Die Cantor-Funktion

3.6 Die Cantorfunktion eingeschränkt auf C Wir haben in Abschnitt 3.5 gezeigt, dass es zu jedem Punkt in [0,1] ein Urbild in [0,1] gibt...

508 downloads 892 Views 270KB Size
Die Cantor-Funktion Stephan Welz Ausarbeitung zum Vortrag im Proseminar Überraschungen und Gegenbeispiele in der Analysis

(Sommersemester 2009, Leitung PD Dr. Gudrun Thäter)

Zusammenfassung: In dieser Ausarbeitung zur Cantor-Funktion wird, ausgehend von der

Cantor-Menge, eine Abbildung vom Intervall [0,1] auf das Intervall [0,1] konstruiert und sich mit deren Eigenschaften befasst. Um dem Leser den Einstieg zu erleichtern, werden zunächst die elementaren Ideen der Bildung einer Cantor-Menge wiederholt und die in dieser Arbeit gewählten Notationen erläutert. Nachdem wir schlieÿlich im zweiten Abschnitt eine Funktion deniert haben, die wir als Cantor-Funktion bezeichnen wollen, werden wir uns im dritten Teil den besonderen und teilweise überraschenden Eigenschaften der Cantor-Funktion widmen.

Inhaltsverzeichnis 1 Die Cantor-Menge

3

2 Denition der Cantor-Funktion

4

2.1

... auf den weggestrichenen Teilintervallen

. . . . . . . . . . . . . . . .

4

2.2

... in den Punkten der Cantor-Menge

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

3 Eigenschaften der Cantor-Funktion und deren Beweise

7

3.1

Stetigkeit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

3.2

Monotonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

3.3

Nicht-Dierenzierbarkeit in C

7

3.4

Dierenzierbarkeit in [0,1]\C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

3.5

Surjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

3.6

Die Cantorfunktion eingeschränkt auf C

. . . . . . . . . . . . . . . . .

8

3.7

Nicht-Lipschitz-Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 Resümee

8

Abbildungsverzeichnis 1.1

Entstehung der Cantor-Menge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

2.1

Bild der Cantor-Funktion bis Denition 2.2 . . . . . . . . . . . . . . . .

5

2.2

Die Cantor-Funktion

6

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

1 Die Cantor-Menge Im Jahre 1883 führte der deutsche Mathematiker Georg Cantor eine Menge ein, die bereits acht Jahre vorher von Henry John Steven Smith, einem irischen Mathematiker, konstruiert wurde. Bei dieser Menge, die heute Cantor-Menge genannt wird, handelt es sich um eine Wischmenge; also um eine Menge, die durch das wegwischen verschiedener Bereiche einer Ursprungsmenge entsteht. Um die Cantor-Menge zu erhalten, wird dieser Wischprozess unendlich oft durchgeführt. Obgleich Georg Cantor die Konstruktionsvorschriften zur Mengenbildung sehr allgemein formuliert hat, so dass es mehrere verschiedene Mengen gibt, die als eine Cantor-Menge bezeichnet werden könnten, so meint man heute zumeist die Cantor-Ternär-Menge auf dem Intertervall [0,1], wenn man von der Cantor-Menge spricht. Wir wollen uns nun zunächst noch einmal kurz mit der Konstruktion dieser Menge befassen, bevor wir diese nutzen, um eine Abbildung zu konstruieren. Wie bereits angedeutet durchläuft die Cantor-Menge bei ihrer Entstehung einen inniten Prozess. Um diesen Prozess zu verstehen, werden wir uns zunächst die ersten beiden Schritte im Detail ansehen, bevor wir uns der tatsächlichen Cantor-Menge widmen.

1. Schritt Wir betrachten das kompakte Intervall I0 := [0, 1]. 1 2 Indem man das oene Intervall ( , ) =: J1,1 entfernt, bleiben uns die Intervalle 3 3 [0, 31 ] =: I1,1 und [ 32 , 1] =: I1,2 der Länge ( 13 )1

2. Schritt Betrachte

I1,1

und

I1,2

und entferne

( 91 , 29 ) =: J2,1

und

( 79 , 89 ) =: J2,2

Man erhält nun die kompakten Intervalle

[0, 91 ] =: I2,1 [ 92 , 31 ] =: I2,2 [ 32 , 97 ] =: I2,3 [ 98 , 1] =: I2,4

und der Länge

Bemerkung 1.1

( 31 )2

Die Bildung der Cantor-Menge beruht also darauf, dass die oenen

Mittdrittel-Intervalle der kompakten Urprungsintervalle entfernt werden. Wir wählen dabei die Bezeichnung der Intervalle wie folgt: Die kompakten Interval-

n-ten Iterationsschritt übrig bleiben, bezeichnen wir mit In,k , wobei k diese abzählbare Menge an Intervallen nummeriert. Die oenen Intervalle, die im m-ten Schritt aus der Menge entfernt werden, wollen wir mit Jm,l bezeichnen. Ganz analog ist hier l ein Nummerierungsindex, der die Reihenfolge der Intervalle beginnend von

le, die nach dem

der unteren Grenze 0 des Ursprungsintervalls [0,1] zur oberen Grenze 1 angibt.

n-ter Schritt Betrachte alle In−1,i und entferne die mittleren oenen Teilintervalle 1 n n Man erhält 2 kompakte Intervalle In,i der Länge ( ) 3

3

Jn,i

Abbildung 1.1: Entstehung der Cantor-Menge (www.achim-und-kai.de)

Notation:

S S n−1 Cn = [0, 1] \ nl=1 2m=1 Jl,m S S n−1 C := C∞ = [0, 1] \ n∈N 2m=1 Jn,m

2 Denition der Cantor-Funktion Nun möchten wir eine Funktion denieren, die das Intervall [0,1] auf das Intervall [0,1] abbildet. Bei dieser Abbildung möchten wir jedoch unterscheiden, ob das Urbild in der Cantor-Menge

C

liegt oder in einem Bereich auÿerhalb, und entsprechend verschiedene

Abbildungsvorschriften gelten lassen. Die Funktion, die wir im Folgenden konstruieren, nennen wir Cantor-Funktion und kürzen sie mit dem griechischem Buchstaben

Φ (Phi)

ab.

2.1 ... auf den weggestrichenen Teilintervallen Betrachten wir zunächst die Punkte auf den Teilintervallen, die während unserer CantorMengen-Bildung weggestrichen wurden. Wir ordnen diesen Punkten die folgenden Funktionswerte zu:

Denition 2.1

Sei

x ∈ Jn,k ,

dann gilt:

Φ(x) :=

2k−1 2n

Betrachten wir nun die obige Denition, so ergeben sich für die ersten Teilintervalle folgende Funktionswerte:

4

Φ(x)

=

 1    2    1    4 3

4    1    8   .  ..

f u¨r

1 3


2 3

(J1,1 )

f u¨r

1 9


2 9

(J2,1 )

f u¨r

7 9


8 9

(J2,2 )

f u¨r

1 27


2 27

(J3,1 )

f u¨r

. . .

. . .

2.2 ... in den Punkten der Cantor-Menge In diesem Abschnitt möchten wir uns mit der Funktionsvorschrift der Cantor-Funktion beschäftigen, die die Punkte in der Cantor-Menge in unseren Bildbereich, das Intervall [0,1], abbildet. Dabei betrachten wir zunächst die Punkte

Denition 2.2 Φ(0) := 0

und

x=0

und

x=1

gesondert:

Am Anfangs- und Endpunkt unseres Urbild-Intervalls denieren wir:

Φ(1) := 1

Abbildung 2.1: Bild der Cantor-Funktion bis Denition 2.2 (www.gimmler.org)

Nun betrachten wir diejenigen Punkte in

In,k

C , die Randpunkt eines kompakten Intervalls

sind. Wenn wir uns noch einmal ins Gedächtniss rufen, wie diese Intervalle bei

der Entstehung der Cantor-Menge gebildet wurden, wird schnell klar, dass jeder dieser Randpunkte in genau einem Abschluss eines oenen weggestrichenen Teilintervalls liegt. Natürlich gilt für die tatsächliche Cantormenge

n = ∞;

Jm,l

jedoch dient es der

Anschaulichkeit, wenn man zunächst versucht, diese Tatsache mit einem endlichen, kleinen

n

nachzuvollziehen. Nachdem dies geschehen ist, denieren wir wie folgt:

Denition 2.3

Φ(x) :=

2k−1 2n

für

x ∈ (Jn,k \ Jn,k )

5

Es gilt also für die Punkte des Abschlusses der

Jn,k

dieselbe Funktionsvorschrift, wie

für die Punkte, die in eben diesen Intervallen enthalten sind (vgl. Deniton 2.1). Obwohl wir nun schon sehr viele Punkte und Intervalle unseres Urbildes mit einer Funktionsvorschrift versehen haben, bleiben dennoch Punkte, die wir bisher noch nicht abgebildet haben. Im Folgenden werden wir betrachten, wie wir diese Punkte sinnvoll abbilden können. Dabei ist es wieder ratsam, sich zunächst etwas von der tatsächlichen Cantor-Menge zu lösen, indem man sich vorstellt, man würde ihre Bildung nach

k

Iterationsschritten abbrechen.

x also nun so gewählt, dass Φ(x) noch nicht deniert ist. Wir wissen daher, dass 0 6= x 6= 1 gilt und x nicht in einem weggestrichenen Teilintervall oder deren Abschluss liegt. Es ist also klar, dass x in einem übriggeblibenen Teilintervall (αk , βk ) der Länge ( 31 )k liegen muss. Daraus ergibt sich, dass βk = αk + ( 13 )k . Für die Randpunkte dieses Sei

Intervalls haben wir bereits Funktionvorschriften deniert, die hier zur Anwendung 1 k kommen: Φ(βk ) = Φ(αk ) + ( ) . 2 Wir betrachten nun den k + 1-Iterationsschritt unserer Mengenbildung. Oensichtlich macht es nur Sinn, wenn unser

x

nun immer noch in einem nicht-weggestrichenen

Intervall liegt, da wir sonst auf die Denition aus Abschnitt 2.1 zurückgreifen könnten. Es sei also

x ∈ (αk+1 , βk+1 ),

wobei es unerheblich ist, ob es sich hierbei um das links

oder rechts übrig gebliebene Intervall handelt. Es gilt im Allgemeinen:

Φ(αk ) ≤ Φ(αk+1 ) < Φ(βk+1 ) ≤ Φ(βk )

und wir denieren:

Denition 2.4 Damit ist

Φ

Φ(x) := lim Φ(αk ) = lim Φ(βk ) k→∞

k→∞

auf ganz [0,1] deniert und wir können uns nun den Eigenschaften der

Cantor-Funktion zuwenden.

Abbildung 2.2: Die Cantor-Funktion (www.math.harvard.edu)

6

3 Eigenschaften der Cantor-Funktion und deren Beweise Theorem 3.1 Die Cantor-Funktion

Φ:[0,1]→[0,1]

mit

Φ(0) = 0

und

Φ(1) = 1

hat die

folgenden Eigenschaften 1.

Φ

ist stetig

2.

Φ

ist monoton steigend

3.

Φ

ist für kein

4.

Φ

ist für alle

5.

Φ

ist surjektiv

6.

Φ|C : C → [0, 1]

7.

Φ

x

dierenzierbar

x ∈ [0, 1]

dierenzierbar und

Φ0 (x) = 0

ist surjektiv

ist nicht lipschitzstetig

3.1 Stetigkeit n ∀n ∈ N ∀x, y ∈ [0, 1]  gilt: Falls: |x − y| < 31 n ⇒ |Φ(x) − Φ(y)| < 12 ⇒ ∀ε > 0 ∃δ > 0 : |x − y| < δ ⇒ |Φ(x) − Φ(y)| < ε ⇒ Φ ist gleichmäÿig stetig

3.2 Monotonie Der Beweis der Monotonie folgt direkt aus unserer Denition der Cantor-Funktion.

3.3 Nicht-Dierenzierbarkeit in C Wir betrachten zunächst wieder die vereinfachte Cantor-Funktion, bei der nach

k

Ite-

rationsschritten die Bildung der Cantor-Menge abgebrochen wird. Wenn wir dann im zweiten Schritt

k

gegen Unendlich gehen lassen, so erhalten wir den Beweis, dass

Φ

in

C nicht dierenzierbar ist. Sei also

⇒x

x ∈ C

ist in einem abgeschlossen Intervall, das im

ches wir hier

[α, β]

k -ten

Schritt entstanden ist, und wel-

nennen wollen.

( Φ(β) − Φ(α) = ( 21 )k ⇒ β − α = ( 13 )k ⇒ [Φ(β) − Φ(α)] = ( 23 )k [β − α] ⇒ [Φ(β) − Φ(x)] + [Φ(x) − Φ(α)] = ( 23 )k [(β − x) + (x − α)] n o α γ Es gilt im Allgemeinen folgende Beziehung max , ≥ α+γ β δ β+δ die wir nun anwenden wollen:

7

für

α, γ ≥ 0, β, δ > 0,

, Φ(x)−Φ(α) } ≥ ( 23 )k ⇒ max{ Φ(β)−Φ(x) (β−x) (x−α) k → ∞ gehen, so sehen wir leicht, 0 Ableitung Φ (x) = ∞ sein müsste.

Lassen wir nun rechtsseitige

⇒Φ

dass entweder die links- oder die

ist nicht dierentierbar in C

3.4 Dierenzierbarkeit in [0,1]\C Die Menge [0,1]\C besteht nur aus oenen Intervallen, die jeweils auf einen konstanten Funktionswert abgebildet werden. Daher ist diese Aussage klar.

3.5 Surjektivität Aus der Eigenschaft, dass

Φ(0) := 0 und Φ(1) := 1 und der in Abschnitt 3.1 bewiesenen

Stetigkeit, folgt mittels Zwischenwertsatz für stetige Funktionen:

∀y ∈ [0, 1]∃x ∈ [0, 1] : Φ(x) = y ⇒ Φ ist surjektiv

3.6 Die Cantorfunktion eingeschränkt auf C Wir haben in Abschnitt 3.5 gezeigt, dass es zu jedem Punkt in [0,1] ein Urbild in [0,1] gibt. Da es keinen Punkt im Bild gibt, der genau ein Urbild hat, welches aus einem oenen Intervall stammt, ist es klar, dass die auf C eingeschränkte Cantorfunktion surjektiv auf den gesamten Bildbereich [0,1] abgebildet wird. (Zur Erinnerung: Die Randpunkte der oenen Intervalle sind in der Cantor-Menge enthalten und werden auf den selben Funktionswert abgebildet, wie die Punkte im oenen Intervall

Jn,k )

3.7 Nicht-Lipschitz-Stetigkeit Φ ∀x, y ∈ [0, 1] : |Φ(x) −

Zuletzt untersuchen wir die Cantor-Funktion noch auf Lipschitz-Stetigkeit. Wäre lipschitzstetig, so müsste es eine Konstante K geben, so dass

Φ(y)| < K|x − y| Wir betrachten nun die Randpunkte zweier benachbarter Intervalle im

k -ten

Iterati-

onsschritt

⇒ |Φ(x) − Φ(y)| = ( 23 )k |x − y| Damit ist klar, dass für k → ∞

kein

K∈R

existiert, so dass die Lipschitz-Bedingung

erfüllt ist.

4 Resümee Wir haben uns mit der Cantor-Funktion und ihren Eigenschaften befasst. Für mich persönlich, war es ein sehr spannendes Thema, da es mir anfangs unvorstellbar war, dass man eine stetige, monotone Funktion konstruieren kann, so dass für ihre Ablei0 tung an den meisten Stellen Φ (x) = 0 gilt. Die Aufgabe, ausgehend von der ohnehin schon faszinierenden Cantor-Menge, eine Funktion zu konstruieren, für die diese Eigenschaften gelten, hat bei mir groÿes Interesse geweckt. Auch im Nachhinein ist es immer

8

noch unglaublich, dass eine solche Funktion existiert. Man stelle sich mal die einzelnen Iterationsschritte vor: Nach dem zweiten Schritt haben wir bereits die Hälfte aller Urbild-Punkte abgebildet, aber nur drei Punkte im Bildbereich getroen. Es ist wirklich bewundernswert, dass man trotz dieser oensichtlichen Ungleichverteilung eine stetige Funktion denieren kann. Betrachtet man sich die Punkte der Cantor-Menge

C,

deren

Anzahl zwar unendlich ist, die aber auf dem Intervall [0,1] nahezu vernachlässigbar erscheinen, ist es doch sehr bewundernswert, was diese Punkte bewirken. Für alle diejenigen, die sich zu diesem Thema weiter informieren möchten empfehle ich zunächst das englischsprachige Wikipedia. Wer jedoch total in die Welt der Cantor-Funktion, komplexerer Cantor-Mengen und weiterer mathematischer Phänomene einsteigen möchte, ist sicherlich mit dem Buch Experimental Mathematics in Action von David H. Bailey (u.a.) gut beraten.

Literatur [1] Rajwade, A.R.: Surprises and Counterexamples in Real Function Theory, Hindustan Book Agency, Delhi 2007 [2] Bailey, David H. (u.a.): Experimental Mathematics in Action, A. K. Peters Ltd., 2007. [3] Wise, Gary L.: Counterexamples in probability and real analysis, Oxford University Press, New York, 1933 [4] www.en.wikipedia.org: Cantor-set, Cantor-function

9