Tauchsieder: Der Kontrollverlust 17.01.2016
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Tauchsieder
Der Kontrollverlust Kolumne von Dieter Schnaas
Ist Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Aufgaben in der Flüchtlingspolitik noch gewachsen? Ein klares Nein in sechs Punkten - und ein kleines, sehr halblautes „Aber“. Eine Kolumne.
Angela Merkel und die Flüchtlingspolitik: Der Kontrollverlust. Bild: dpa/Picture-Alliance
Es ist genug. Seit fünf Monaten scheitert die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Finanzstaatssekretär Jens Spahn (CDU) hat bereits vor zwei Monaten „eine Art Staatsversagen“ diagnostiziert. Innenpolitiker Wolfgang Bosbach (CDU) stellt einen „Kontrollverlust“ der Bundesregierung fest. Und Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, ist im Gespräch mit dem „Handelsblatt“ schier entsetzt über das „eklatante Politikversagen“ der Kanzlerin, über die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit, die seit 1945 nie größer gewesen sei. Deutschland wurde seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie so sprach-, plan- und hilflos regiert wie in den vergangenen Wochen. Merkel weiß nicht, wie viele Flüchtlinge und Migranten ins Land geströmt sind. Merkel legt keinen Masterplan zur Integration der Einwanderer vor. Merkel lässt kein Einwanderungsgesetz vorbereiten. Merkel versteckt sich hinter einer „europäischen Lösung“, die sie nicht findet - und zieht zur „Bekämpfung der Flüchtlingsursachen“ in einen sinnlosen Krieg. Vor allem aber bereitet Merkel die Deutschen mit keinem Wort auf einen „solidarischen Kraftakt“ vor.
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Tauchsieder: Der Kontrollverlust
Sie hält keine Rede an die Nation, in der sie die Regierten auf die (sehr fernen und sehr theoretischen) Chancen der ungesteuerten Zuwanderung einschwört und zugleich die (sehr handfesten) Sorgen der Bevölkerung - wachsende Sozialausgaben, steigende Arbeitslosigkeit, größere Verteilungskämpfe, innere Unsicherheit, leitkultureller Identitätsverlust - adressiert. Stattdessen amtiert Merkel dem Alltag der anfallenden Ereignisse wie eine schizophren gewordene Politikerin hinterher, die den Bezug zur Realität auf zweifache Weise verloren hat: Einerseits als „Wir-schaffen-das“-Kanzlerin, die Welt und Wirklichkeit mit der schieren Positivität ihrer Gutgläubigkeit überwältigen will - und andererseits als CDU-Chefin, die zur Beruhigung „besorgter Bürger“ beständig neue Signale der Versagensangst und Verunsicherung sendet: Schnellere Abschiebung! Familiennachzug begrenzen! Residenzpflicht für anerkannte Asylbewerber! Das Ergebnis: Politiklose Politik. Ist Angela Merkel ihrer Aufgabe noch gewachsen? Ein klares Nein in sechs Punkten: Erstens: „Ich habe einen Plan“, sagte Merkel vor ein paar Wochen und: „Wir schaffen das!“ - obwohl sie weder einen Plan hat noch zuverlässige Aussagen darüber treffen kann, ob (und was) „wir“ schaffen und was nicht. Merkel deutet ihre Hilflosigkeit selbst an: Wir müssen unsere europäischen Partner mit ins Boot holen… Wir müssen mit der Türkei eine Einigung erzielen… Wir müssen die Flüchtlingsursachen in Syrien, im Irak, in Afghanistan bekämpfen… Wir müssen mehr Geld für die Entwicklungspolitik in die Hand nehmen… Wir müssen Innen- und Außenpolitik enger miteinander verzahnen… Nur ist diese Liste erstens nicht nur eine Liste ihrer politischen Herausforderungen, sondern auch eine Liste ihrer politischen Versäumnisse. Vor allem aber ist sie zweitens nicht Merkels Liste, weil das Gelingen „ihrer“ Politik nicht von Merkel selbst, sondern a) von der Migrations(un)willigkeit der Syrer, Afghanen und Marokkaner abhängt, b) von europäischen Staatschefs, die in ihren Heimatländern mit großen sozioökonomischen Problemen zu kämpfen haben und Merkels Flüchtlingspolitik ablehnen sowie c) von autokratischen Herrschern, von Erdogan zum Beispiel oder Putin. Merkels "humanitärer Imperativ" ist blanker Hohn
Zweitens: Merkel spricht vom „humanitären Imperativ“ ihrer Politik. Was für ein Hohn. Nähme Merkel ihren Selbstanspruch ernst, müsste sie auf die sofortige Einrichtung eines Fährbetriebs zwischen der Türkei und den griechischen Inseln pochen - nicht zuletzt, um den Schleusern das Handwerk zu legen. Es ist zynisch, eine kurzfristig prekäre Situation im hochsommerlichen Budapest zum Notstand zu erklären, der den Umsturz der europäischen Flüchtlingspolitik rechtfertigt - und die Augen ganz fest zu verschließen vor ertrinkenden Kindern im winterkalten Mittelmeer. Humanitär (und christlich) wäre die Organisation einer Politik, die die Ärmsten der Armen in den umkämpften Gebieten und Flüchtlingslagern vor Ort unterstützt, aufsucht und nötigenfalls nach Europa eskortiert: Frauen, Kinder, Verwundete, Versehrte, die weder die körperlichen noch die finanziellen Voraussetzungen haben, um sich auf den langen Weg nach Westen zu machen.
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So viel Geld bekommen Flüchtlinge in den europäischen Ländern Alles anzeigen Platz 1: Dänemark
800 Euro zahlt das Land im Monat pro Flüchtling. Die Summe muss allerdings versteuert werden. Quelle: EU-Kommission / Frontex, Stand: 18. September 2015
Platz 2: Zypern
Die Spanne, die der Inselstaat für einen Asylbewerber zahlt, liegt zwischen 85 und 452 Euro pro Monat.
Platz 3: Norwegen
400 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 4: Deutschland
352 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 5: Frankreich
330,30 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 6: Finnland
zwischen 85 und 290 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 7: Belgien
zwischen 176 und 276 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 8: Großbritannien
232 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 9: Luxemburg
225 Euro pro Flüchtling / Monat.
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Platz 10: Polen
187 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 11: Schweden
177 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 12: Lettland
66 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 13: Bulgarien
33,23 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 14: Niederlande
20 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 15: Slowenien
18 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 16: Slowakei
12 Euro pro Flüchtling / Monat.
Platz 17: Italien & Griechenland
0 Euro pro Flüchtling / Monat.
Stattdessen strömen sehr viele junge Männer nach Europa und Deutschland, bei denen es sich teilweise gar nicht um Flüchtlinge handelt, weil sie sich bereits vor Monaten in Sicherheit eines grenznahen Lagers gebracht haben und die sich nun - wer will es Ihnen verdenken? - als Einwanderer in Deutschland ein besseres Leben versprechen. Drittens: Merkel skizziert nicht mal in Ansätzen ein modernes, auf drei Säulen beruhendes Einwanderungsrecht. Wie könnte es aussehen? Erstens: Das Asylrecht braucht keine Verschärfung, keine materiellen Negativanreize (wie soeben beschlossen) - und es muss schon gar nicht abgeschafft werden. Was es braucht, ist seine strikte Auslegung. Es muss (nur) denjenigen (bedingungslos!) Schutz gewähren, die aus politischen und religiösen Gründen verfolgt werden,
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genauer: die persönlich Ziel von Verfolgungen sind, um Leib und Leben fürchten. Dieses Asylrecht wird aus rein humanitären Gründen gewährt, unabhängig von der wirtschaftlichen Lage, in der sich Deutschland befindet. Zweitens: Unterhalb des Asylrechts gelten Regeln für Menschen mit komplexen Einwanderungsgründen aus nicht-sicheren Staaten. Darunter kann man im weitesten Sinne „Bürgerkriegsopfer“ verstehen. Für diese Menschen - die Mehrheit der Migranten, die in diesen Monaten gen Europa ziehen - muss Deutschland einen Katalog unterschiedlicher (am besten: europäischer) Bleibe- und Aufenthaltstitel zur Anwendung bringen, das heißt: diese Einwanderer werden kontingentiert, verteilt, selektiert und auf Zeit untergebracht, gerne später auch nach ihrer Integrationswilligkeit und -leistung integriert - und das dürfen sie auch, denn der Maßstab ihrer Behandlung als Flüchtling kann nur die Dringlichkeit des vorübergehenden „weg“ aus der Heimat sein, nicht aber die Anziehungskraft des „hin“ in ein bevorzugtes Land, in eine bevorzugte Region. Schließlich: Neben Asyl- und Bleibegesetzen gibt es drittens ein Einwanderungsrecht, das strikt den Interessen Deutschlands folgt: Wer aus „sicheren Drittstaaten“ einreisen will, muss sich in Konsulaten und Botschaften bewerben und hat aufgrund seiner Qualifikationen gute Chancen oder nicht. Merkel verweigert Antworten
Viertens: Der Vormarsch des Rechtspopulismus in Deutschland geht zu einem großen Teil auf Merkels Konto. Sie hat in Deutschland einen Politikstil des mentalen Positivismus salonfähig gemacht, der Vertretern demokratischer Parteien die Räume eng gemacht hat für konstruktive Kritik. Was Kanzleramtsminister Peter Altmaier, Fraktionschef Volker Kauder und der CDU-Vorsitzende in NRW, Armin Laschet, in den vergangenen Wochen an Merkel-Exegese geleistet haben, hatte oft peinlich apostolische, ja: antiaufklärerische Züge. Wer es aus schierer Angst vor dem Eingeständnis eines aus der Not geborenen, selbstherrlich entschiedenen Kurswechsels in der europäischen Flüchtlingspolitik (eines Rechtsbruches und politischen Fehlers überdies) den xenophoben Zündlern bei der AfD überlässt, legitime Bedenken besorgter Bürger zu formulieren, vergiftet die demokratischen Quellen des Rechtsstaates. Wer aus purer Argumentationsnot von „moralischer Verpflichtung“, wer wider besseres Wissen von „ökonomischem Eigeninteresse“, wer aus schierer Hilflosigkeit von der „Unmöglichkeit“ spricht, seine Grenzen schützen zu können - der schafft die Voraussetzungen dafür, dass die Grenzen von Moral und Eigeninteresse am Ende von Menschen mit autoritären Einstellungen und Interessen gezogen werden. Angela Merkel Fünftens: Gibt es eine Belastungsgrenze - und wenn ja: Wann ist sie erreicht? verweigert auf diese alles entscheidende Frage bis heute eine Antwort. Es ist so leicht (und so billig), sich über den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) zu echauffieren, der die Zahl 200.000 in Spiel gebracht hat: 200.000 Zuwanderer pro Jahr - mehr könne Deutschland nicht verkraften.
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Und was macht Seehofer mit dem ersten Flüchtling jenseits der 200.000, fragen sie schadenfroh bei Grünen, SPD und CDU? Gute Frage. Eine noch viel bessere stellen sich die naseweisen Volksvertreter leider nicht: Was gedenken sie mit weiteren 500.000 oder 600.000 Flüchtlingen in 2016 zu tun? Es ist ein politischer Offenbarungseid, dass die „Befürworter“ von Merkels Flüchtlingspolitik nichts als moralische Ohnmachtsargumente ins Feld führen können: Wir können den Zustrom ohnehin nicht stoppen… Eine „Festung Europa“ widerspricht den westlichen Werten… Das internationale Recht verlangt die Aufnahme von Flüchtlingen… Was soll das alles? Wir müssen helfen? Nun - die Sorge für das Wohlergehen der Opfer von Gewalt schließt die Sorge um die Sorgen der eigenen Bevölkerung nicht aus. Wir können den Zustrom ohnehin nicht stoppen? Nun - offenbar trauen wir der türkischen (auch der griechischen und spanischen) Regierung zu, wovor wir selbst kapitulieren: die Eindämmung des Flüchtlingsstroms. Das internationale Recht verlangt die Aufnahme von Flüchtlingen? Nun - das internationale Recht kennt universelle Menschenrechte - und Bürgerrechte, die an Territorien gebunden sind. Muss man wirklich daran erinnern, dass jede Gemeinschaft nur durch Grenzen existieren kann, die Menschen einschließen und ausschließen - zum Beispiel von Sozialleistungen? Deutschkurse? Qualifikation? Fehlanzeige.
Sechstens: Die Integration der Flüchtlinge und Migranten droht zu scheitern, bevor sie begonnen hat. Menschen, denen Deutschland eine Bleibeperspektive eröffnet, brauchen sofort eine Integrationsperspektive (Sprachkurse, Schulbesuch, Berufspraktika), die sich selbstverständlich auch auf ihre Familien erstrecken muss. Merkel lässt statt dessen 700.000 bis 800.000 Männer ins Land, um ihnen sodann den Nachzug ihrer Frauen und Kinder zu verweigern - schlimmer geht’s nicht. Eine zeitnahe Prüfung und schnelle Entscheidung der Asylverfahren? Fehlanzeige. Deutschkurse? Die Erfahrung zeigt, dass gerade mal die Hälfte aller Teilnehmer am Ende des Unterrichts über rudimentäre Kenntnisse der Sprache verfügt - Kenntnisse, die nicht ausreichen, um beruflich Fuß zu fassen. Integration in den Arbeitsmarkt? Die Flüchtlinge sind sechs Monate zum Nichtstun verdammt - danach gilt für weitere neun Monate der „nachrangige Zugang“: Eine Erlaubnis wird nur erteilt, wenn für den Arbeitsplatz kein Deutscher und kein EU-Bürger zur Verfügung steht. Ob es dabei bleiben kann - man würde es gerne erfahren. Weitere Artikel PREMIUM Titelgeschichte Ausgabe 46
Deutschland muss sich neu erfinden Flüchtlinge
So geht die Flüchtlingskrise 2016 weiter
Qualifikation? Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) rechnet mit einem Arbeitslosenplus von einer Million bis 2019. Müssen wir dafür die Steuern erhöhen - keine Silbe bisher dazu. Schule? Rund 350.000 der Asylsuchenden sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren; die Kultusministerkonferenz schätzt, dass 20.000 neue Erzieher und Lehrer gebraucht werden, um sie berufsfit zu machen. Wer das bezahlen soll auch dazu hören wir nichts. Städtebau? Es wird eine Rückkehr
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Tauchsieder: Der Kontrollverlust
Asylbewerber und Kriminalität
Wie kriminelle Flüchtlinge die Verwaltung austricksen
zum sozialen Wohnungsbau geben müssen, auch eine Änderung des Asylverfahrensgesetzes, das eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften vorschreibt.
Vor allem aber wird darauf zu achten sein, dass beim massiven Ausbau des Sozialstaates, beim Aufbau von Polizei-, Verwaltungs- und Lehrerstellen, bei der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum und der Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt nicht der Eindruck entsteht, dass die eine Zielgruppe (Flüchtlinge) einer anderen (Niedriglöhner, Arbeitslose) vorgezogen wird. Fest steht: Merkel wird für die Integration der Flüchtlinge Geld locker machen (müssen), das sie sich für die Integration der inländischen „Ausgeschlossenen“ noch vor zwei, drei Jahren meinte ersparen zu können. Angela Merkel für Angela Merkel, nichts sonst. Wenn Merkel Fazit: Im Moment spricht nur noch „morgen nicht mehr Kanzlerin wäre“, so der ehemalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) besorgt, „wer sollte denn ihr Rolle in Europa übernehmen?“ Gute Frage. Und wer, möchte man ergänzen, in einem Deutschland, das Merkel hinterlässt?
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