wirklichkeit bezieht, wird deutlich: Die philosophischen Klassiker lassen sich nicht in einen zeitlosen Olymp entrücken. Restauriert als Heroen des Geistes taugen sie allenfalls als Museumsstücke. Philosophie muß die heutige Zeit in Gedanken erfassen, und die Frage ist, was die vergangene Reflexion dazu beitragen kann.